Frau sitzt mit Laptop an Esstisch
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Blick ins Wohnzimmer

Videokonferenzen brauchen eigene Regeln

Mit der Verbreitung von Homeoffice hat auch die Nutzung von Videokonferenzen zugenommen – mit allen Vor- und Nachteilen. Formelle Gespräche finden plötzlich in der eigenen Wohnung statt, und die Videokameras liefern oft unerwartete Einblicke in das Leben von Kollegen und Kolleginnen sowie Geschäftspartnern. Die langfristigen Auswirkungen sind unklar, klar ist aber: Videocalls müssen viele noch üben.

Bisher waren die Regeln im Geschäftsleben und im Kollegenkreis ziemlich klar definiert. Die berufliche und soziale Stellung bzw. persönliche Einstellung wurden über Kleidung und Auftreten sowie mehr oder weniger persönliche Gespräche am Arbeitsplatz entsprechend transportiert. In Zeiten unzähliger Videokonferenzen lernen nun aber viele ihre Arbeits- und Geschäftskollegen ganz neu kennen.

Kollegen und Kolleginnen beziehungsweise Chefs und Chefinnen, die bisher etwa nur im Anzug und Kostüm erschienen und entsprechend formell aufgetreten sind, zeigen sich da im eigenen Wohnzimmer, am Küchentisch oder im umfunktionierten Kinderzimmer leger in Kapuzenpullis und einfachen T-Shirts. Nicht selten hüpfen im Hinter- oder auch Vordergrund Kinder, Katzen, Hunde und Lebenspartner herum – manchmal alle auf einmal –, und man sieht auf den ersten Blick, ob Geschirr herumsteht und ob aufgeräumt wurde.

Mann mit Kind beim Home-Office
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Die Realität im Homeoffice: Zwischen Kind und Krempel

Das Setting in den eigenen vier Wänden vermittelt dabei eine gewisse Intimität, die man sonst nur engen Freunden oder der eigenen Familie zugesteht – nicht unbedingt Kollegen, mit denen man zwar gerne an der Kaffeemaschine scherzt, die man aber nicht dringend zu sich nach Hause einladen würde. Dazu kommt noch, je nach persönlicher Veranlagung, mehr oder weniger Voyeurismus und mitunter wohl auch Fremdschämen. So genau wollte man das eigentlich gar nicht wissen.

Planen, was man vom Zuhause wirklich herzeigen will

Die wichtigste Regel für Videogespräche: planen, was genau man bereit ist herzuzeigen, sagen von ORF.at befragten Experten unisono. „Es ist wichtig, sich zu überlegen, was ich will und wie ich das steuern kann“, meinte Kommunikations- und Sozialwissenschaftlerin Andrea Schaffar. Das setze auch eine Inszenierung voraus, ähnlich zum Geschäftsleben. Weil beim Homeoffice die Grenze zwischen Beruf und privat verschwimmt, müssten die Grenzen neu gesetzt werden.

Das zeigt sich etwa am Bücherregal, das oftmals als Kulisse dienen muss und immer wieder für Gesprächsstoff sorgt, sei es, weil die Bücher im Hintergrund farbig sortiert sind, sei es, dass die Gesprächspartner fürchten, das Regal könnte unter der Last demnächst zusammenfallen. Gerne debattiert werden auch diverse Dekoobjekte und Nippes, die an der Geschmackssicherheit mancher Personen mitunter zweifeln lassen, sowie vernachlässigte Pflanzen.

Schaffar rät, den Hintergrund dem Inhalt anzupassen und bewusst zu gestalten. Geht es etwa rein um Inhalte, und die Konferenz ist kurz, sei es sinnvoll, möglichst wenig Ablenkung im Hintergrund zu haben. Für längere Gespräche empfiehlt sie Bild und Pflanze als Auflockerung. Die Kamera komplett abzuschalten sei der falsche Weg: „Wenn sie bei einer Videokonferenz mit mehreren Personen nur mit schwarzen Kasterln statt Bewegtbildern reden, ist das auch schwierig.“ Auch sei es essenziell, dass Kamera und Mikro akzeptablen Bild und Ton liefern.

Frau bei Videokonferenz
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Videocalls sind mindestens doppelt so anstrengend, sagte Kommunikationswissenschaftlerin Schaffar

„Zu Hause verkleiden wir uns nicht“

Das eigene Auftreten ist genauso wichtig. Man müsse soziale Rollen mitbedenken und den Gegebenheiten anpassen, sagte Walter Peissl, stellvertretender Direktor des Instituts für Technikfolgenabschätzung. Das betreffe auch die Kleidung: „Zu Hause verkleiden wir uns nicht“, entsprechend leger sei man meist, und das falle entsprechend auf, weil man oft Dinge sieht, die man so nicht erwartet habe. Mitunter würden Masken fallen – das bringe auch Authentizität und womöglich die Erkenntnis, dass das Gegenüber bisher falsch eingeschätzt wurde.

Dass die Videokamera nur einen begrenzten Ausschnitt zeigt und gewisse Körperlichkeiten auch ausblendet, kann Vorteile haben, sagte Peter Purgathofer, der sich an der TU Wien mit Design und Human Interaction beschäftigt. Vorurteile und Stereotype würden auf diesem Weg wegfallen bzw. unwesentlich, man könne sich stattdessen mehr auf Inhalte konzentrieren.

Kommunikation virtuell viel schwieriger

Neu gestaltet werden müssen auch das Kommunikationsverhalten und die Umgangsformen der Teilnehmer. Weil nur ein kleiner Ausschnitt für das Gegenüber sichtbar und erlebbar ist, sollten Dinge, die sonst nebenbei oder im Hintergrund passieren, explizit angesprochen werden, so Schaffar. Dazu zählt, wenn ein Dokument hergezeigt werden soll und der Moderator oder die Moderatorin die passende Funktion oder das Dokument sucht.

Zwischenmenschliches, Basis von Kommunikation, ist bei Videokonferenzen trotz Bild und Ton ebenfalls stark eingeschränkt. Es ist im Gegensatz zu einem Meeting eben nicht schon über Körpersprache merkbar, wenn ein Teilnehmern oder eine Teilnehmerin etwas sagen möchte. Informelles fällt fast komplett weg bzw. werde gleich zum Meeting, sagte Peissl, weil man sich eben nicht mal schnell und zufällig bei der Kaffeemaschine trifft oder beim Mittagessen in lockerer Runde austauschen kann: „Videotelefonate können Menschen nicht im Gesamten vermitteln.“

Mann mit Kind beim Home-Office
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Auch in der Geschäftswelt darf es menscheln – aber man sollte sich vorher überlegen, welches Bild man abgeben möchte

Man müsse den Menschen „Platz einräumen“, etwa mit einer Check-in-Runde, in der jeder kurz etwas erzählt, bei der man sich gegenseitig begrüßt bzw. vorstellt, sagte Schaffar. Mitglieder eines Teams können bei rein virtueller Kommunikation leicht das Gefühl füreinander verlieren, daher würden sich Teams, die schon länger rein virtuell zusammenarbeiten, regelmäßig in der realen Welt treffen. Wichtig sei, sich gemeinsam Regeln auszumachen. Purgathofer erzählte, dass er mit seinen Kollegen auch informelle Hang-outs macht, damit das Persönliche nicht zu kurz kommt.

Vorteile bei konkreten Aufgaben

Auf die Frage, wie viel Videokonferenzen es geben wird, wenn alle wieder an ihre Arbeitsplätze können, gaben sich die Befragten abwartend. „Wir reden jetzt seit 30 Jahren über Teleworking, und es ist erstaunlich, dass Videokonferenzen immer noch so schlecht funktionieren“, meinte Purgathofer. Er verwendet das mittlerweile sehr stark kritisiierte Zoom für die Kommunikation mit den Studierenden, auch wenn er sich bewusst sei, dass Datenschutz und Sicherheit bei Zoom ein „Desaster seien“. Man könne Zoom nur mit „virtuellem Gesichtsschutz“ verwenden, aber im Vergleich zu allen anderen Produkten habe nur Zoom verstanden, was es für Telekommunikation brauche.

Purgathofer schätzt Videokonferenzen in der Arbeit mit Studierenden auch über Distanz, diese seien besser vorbereitet und strukturierter, „das würde ich gerne beibehalten“. Kleine Arbeitsgruppen könnten schnell in eigenen virtuellen Räumen aufgesetzt werden statt in einem gemeinsamen Seminarraum. Zudem würde auch die Anreise entfallen – billige Flugtickets hätten ohnehin dazu geführt, dass Telekommunikation vernachlässigt worden sei. Kommunikation mittels Technologie werde allerdings immer einschränkt bleiben.

„Werden Präsenz der anderen wieder mehr schätzen“

Videokonferenzen seien um mindestens den Faktor zwei anstrengender als Treffen von Angesicht zu Angesicht, meinte Schaffar, weil Kommunikationsaspekte verloren gehen, die man kompensieren müsse. Bei der Vermittlung von Fakten und Wissen seien Streams und Videos durchaus nützlich, aber ein virtuelles Seminar werde „nie“ dieselbe Qualität haben wie im realen Leben, denn schnelles Reden wie bei Diskussionen funktioniere nicht.

Die erste Reflexionsrunde habe noch nicht eingesetzt, meinte Peissl, und vieles müsse sich erst etablieren. Er glaubt aber nicht daran, dass Videotelefonie abseits faktischer Wissensvermittlung und bei Gesprächen in der Familie nun breit abhebt, auch der aktuelle Hype sei aus einer Notsituation heraus geboren. „Sobald es um Hierarchien, Entscheidungen und Macht geht, funktioniert das nicht mehr.“ Purgathofer ist optimistisch: „Wenn das alles vorbei ist, werden wir die Präsenz der anderen wieder viel mehr schätzen.“