Ortsansicht von Stockholm
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Appelle statt Verbote

Schwedisches Modell bröckelt

Keine Ausgangssperren, zum Teil geöffnete Schulen und Geschäfte: Schweden verfolgte in der Coronavirus-Krise lange Zeit eine eigene Strategie. Statt strengen Maßnahmen baute die Regierung auf Appelle. Nun bahnt sich angesichts der rasch steigenden Todeszahlen eine Kehrtwende an. Regierung und Opposition verhandeln über Notstandsbefugnisse.

„Wir werden mit Tausenden Toten rechnen müssen“, sagte der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven jüngst in einem umfassenden Interview der Zeitung „Dagens Nyheter“. „Es wäre besser, wenn wir uns darauf vorbereiten“, so Löfven. Nicht Wochen, sondern Monate werde die Krise dauern. Die Regierung gebe zu erkennen, schrieb das Blatt, dass die bisherige Strategie „nicht voll funktioniert“, heißt es in der Zeitung.

Dass die Lage in Schweden ernster wird, lässt auch eine seltene Rede des schwedischen Königs Carl XVI. Gustaf am Sonntagabend erahnen. Darin bat er die Bevölkerung, zu Ostern „zu Hause zu bleiben“ und verantwortungsvoll zu handeln. Das sei „ein kleines Opfer“, so der 73-Jährige. Die Regierung bereite „außergewöhnliche Maßnahmen“ vor, berichteten unterdessen lokale Medien.

TV-Ansprachen des schwedischen Königs Carl XVI Gustaf
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König Carl XVI. Gustaf hielt eine seltene Ansprache

Regierung will mehr Befugnisse

Noch diese Woche soll das Parlament demnach über das geplante Notstandsgesetz abstimmen. Allerdings: Die ursprünglichen Pläne der Regierung, sich ohne Zustimmung des Parlaments mehr Durchgriffsrechte im Kampf gegen das Virus zu schaffen, scheiterten unter heftiger Kritik am Wochenende. Die zusätzlichen Befugnisse hätten zunächst für drei Monate gelten sollen.

Unter anderem sollten dadurch Flughäfen oder Bahnhöfe geschlossen werden dürfen – ohne Zustimmung der Abgeordneten im schwedischen Riksdag. „Wir haben gesehen, wie rasch sich die Lage in Schweden und Europa verändern kann, und wir brauchen mehr Möglichkeiten, um schnell reagieren zu können, sollte das nötig werden“, so Gesundheitsministerin Lena Hallengren.

Jugendliche in Stockholm
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Auf Ausgangsbeschränkungen – wie in vielen anderen Ländern – setzte Schweden bisher nicht

Schweden galt lange Zeit als Ausnahme

Für einige Beobachter galt Schweden lange Zeit als Ausnahme. Das Ziel war zwar, die Infektionskurve möglichst flach zu halten – jedoch mit deutlich freizügigeren Maßnahmen. So fand weiterhin Unterricht an Schulen bis zur neunten Stufe statt, Kindergärten blieben offen – Restaurants und Geschäften mit Einschränkungen ebenso. Personen ab 70 wurden gebeten, zu Hause zu bleiben.

Dass die Regierung – die gemeinsam mit den Gesundheitsbehörden über die Strategie in der Krise entscheidet – nun doch einen anderen Weg einschlägt, zeigten etwas schärfere Maßnahmen in der vergangenen Woche: Besuche in Altersheimen wurden untersagt, ebenso Zusammenkünfte mit mehr als 50 Menschen. Zudem gibt es Aufrufe, öffentliche Verkehrsmittel zu Stoßzeiten zu meiden. Am Montag wurde zudem die Skisaison in Sälen, Vemdalen und Aare vorzeitig beendet.

Fast doppelt so viele Tote wie in Österreich

Tatsächlich dürfte das auf Freiwilligkeit und Vernunft basierende schwedische Modell nicht ganz aufgehen – erkennbar ist das etwa anhand der steil ansteigenden Kurve an Toten, aber auch Infizierten der vergangenen Woche. Auch der Chefepidemiologe Anders Tegnell gestand das ein – ihm zufolge ist die Kurve aber nach wie vor verhältnismäßig flach. Auch weiterhin pochte er auf die Vernunft der Bevölkerung des dünn besiedelten Landes. „Wir setzen auf eine gewisse Tradition bei uns. Auf Freiwilligkeit und auf die Verantwortung jedes Einzelnen“, sagte Tegnell etwa.

Grafik zeigt Verstorbene pro 100.000 EW in Schweden, Österreich und Südkorea
Grafik: ORF.at, Quelle: Johns Hopkins University

Bisher starben in dem rund 10,3 Mio. Einwohner zählenden Land laut den Daten der Johns-Hopkins-Universität 477 Menschen im Zuge einer Infektion – mehr als doppelt so viele wie in Österreich. Mehr als 7.206 wurden als infiziert gemeldet. 205 Personen sind bisher genesen. Experten gehen jedoch von einer sehr hohen Dunkelziffer aus, da in Schweden bisher nur Menschen mit schweren Symptomen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen auf das Virus getestet werden.

Situation in Stockholm heikel

Besonders in der Hauptstadt Stockholm ist die Situation angespannt. In einer Messehalle wurde am Wochenende ein Lazarett mit 140 Betten eröffnet. Nach Behördenangaben könnte die Aufnahmekapazität aber bei Bedarf auf mehr als 600 gesteigert werden. „Es gibt ein reales Risiko, dass die Fallzahlen so in die Höhe schnellen, dass die Spitäler überlastet sind“, warnte der Infektiologe Stefan Hanson gegenüber dem „Guardian“. Rund 2.300 Fachleute unterzeichneten zuletzt auch einen offenen Brief an die Regierung, in dem ein „Shut-down“ Stockholms gefordert wird.

Arbeiter im Feldspital in Stockholm
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In Stockholm wurde am Wochenende ein erstes Feldlazarett für Coronavirus-Patienten eröffnet

„Wir sind eines der Länder der Welt, die die schwächsten Maßnahmen eingeführt haben“, kritisierte der Molekularbiologe Sten Linnarsson vom Stockholmer Karolinska-Institut gegenüber „Dagens Nyheter“. Er und die weiteren Unterzeichner des Briefes wollten letztlich nur, dass Schweden internationalen Empfehlungen etwa von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) folge – wie andere Länder eben auch.