Menschen mit Schuttzmasken auf einem Markt in Ankara
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Coronavirus

Türkei fährt riskanten Kurs

In der Türkei gibt es nach offiziellen Angaben nur wenige tausend Infektionen mit dem Coronavirus mehr als in Österreich – bei etwa zehnmal so vielen Menschen. Allerdings: In den letzten Tagen stieg die Infektionskurve steil an. Das Land steuere geradeaus in die Katastrophe, lauten seither Warnungen. Zwar wurde auch in der Türkei das öffentliche Leben weitgehend stillgelegt, es gibt aber keine generellen Ausgangsbeschränkungen. Das könnte sich bitter rächen, heißt es.

Zuletzt hatte sich etwa der Bürgermeister der Bosporus-Metropole Istanbul mit ihren über 15 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern für eine Ausgangssperre ausgesprochen und davor gewarnt, das Virus könne sich bei der dichten Besiedlung der Stadt rasant ausbreiten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan selbst betonte am Mittwoch gegenüber dem TV-Sender CNN Türk laut Schlagzeile, eine „freiwillige Quarantäne“ sei sehr wichtig.

Türkische Medien berichteten breit von Hilfslieferungen nach Spanien und Italien, so, als ob das Land selbst nur am Rande betroffen sei, und darüber, dass es in ein paar Monaten einen Impfstoff gegen das SARS-CoV-2-Virus geben werde – entwickelt in der Türkei.

Kurve steigt steil an

Der türkische Gesundheitsminister Fahrettin Koca hatte Mittwochabend die neuesten Zahlen zur Epidemie veröffentlicht. Mit diesem Letztstand gab es laut seinen Angaben 15.679 mit dem Coronavirus infizierte Menschen im Land, 277 seien an der Infektion verstorben. Alle 81 Provinzen des Landes seien inzwischen betroffen, 60 Prozent der Fälle seien dabei in Istanbul nachgewiesen worden.

Bestattungsfahrzeuge in Istanbul
Reuters/Umit Bektas
Leichenwagen holen Tote in Istanbul zu Begräbnissen ab

Zum Vergleich: In Österreich waren es mit Stand Mittwoch 10.482 Infizierte und 146 Tote, wobei die Türkei etwa 84 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner hat. Allerdings stieg die Kurve in den letzten Tagen sehr steil, zwischen etwa 17 und knapp 30 Prozent pro Tag.

„Katastrophe mit Ansage“

„Wo die Zahl der Infizierten so rasant wächst wie nirgendwo sonst“, titelte am Mittwoch die deutsche „Welt“, die Deutsche Welle schrieb von einer „Katastrophe mit Ansage“, die „Tagesschau“ fragte: „Wird die Türkei der nächste Krisenherd?“ In der ARD-Sendung kritisierte ein Mediziner mangelnde Transparenz. Die Regierung würde keine Detaildaten herausgeben, man wisse etwa nicht, wie sich die Zahlen im Land geografisch verteilten. Es gebe keine Informationen darüber, wo es wie viele Infektionen gibt. Den ersten Fall hatte Koca am 11. März bestätigt.

Desinfektion eines Parkes in Istanbul
Reuters/Kemal Aslan
Desinfektionsarbeiten vor der Blauen Moschee in Istanbul

Reisefreiheit eingeschränkt

Die auflagenstarke Tageszeitung „Hürriyet“ berichtete inzwischen über mögliche weitere Einschränkungen der Mobilität. Vor allem solle der Reiseverkehr zwischen den Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir weiter eingeschränkt werden. Damit solle ein Verschleppen aus den bevölkerungsreichen Metropolregionen in andere Landesteile unterbunden werden. Derzeit braucht man für entsprechende Reisen spezielle Genehmigungen. Menschen hätten versucht, Istanbul mit Taxis ohne Lizenz zu verlassen, hieß es, nun sei es auch verboten, mit fremden Menschen gemeinsam in einem Auto zu sitzen. Das gelte in allen Provinzen.

Vorbereitung eines Friedhofes für Opfer in der Türkei
AP/Hurriyet/Selcuk Samiloglu
Vorbereitete Gräber für Opfer der Pandemie auf einem Friedhof in Istanbul

Die Wirtschaft muss weiterlaufen

Nach Angaben von Innenminister Süleyman Soylu ist der gewöhnlich sehr starke Reiseverkehr, vor allem auch per Fernbus, zwischen den großen Städten um beinahe 99 Prozent zurückgegangen, „was zeigt, dass unsere Vorsichtsmaßnahmen wirken“. Es seien 50 Städte und Gemeinden im ganzen Land unter Quarantäne gestellt worden, sagte Soylu am Dienstagabend. „Wir treffen extreme Vorkehrungen, bevor es zu spät ist.“

Gesperrte Sitzbänke in Ankara
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Sitzbänke in Ankara sind tabu

Generelle Ausgangsbeschränkungen will Präsident Erdogan nicht, um – so der Tenor in internationalen Medien – die türkische Wirtschaft nicht noch weiter zu schwächen. Diese hatte schon vor der Coronavirus-Krise mit Problemen gekämpft. Produktion und Export müssten weiterlaufen, sagte Erdogan.

Leere Hotelbetten, verwaiste Sehenswürdigkeiten

Aktuell wird das Land auch von den Folgen der Epidemie wirtschaftlich hart getroffen, wie in Österreich und anderen Ländern auch, vor allem der Tourismus. Der englischsprachige TV-Sender TRT World zeigte Bilder von leeren Straßen, leeren Stränden, der nahezu leeren Galata-Brücke über den Bosporus, wo es sich ansonsten ständig staut, und verwaisten Sehenswürdigkeiten.

Die verlassene Galata-Brücke in Istanbul
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Ausnahmesituation: Kein Verkehr auf der Galata-Brücke in Istanbul

Der Tourismussektor sei in den letzten Jahren gewachsen wie nie zuvor, hieß es in dem Bericht. Jetzt, wo alle Flüge auf dem Boden bleiben, Grenzen geschlossen sind und der Reiseverkehr auch im Inland fast eingestellt ist, stehe auch der Tourismus still. Laut dem Sender waren 2019 fast 52 Millionen Gäste gezählt worden, bis 2023 hätten es 75 Millionen sein sollen, der Tourismussektor hätte heuer umgerechnet über 30 Milliarden Euro erwirtschaften sollen. Allein in der Region Antalya an der Mittelmeer-Küste gibt es nach dem TRT-Beitrag 600.000 Gästebetten. Die Regierung hat Tourismusbetrieben Zahlungsaufschub bei Krediten gewährt. Die türkischen Exporte sanken im März um 17 Prozent.

Warnungen mit Blick nach außen

Der internationale Flugverkehr wurde auch in der Türkei eingestellt, es gibt Beschränkungen für Märkte, Schulen, Universitäten und andere öffentliche Einrichtung wurden geschlossen, Joggen und Fischen an der Küste ist vorübergehend verboten. Erdogan hatte seine Landsleute schon vor Tagen dringend dazu aufgerufen, zu Hause zu bleiben, um eine weitere Ausbreitung der Epidemie zu verhindern. „Wir können am Rest der Welt sehen, was passiert, wenn Menschen sich nicht an die Regeln halten. Schaut Euch die Vereinigten Staaten an“, zeigte der Präsident auf das Ausland. „#EvdeKal“ lautet die türkische Entsprechung zu „#BleibZuHause“.

Desinfektion eines Marktes in Istanbul
Reuters/Umit Bektas
Versprühen von Desinfektionsmittel im Großen Bazar (Kapali Carsi) in Istanbul

Viele noch im Ausland

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte zuletzt, es seien bisher an die 20.000 Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aus über 50 Staaten „evakuiert“ worden. Man werde weiter, in Übereinstimmung mit den Quarantänebestimmungen des Landes, Personen aus dem Ausland zurückholen. Viele, die zurückkehren wollen, können das sehr wahrscheinlich wegen der geschlossenen Grenzen nicht mehr.

Verkehrskontrolle mit Temperaturmessung
APA/AFP/Ozan Kose
„Freiwillige Quarantäne“ und Fiebermessen auf der Straße

Nach aktuellem Kenntnisstand seien mindestens 98 Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft im Ausland an dem Virus verstorben, sagte Cavusoglu dem englischsprachigen türkischen TV-Sender TRT World. Rückkehrer müssen sich für zwei Wochen in Quarantäne begeben. In den großen türkischen Medien sind kritische Stimmen eher rar.

Hilfslieferungen nach Italien und Spanien

„Hürriyet“ und die englischsprachige „Hürriyet Daily News“ berichteten am Mittwoch prominent von türkischen Hilfslieferungen nach Italien und Spanien. Medizinische Schutzkleidung, Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel seien mit Militärtransportflugzeugen in die beiden in Europa am stärksten von der Coronavirus-Pandemie betroffenen Länder geschickt worden. Italien, Spanien und die Türkei sind NATO-Partnerstaaten. Erdogan sagte gegenüber den Zeitungen, der Vorteil der Türkei sei ihre gute medizinische Infrastruktur und die früh veranlassten Maßnahmen. Berichtet wurde auch über eine von ihm ins Leben gerufene Spendenaktion.

Außerdem war ein – wie der Verfasser oder die Verfasserin behauptet hatte – angeblich mit Coronaviren verseuchter, ausländerfeindlicher Hassbrief an einen in Hamburg lebenden Mann mit türkischen Wurzeln Thema. Die Tageszeitung „Yeni Safak“, die der Regierungspartei AKP nahesteht, ließ einen Wissenschaftler von der Bilkent-Universität in Ankara zu Wort kommen, der erklärte, in sechs bis neun Monaten werde es ein wirksames Medikament gegen das Virus, entwickelt in der Türkei, geben. Man arbeite „Tag und Nacht“ daran. In den Panorama-Rubriken war über die skurrilsten Ideen gegen das Virus, bis hin zum Abkochen bzw. Bügeln mutmaßlich kontaminierter Geldscheine, zu lesen.

Gefängnisse sollen geleert werden

Thema waren zuletzt auch die Pläne der türkischen Regierung, als Maßnahme gegen eine weitere Verbreitung des Virus Häftlinge zu entlassen bzw. bei bestimmten Reststrafen und Delikten Haft durch Hausarrest zu ersetzen. In den oft überfüllten türkischen Gefängnissen sind laut Schätzung an die 300.000 Personen inhaftiert, 90.000 davon könnte die Maßnahme betreffen, hieß es, Delikte wie Mord und Sexualverbrechen ausgenommen. Ausgenommen sein sollen auch Personen, die wegen des Vorwurfs des Terrorismus – in der Türkei sehr häufig – in Haft sind.