China habe alles richtig gemacht im Umgang mit dem Coronavirus, während „die USA, Großbritannien und andere Staaten“ gleichgültig waren oder sich über Chinas Leid gefreut hätten: So kommentierte das Staatsblatt „Global Times“ dieser Tage in seiner englischsprachigen Ausgabe. „China zu beschuldigen, Desinformationen über die Pandemie zu verbreiten, widerspricht dem gesunden Menschenverstand.“
Bereits zu Jahresbeginn hätte Peking die Weltgesundheitsorganisation (WHO) darüber informiert, damals aber hätte allerorts das Bewusstsein für die Gefährlichkeit des Coronavirus gefehlt. Früher als andere sei China dennoch tätig geworden, habe am 20. Jänner vor einer Übertragung von Mensch zu Mensch gewarnt und drei Tage später Wuhan, kurz darauf die ganze Provinz Hubei, vollständig abgeriegelt. „Wäre das chinesische Modell früher übernommen worden, dann könnten die Infektionen weltweit nun unter Kontrolle sein“, hieß es in der „Global Times“.
„Die Öffentlichkeit erfuhr nichts“
Westliche Staaten lobten Chinas Vorgehensweise anfangs noch, selbst US-Präsident Donald Trump sagte im Februar: „Sie bemühen sich sehr, sehr hart, und ich glaube, dass die Zahlen laufend besser werden.“ Die Stimmung kippte, als die Pandemie sich weltweit ausbreitete. In einem Kommentar der deutschen „Zeit“ von Ende März liest sich das so: „Das ‚Modell China‘ soll uns alle retten. Ein bisschen verschlägt es einem bei so viel Chuzpe doch den Atem. Als Mitte November im zentralchinesischen Wuhan das neue Virus zum ersten Mal auftrat, wurden Hinweise auf die Gefahr ignoriert, Beweise vernichtet, Ärzte eingeschüchtert, Labore geschlossen. Die Öffentlichkeit erfuhr nichts.“

Die Rekonstruktion der Pandemie ist komplex: Es schien, als habe die Pekinger Staatsführung ihre Lektion aus SARS gelernt, berichtete jüngst die „New York Times“: Damals ging viel Zeit im Kampf gegen das Virus durch eine Mischung aus verzögerter und lückenhafter Dokumentation der Krankheitsfälle und der mangelnden Bereitschaft lokaler Verantwortungsträger, schlechte Nachrichten nach Peking zu melden, verloren.
In der Theorie war China vorbereitet
Als Gegenmaßnahme wurde ein nationales Direktmeldesystem für ansteckende Krankheiten entworfen und 2004 implementiert: Krankenhäuser konnten fortan die Daten auffälliger Patientinnen und Patienten elektronisch eingeben und unmittelbar die staatlichen Gesundheitsbehörden in Peking benachrichtigen. Dort wurde das Personal darin geschult, potenziell ansteckende Krankheitsausbrüche zu erkennen und Schritte zur Eliminierung zu setzen, bevor eine großflächige Ansteckung erfolgen könne.
Genau das wäre angebracht gewesen, als Ärztinnen und Ärzte in Wuhan Anfang Dezember mehrere Patienten behandelten, die an einer mysteriösen Lungenentzündung litten: Herkömmliche Medikamente griffen nicht, hohes Fieber und heftiger, trockener Husten hielten sich bei manchen tagelang, bei Computertomografien wurden teils starke Schädigungen der Lungen festgestellt. Doch wie in der Vergangenheit wandten sich die Krankenhäuser nach Auftreten der ersten Fälle nur an lokale Gesundheitsbeamte, die sich scheuten, die schlechte Nachricht an die Staatsführung weiterzureichen.

System wurde bewusst umgangen
„Die örtliche Gesundheitsverwaltung hat sich eindeutig dafür entschieden, das Meldesystem nicht zu benutzen“, sagte Dali Yang, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Chicago, der in China studierte. „Es ist klar, dass sie versuchten, das Problem innerhalb der Provinz zu lösen.“ So wurde die Chance verpasst, frühzeitig Isolierungen vorzunehmen und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren.
Die zentralen Gesundheitsbehörden erfuhren erst von dem Ausbruch, als interne Dokumente online durchgesickert waren. Doch auch nach der Einschaltung Pekings dokumentierten die örtlichen Zuständigen die Fälle nur spärlich und zögerlich. Die Krankenhäuser wurden angewiesen, lediglich Patienten als Betroffene auszuweisen, bei denen eine Verbindung zur Quelle des Ausbruchs, einem Tiermarkt in Wuhan, bekannt war.
Beamte mussten Genese abnicken
Die Ärzte mussten die Fälle von Beamten bestätigen lassen, bevor sie den Vorgesetzten gemeldet wurden. „Ich bereue, dass ich damals nicht lauthals aufgeschrien habe“, sagte Ai Fen, Leiterin der Intensivstation des Wuhan Central Hospital. „Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.“
Beamte der Nationalen Gesundheitskommission gaben Wuhan erst am 31. Dezember die Anweisung, die Bekanntgabe des Ausbruchs öffentlich zu machen. Am selben Tag informierte die Regierung auch das Büro der WHO in Peking. Einige der ersten Fälle wurden schließlich am 3. Jänner in das System eingegeben – da war es freilich viel zu spät, um ein Frühwarnsystem in Gang zu bringen.
Und die Vertuschung ging weiter: Offiziell hieß es in Wuhan in der ersten Jänner-Hälfte, dass es keine neuen bestätigten Infektionen gäbe, obwohl Ärzte und entsandte Experten längst Alarm schlugen. Mitte Jänner reiste die Expertengruppe wieder ab. Überzeugt, dass das Virus gefährlich sei, übermittelte sie ihre Besorgnis an leitende Beamte in Peking. „Alle Mitglieder des Teams berichteten, dass die Situation düster sei“, sagte Yuen Kwok-yung, Professor für Infektionskrankheiten an der Universität Hongkong, gegenüber der Zeitschrift „Caixin“.
Anordnung zur abrupten Abschottung
Am 18. Jänner schließlich meldete Wuhan vier neue Infektionsfälle, gefolgt von 17 am darauffolgenden Tag und 136 am nächsten. Am 23. Jänner wurden die schlagartige Abriegelung der gesamten Provinz Hubei mit rund 60 Millionen Bewohnern verfügt und Zwangsquarantänen äußerst rigide durchgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt aber waren Menschen von dort bereits um die Welt gereist – nach der Weihnachtspause zurück zu ihren Arbeitsplätzen in Europa oder anlässlich des chinesischen Neujahresfestes in Länder nach Südostasien.

Ein entschiedenes Vorgehen nur eine Woche zuvor, Mitte Jänner, hätte die Zahl der Infektionen um zwei Drittel senken können, besagt eine Studie, zu deren Autoren ein Experte des Zentrums für Krankheitsbekämpfung und -prävention in Wuhan gehört. Eine andere Studie ergab, dass China, wenn es drei Wochen früher den Ausbruch kontrolliert hätte, 95 Prozent der Fälle des Landes hätte verhindern können.
Kurzes Fenster für Kritik
Erstaunlich war, wie viel öffentliche Kritik die Führung in Peking zu Beginn der Krise zuließ. Manche glaubten schon an eine Demokratisierung Chinas, etwa als die Nation um den Arzt Li Wenliang trauerte, der als einer der Ersten im Dezember 2019 Alarm geschlagen hatte, dann zum Schweigen gebracht und schließlich selbst dem Virus erlegen war.
Doch auch diese relative Freiheit folgte einem Schema, berichtete die „New York Times“: Wie bereits nach dem verheerenden Erdbeben in Sichuan im Mai 2008 wurde zivilgesellschaftliche Kritik zunächst zugelassen, um das Ausmaß des Problems zu begreifen. Als die Kritik sich jedoch gegen das politische System selbst richtete, sah sich die Staatsführung selbst bedroht und ging zu Zensur und eigener Geschichtschreibung über.
Hochblüte für Propaganda
Diverse chinesische Staatsmedien und ranghohe Funktionäre propagierten, dass Mitglieder des US-Militärs das Virus bei Sportwettkämpfen ursprünglich nach Wuhan eingeschleppt hätten. Die antichinesisch eingestellte westliche Welt hätte sich verschworen und würde das Land nun zum Schuldenbock stempeln. In US-Präsident Donald Trump fand sich ein würdiger Widerpart: „Die USA werden angegriffen – nicht nur von einem unsichtbaren Virus, sondern von China", hieß es in einer offiziellen Mail, die im Weißen Haus kursierte. Trump selbst strich vor Kameras das Wort „Coronavirus“ auf seinem Sprechzettel durch und ersetzte es durch „chinesisches Virus“.
„Bedrückend, dass in diesen Tagen voller Hilfsbereitschaft und Solidarität die Außenpolitik gleich wieder in ihre hässliche Routine zurückfällt“, hielt die „Zeit“ fest. Und: „Schon immer zensierte die chinesische Führung die eigenen Medien. Jetzt aber greift sie massiv in die Informationsfreiheit jenseits der eigenen Grenzen ein. Das ist empörend. Und hochgefährlich. Nicht nur im Kampf gegen das Virus.“