Umfunktionierte Messehallen mit Feldbetten, Lazarettzelte, überfüllte Krankenhäuser, medizinisches Personal ohne Schutzausrüstung und ein Mangel an medizinischen Geräten – all das wäre in Europa noch vor wenigen Wochen unvorstellbar gewesen. Die Coronavirus-Krise hat, so schreibt die Nachrichtenagentur AP, ein „überraschendes Paradoxon“ aufgedeckt: „Einige der besten Gesundheitssysteme der Welt sind für die Bewältigung einer Pandemie bemerkenswert schlecht gerüstet.“
Grund dafür sind laut Experten und Expertinnen mehrere Faktoren, etwa Unerfahrenheit im Umgang mit Epidemien, zu spätes Handeln und ein Gesundheitssystem, das den Fokus zu sehr auf die Behandlung im Krankenhaus lege. „Leben rettet man in den Krankenanstalten, in den Krankenhäusern, in den Spezialeinrichtungen, aber die Epidemie besiegt man eigentlich nur draußen – vor den Toren der Krankenhäuser“, sagt der Einsatzleiter und Experte für Virusepidemien von Ärzte ohne Grenzen (MSF), Marcus Bachmann, gegenüber ORF.at.

Zu wenige Betten für zu viele Patienten
„Der globale Norden hat viel mehr Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohner als der globale Süden. Generell gibt es daher die Tendenz, dass das Gesundheitssystem einen viel größeren Teil seiner Ressourcen auf die stationäre Behandlung von Patienten legt“, so Bachmann.

Österreich sei, was die Zahl der Intensivbetten betreffe, im Vergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) „Spitzenreiter“. Gerade bei Epidemien müssten Krankenhäuser aber vor der Belastung bewahrt werden. Denn trotz großer Ressourcen scheint das Problem in ganz Europa das gleiche zu sein: zu wenige Betten für zu viele Patienten.
Perspektivenwechsel gefordert
So heißt es etwa auch im „New England Journal of Medicine“ („NEJM“): „Westliche Gesundheitssysteme basieren auf dem Konzept der patientenzentrierten Versorgung, aber eine Epidemie erfordert einen Perspektivwechsel hin zu einer dezentralen Versorgung.“ Dieses Modell sei typisch für Länder in Afrika und Asien, wo die Krankenhäuser kritischen Fällen vorbehalten sind. Der Großteil der Patienten und Patientinnen wird außerhalb versorgt, etwa in Feldlazaretten, wie sie derzeit in ganz Europa errichtet werden.
Selbst das für Europa typische starke Netzwerk von Hausärzten reiche nicht aus, um die Flut an Patienten behandeln zu können, so AP. Da es für milde Fälle aber nicht unbedingt einen Arzt brauche, bedarf es oft nur medizinisch geschulten Personals, das sich auf Seuchenbekämpfung fokussiere. „Entwicklungsländer haben mit größerer Wahrscheinlichkeit solche Arbeitskräfte, da sie eher an massive Gesundheitsmaßnahmen wie Impfkampagnen gewöhnt sind“, so AP.

Häusliche Betreuung und mobile Kliniken
Neben mobilen Kliniken brauche es dem „NEJM“ zufolge auch mehr häusliche Betreuung. Nur so könnten die Krankenhäuser entlastet und Ansteckungen innerhalb des Krankenhaussystems vermieden werden. Österreich habe hier, so Bachmann, eine gute strategische Entscheidung getroffen, möglichst viele Patienten zu Hause zu testen und die milden Fälle in häuslicher Pflege zu lassen.
Ähnlich gehe man auch etwa bei Cholera-Epidemien vor: Es gebe eigene Stationen außerhalb der Krankenhäuser, in den Vorstädten, Slums und Dörfern, wo Erstbehandlungen durchgeführt und Medikamente ausgeteilt werden. Medizinisch geschultes Personal filtere gefährdete Personen, die bereits bei milden Symptomen in Behandlungszentren und erst bei stärkeren in die Krankenhäuser gebracht werden. Schließlich seien die Versorgungskapazitäten in Entwicklungsländern „extrem limitiert“, erklärt Bachmann.
Und fügt hinzu: „Der globale Süden hat gelernt, zu rationieren und den Mangel zu verwalten. Er hat eine bessere Fähigkeit entwickelt, in humanitären Krisen, in Epidemien Prioritäten zu setzen und auch durchzusetzen. Das ist natürlich brutal. Weil das heißt, für jeden, der priorisiert wird, wird jemand anderes depriorisiert – oft mit dramatischen Konsequenzen.“

„Europa hat seine Hausübungen nicht gemacht“
Er attestiert Europa zu langsames Handeln – trotz Warnzeichen habe Europa die Verbreitungsgeschwindigkeit unterschätzt. Es gebe ein kurzes Fenster, wo durch Eindämmungsmaßnahmen das Schlimmste verhindert werden könne, denn in dem Moment, wo einen die Epidemie überrollt, sei es zu spät.
„Da hat Europa sicher seine Hausübungen nicht gemacht, und da waren auch die Vorbereitungsmaßnahmen auch nicht gut, das sieht man etwa bei banalen Dingen wie Schutzausrüstungen“, konstatiert Bachmann. Der Einsatzleiter fühlt sich bei der derzeitigen Situation an seinen ersten Ebola-Einsatz 2014 erinnert – auch damals war das Lehrbuchwissen über das Virus „ein dünnes Heft“, ähnlich wie heute gab es weder Therapeutika noch Impfstoffe.
Fallverfolgung als Schlüsselfaktor
AP zufolge fehle es im Umgang mit dem Virus in Europa derzeit vor allem aber an „epidemiologischen Grundlagen" wie dem „Contact Tracking“ – dem Rückverfolgen von Fällen. Hierbei müssten etwa Gesundheitsbeamte jene Menschen, die mit Infizierten in Kontakt gekommen sind, physisch aufspüren. Nur so könne die Verbreitung des Virus überwacht werden.
Das geschehe etwa bei Ebola-Ausbrüchen im Kongo. Doch auch in Wuhan, wo das Virus ursprünglich wohl seinen Anfang nahm, waren etwa 9.000 Gesundheitsbeamte im Einsatz, um mögliche Infizierte aufzuspüren. Die systematische und kontinuierliche Beobachtung und Überwachung von Erkrankungen zähle auch für Bachmann zu den Schlüsselfaktoren, um die Ausbreitung einer Epidemie erfolgreich zu bekämpfen. Natürlich gebe es dabei aber immer eine hohe Dunkelziffer.

Experte: Zwangsmaßnahmen nicht zielführend
Eine weitere Säule in der Seuchenbekämpfung sei die Gesundheitsaufklärung, „dass man den Menschen mitteilt, wie sie sich selbst vor einer Ansteckung schützen können und was sie tun müssen, wenn erste Symptome auftreten“.
Verpflichtende Zwangsmaßnahmen hingegen würden dem Einsatzleiter zufolge oft genau ins Gegenteil münden: „Wir müssen uns davor hüten zu glauben, dass Zwangsmaßnahmen der Weg nach vorne sind. Der entscheidende Kipppunkt, um Epidemien zu besiegen, war immer die Kooperation, die Vertrauensbildung zwischen den Seuchenbekämpfern und der betroffenen Bevölkerung.“
Appell: Internationale Kooperation
Doch wann ist eine Seuche wirklich unter Kontrolle gebracht? „Was ich bei meinen Einsätzen gelernt habe, ist, dass man bei Epidemien immer in großen Dimensionen denken muss“, so Bachmann. Im Fall des Coronavirus bedeute das: „Wenn wir die Pandemie nicht global unter Kontrolle bekommen, dann werden wir sie gar nicht unter Kontrolle bekommen.“
Er appelliert an die Solidarität der Staatengemeinschaft und fordert stärkere internationale Kooperation, etwa wenn es um die Übernahme von Patienten und Patientinnen gehe, die intensivmedizinischer Betreuung bedürfen. In weiterer Folge solle sich die Solidarität auch über „unser unmittelbares Nahfeld“ ausdehnen, denn vor allem für den globalen Süden stelle das Coronavirus ein großes Risiko dar. Einerseits wegen des eingeschränkten Gesundheitssystems, anderseits weil viele Personen etwa aufgrund von Mangelernährung ohnehin bereits ein geschwächtes Immunsystem aufweisen und daher anfälliger für Infektionen seien.
Abschließend plädiert Bachmann für eine globale Zugänglichkeit von neu auf den Markt kommenden Medikamenten. Angesichts der enormen öffentlichen Mittel, die derzeit in die Forschung und Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen zur Behandlung des Coronavirus flössen, sollten diese auch zu einem fairen Preis erhältlich sein, der für alle Menschen und Länder bezahlbar ist.