Mann vor spiegelnder Fassade im Sonnenuntergang
APA/dpa/Julian Stratenschulte
Soziologie der Krise

„Provokation für das moderne Bewusstsein“

Vielerorts ist derzeit von Krieg die Rede, Krieg gegen einen „unsichtbaren Angreifer“. Gegen diesen scheint die Gesellschaft – zumindest vorerst – „machtlos“, wie es Soziologe Manfred Prisching gegenüber ORF.at formuliert. Soziologin Michaela Pfadenhauer sieht eine „nie gedachte Erschütterung“, insbesondere für die „satten Jahrgänge“, die zwischen den 1970er und 90er Jahren aufgewachsen sind.

Die Coronavirus-Pandemie rüttle an dem Bewusstsein der Machbarkeit und des Fortschritts, das in den letzten 200 Jahren gewachsen ist, sagt Prisching. Das Virus verweise auf die Körperlichkeit des Menschen und auf die Existenz des Todes, „den wir weit an die Peripherie unseres Wahrnehmungshorizontes verschoben haben“. Der „unsichtbare Angreifer“ stelle damit „eine umfassende Provokation für das moderne Bewusstsein“ dar.

Pfadenhauer sieht „ein einschneidendes Erlebnis“, das niemand erahnen konnte. Die Erschütterung treffe jede Generation, selbst Kinder ab vier oder fünf Jahren würden merken, dass sich der Alltag verändert hat – und das in einer „staatsstreichartigen“ Geschwindigkeit: Die bisher gültigen Grundrechte seien „praktisch über Nacht“ geändert worden.

Auch Prisching glaubt kaum an „systematische Unterschiede bei den Wirkungen auf die Generationen“. Seiner Wahrnehmung nach sind unter jenen, die für die restriktiven Maßnahmen wenig Verständnis aufweisen, „Jüngere in ihrer Unbesonnenheit“, solche also, die weiter Partys feiern würden, „aber auch Ältere in ihrer Ignoranz“ – diese würden sich in dem Gedanken wiegen, das derzeit alles übertrieben sei, sie schon weit Schlimmeres überstanden hätten.

„Post-Corona-Gesellschaft wird ähnlich aussehen“

Eine der großen Unbekannten ist, was die jetzige Lage auf Dauer für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedeutet. Die Einschätzung von Prisching fällt nüchtern aus: „Die Krise trägt zum Zusammenrücken der Menschen bei, vielfach ruft sie das Beste im Menschen wach: Hilfsbereitschaft, Empathie, Solidarität.“ Das würde sich aber rasch erschöpfen: „Wenn es ernst wird, kümmern sich die Menschen bloß um ihr eigenes Überleben.“ Es habe schließlich schon frühere Krisen gegeben, „nach denen sich auch nicht die Gesamtheit zum Altruismus gewandelt hat. Die Post-Corona-Gesellschaft wird im Großen und Ganzen ziemlich ähnlich aussehen wie die Gesellschaft vor der Krise."

Negative Prognosen, etwa einen „Einstieg in den Ausnahmezustand, in den Autoritarismus, in die Kontrollgesellschaft, in den triumphierenden Neoliberalismus“, ebenso wie positive – die Menschen hätten Zeit zur Reflexion gehabt und gelernt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden – hält Prisching für „ziemlich unglaubwürdig. Sie beruhen darauf, dass in die Krise das hineingeheimnisst wird, was man auch sonst immer mit sich herumgetragen hat“.

„Schockreaktion“ sucht Ventile

Für Pfadenhauer dauert der derzeitige Ausnahmezustand noch zu kurz an, um genaue Prognosen abzugeben. Fakt sei, dass bis Ostern eine gewisse „Schockreaktion“ herrschte – und diese suchte sich ihre Ventile. Das Beklatschen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in „systemrelevanten" Berufen sei etwa eines davon – von Medien vielfach befeuert. Es handle sich dabei gewissermaßen um eine Art von Anschlusskommunikation und diene dazu, eine „Feel-Good-Stimmung“ zu erzeugen. Von Bestand könne diese freilich kaum sein.

Bei der Frage nach möglichen Folgen für die Globalisierung durch die Krise gehen die Meinungen weit auseinander. Zukunftsforscher Matthias Horx etwa schrieb: „Das frühere Wirtschaftssystem ‚mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden‘, habe sich überlebt." In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.“

Ganz anders die Einschätzung des Münchner Soziologen Armin Nassehi: „Wir leben in einer stark vernetzten Weltgesellschaft, deren Integrationsgrad auf ökonomischem, auf politischem und auf kulturellem Gebiet so hoch ist, dass man die Globalisierung nicht herunterfahren kann.“

Hoffnung auf „Produktives, nicht nur Biedermeier“

Pfadenhauer kann Horx’ Einschätzung wenig abgewinnen, diese sei – dem gegenwärtigen Zeitgeist entsprechend – „zu retro“. Sie hält es vielmehr für möglich, dass die Krise nicht nur eine „Biedermeierhaltung, sondern auch Progressives“ hervorkehren könne. Anlass für diese Vermutung gibt ihr, dass das Problembewusstsein in Bezug auf die Globalisierung langsam aus dem linken Eck herauskomme. Den Weg bereitet hätte zuletzt die „Fridays for Future“-Bewegung im Vorfeld des Ausnahmezustands: Diese hätte erstmals mehr Schichten erreicht als die einschlägigen globalisierungskritischen Milieus. Nun, inmitten der Krise, werde der Ruf nach Deglobalisierung lauter, weil die Verlagerung von Produktionsstandorten nicht mehr nur als ideologisches, sondern – und derzeit vor allem – auch als ökonomisches Problem wahrnehmbar werde.

Auch Prisching sagt, dass die aktuelle Krise die realwirtschaftliche Globalisierung bewusst gemacht habe – diese gehe weit über die Erzeugung von Kleidungsstücken und Smartphones hinaus. „Wenn ein paar Zulieferungen aus China und Indien stocken, stehen nach ein paar Wochen die meisten Fabriken der westlichen Welt still. Wenn die passenden Chemikalien nicht pünktlich geliefert werden, stellen die westlichen Pharmakonzerne ihre Produktion ein.“

Gegenentwürfe zur Globalisierung

Prisching sieht drei mögliche Gegenentwürfe: Man besinne sich darauf, in prekären Bereichen „mehr (europäische) Selbstständigkeit oder Unabhängigkeit“ zu erringen; der Trend zur Roboterisierung mache die Auslagerung von Produktionsprozessen in Länder mit geringeren Lohnkosten hinfällig; die Konsumenten und Konsumentinnen legten zunehmend Wert auf heimische Produktion.

Eine der geäußerten Befürchtungen ist die nach einer etwaigen Bedrohung der offenen Gesellschaft durch die momentan umfassende Staatshörigkeit. Pfadenhauer ruft das Beispiel Ungarn in Erinnerung: Die negative Reaktion der EU auf die dortige Ausschaltung des Parlaments zeige, dass „Ungarn eben nicht Nordkorea“ sei – die derzeitigen Maßnahmen könnten letztlich sogar zu einer Stärkung der Demokratie führen. Aktuell sieht man Tendenzen dazu auch in der heimischen Politik: Trug die Opposition das Gros der Regierungsbestimmungen anfangs noch einstimmig mit, wird langsam Kritik wach, insbesondere an den umfangreichen Sammelgesetzen.

Nationalstaaten als „einzig leistungsfähige Akteure“

Prisching sieht derzeit eine Stärkung der Nationalstaaten, diese „haben sich in der Krise als die einzigen leistungsfähigen Akteure erwiesen. Die Theorie von der postnationalen Epoche hat sich auch in den letzten Jahren als falsch erwiesen – trotz aller internationalen Abhängigkeiten.“ Dass damit aber ein Problem für die „offene Gesellschaft“ entstehe, sei nicht anzunehmen. „Schließlich waren es die Nationalstaaten, welche die moderne Demokratie, ihre Rechtsstaatlichkeit und ihre Liberalität geschaffen haben.“

Auch die Frage nach einer etwaigen Neubewertung von beruflichen Tätigkeiten ist derzeit virulent. Soziologin Laura Wiesböck schrieb dazu im „Falter“: „Wie kann es sein, dass jene Berufe, die als ‚systemrelevant‘ gelten, gleichzeitig jene sind, die wenig Wertschätzung und ein niedriges Gehalt bekommen und höhere Belastungen mit sich bringen – wenn wir etwa an die schweren körperlichen und mentalen Belastungen in der Pflege denken? Wie kann das zusammengehen? Ist das nicht ein Widerspruch?“

Bewusstsein gestiegen, Neubewertung fraglich

Ist es, sagt Pfadenhauer, die viel zu Professionssoziologie geforscht hat. Das sei allerdings nicht neu: Bauern und Bäuerinnen etwa seien seit Jahrhunderten ein klassisches Beispiel für „systemrelevant“, dass diese dadurch aber zu Reichtum gekommen seien, wäre nicht bekannt. Der jetzige Zuspruch für jene, denen der „Luxus“ Homeoffice nicht gegönnt ist, sei aber vergänglich, ein merklicher „Ansehensanstieg“ wenig wahrscheinlich.

Auch Prisching räumt einer Neubewertung in der Arbeitswelt geringe Chancen ein: „Eine kleine Spur im Bewusstsein davon, dass man auf diese Berufe angewiesen ist, könnte längerfristig anhalten. Ob die Konsumenten und Konsumentinnen freilich bereit sind, den eigenen Lebensstandard zugunsten einer besseren Dotierung solcher Berufe zu senken, ist eine offene Frage – schließlich werden die Nachfrager jede Besserstellung bezahlen müssen, ob im Lebensmittelladen oder bei den Sozialversicherungskosten.“

„Digitalisierung weckt Euphorie – vorübergehend“

Pfadenhauer stellt fest, dass die vor der Krise meist kritisch beäugte Digitalisierung plötzlich viele Anhänger findet – seien diese auch nur aus der Not heraus geboren. „Das Unbehagen schlägt um in Euphorie.“ Wie lange diese anhält, sei aber fraglich. Die Kommunikation aus dem Homeoffice sei fraglos mühseliger, zudem würde diese selber einen „Machtfaktor“ entfalten. Jemanden beispielsweise in Mails auf „CC“ zu setzen, hieße, Probleme weiterzutragen – oft nur deshalb, weil man es in einem persönlichen Gespräch nicht kurzfristig klären könne.