Brücke bei Neapel mit Umarmungsbild an einer Hausmauer – dazu ein Mann, der über diese Brücke geht
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Auf Abstand

Die Gesellschaft ohne Hautkontakt

Seit Wochen muss das Gros der Menschen zu anderen Abstand halten. Berührungslosigkeit garantiert das Bremsen von Infektionsketten. Und tatsächlich sprechen die Zahlen dafür, dass sich diese Form radikaler Hygienepolitik bezahlt macht. Hauptschauplatz der Hygienepolitik ist die Haut: Sie ist die Grenze des Menschen ebenso wie die Oberfläche, mit der Welt empfindend in Kontakt zu treten. Doch was passiert mit einer Gesellschaft, die sich im Moment eine zweite Haut anzieht?

„Wir tragen zwei Formen von Haut mit uns“, sagt die in Linz lehrende italienische Philosophin Isabella Guanzini, die bereits in Italien mit ihrem Buch zur Zärtlichkeit („Tenerezza. La rivoluzione del potere gentile“, seit 2019 bei C. H. Beck auch unter dem Titel „Zärtlichkeit. Eine Philosophie der sanften Macht“ auf Deutsch) Furore gemacht hat im Gespräch mit ORF.at. „Da ist zunächst die erste Funktion der Haut, die Grundfunktion, die dieses Wechselspiel aus Distanz und Sehnsucht nach Nähe koppelt“, erzählt sie: „Und dann ist da die zweite Haut, die wir tragen, die kulturellen Muster etwa, die sich alle über unsere Haut einschreiben.“

Die Philosophin und Theologin Isabella Guanzini
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Philosophin und Theologin Isabella Guanzini

Natürlich, so bekennt Guanzini, gäbe es Kulturen, in denen die zweite Haut eine größere Rolle spiele als in anderen. „Ich komme zwar aus dem angeblich so kühlen Mailand – aber für mich als Italienerin ist das Thema Berührung Teil eines gelebten Alltags.“ Die momentanen Abstandsregeln würden uns zu Bewusstsein führen, wie sehr wir ungeachtet kultureller Unterschiede ein Bedürfnis nach Berührung haben. „Wir erleben, dass einen Meter Abstand zu halten nicht schön ist; und auch wenn wir uns jetzt alle über Zoom oder Skype austauschen und auch erleben, dass die digitale Kultur sehr schöne, unmittelbare Kontakte stifte, fehle uns die körperliche Präsenz eines Gegenübers beim Sprechen.“

„Verbote wecken Bedürfnisse“

Klar ist für die Theologin auch, dass alle Verbote, etwa jenes, sich die Hand zu geben oder bei Begrüßungen zu umarmen, genau jenes Verlangen nach Berührung und Überschreiten des Verbotenen erzeugen würden. „Das ist schon in jeder Religion so, dass der Sinn des Verbotes darin liegt, ein Bedürfnis zu wecken.“

Zwei Mitarbeiterinnen des San Giovanni Spitals im Bergamo, die sich mit Schutzanzug und Faust and Faus begrüßen
Piero Cruciati / AFP / picturedesk.com
„In der Krise stellen wir fest, wie viel Bedürfnis wir nach Berührung haben.“ Zwei Mitarbeiterinnen des San-Giovanni-Spitals in Bergamo.

Der im Moment gefühlte Verlust von Körperlichkeit bringt für Guanzini eine Grundfrage ins Spiel, die sie als Theologin so auf den Punkt bringt: „Wollen wir ein, ich nenne es ‚gnostisches Verständnis‘ von der Welt, das sehr intellektuell ist, die Fehlerhaftigkeit des Körpers sieht und diesen letztlich hinter sich lassen will, so wie es etwa auch die platonische Philosophie anstrebt?“

Isabella Guanzini: „Wir wollen Nähe und Distanz“

Isabella Guanzini über das menschliche Bedürfnis von körperlicher Nähe und Abstand

Demgegenüber stehe ein christliches Verständnis des Körpers, das gerade die Hinfälligkeit des Körpers betrachte und diesen in seiner Verletzlichkeit in den Mittelpunkt stelle, so Guanzini, die bekennt, dass die Kirche mit dem Körperlichen über Jahrhunderte selbst im Konflikt gewesen sei. „Die Kirche hat diese fünf Worte vergessen: ‚Der Logos ist Fleisch geworden‘“, so Guanzini, für die auch die Missbrauchsgeschichten tragischerweise ein Indiz für den schwierigen und angstvollen Umgang der Kirche mit dem Körper sind.

Körper als Schauplatz gesellschaftlicher Debatten

Für Guanzini sind der Körper und die Körperlichkeit ein zentraler Schauplatz gesellschaftlicher Diskurse – und er ist für sie auch ein Ort der Offenbarung, an dem Stärken und Zerbrechlichkeiten sichtbar würden. Den Verlust an Körperlichkeit durch die Coronavirus-Krise sieht Guanzini aber als prägende, kollektive Erfahrung: „Wir entdecken im Moment, dass wir ein gemeinsames Schicksal haben. Und umso mehr entdecken wir gerade jetzt, dass die Präsenz des anderen für uns entscheidend ist.“

Die Haut, so beschreibt es der Schweizer Historiker Philipp Sarasin, sei seit dem 18. Jahrhundert eine „Schnittstelle zwischen Subjekt und Gesellschaft“ – und nicht umsonst spiele die Haut im Bild vom „politischen Körper“ eine „wichtige Rolle zur Abbildung gesellschaftlicher Ordnungen und ihrer Bedrohungen“.

Peter Weibel über Distanz und Telekommunikation

Das „Haut-Ich“

Das Erleben der eigenen Körpergrenzen spielt schließlich in den Strukturmodellen der Psychoanalyse eine entscheidende Rolle. Das „Haut-Ich“ nannte in den 1970er Jahren ein französischer Psychoanalytiker ein Buch, das in seiner Zeit für viel Aufsehen sorgte. Der Mann hieß Didier Anzieu und hatte schon in seiner Schulzeit die Schriften des Mathematikers und Philosophen Blaise Pascal herausgegeben und war seit dieser Zeit auf ein Thema für sein Leben gekommen: Was passiert mit uns Menschen, wenn wir in der frühesten Phase unsere Lebens die imaginäre, gemeinsame Haut mit unserer Mutter ablegen? Und welche Stadien durchlaufen wir dabei, wenn wir zu einer eigenen Persönlichkeit werden, die sich abgrenzen muss, zugleich ein natürlich-sinnliches Empfinden zur Welt über dieses so zentrale Sinnesorgan unseres Körpers aufbauen wollen?

Bücher zum Thema

  • Isabella Guanzini, Zärtlichkeit: Eine Philosophie der sanften Macht, C. H. Beck, 220 Seiten, 18,00 Euro.
  • Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers 1765–-1914, Suhrkamp, 510 Seiten, 22,00 Euro.
  • Didier Anzieu, Das Haut-Ich, Suhrkamp, 325 Seiten, 22,00 Euro.

Anzieu studierte vor allem Fälle, in denen dieses gemeinsame Band mit der Mutter je und oft brutal zerrissen wurde. Pascal, der große Betrachter seiner selbst in den „Pensees“, ist etwa ohne Mutter aufgewachsen. Und Anzieus Band zur eigenen Mutter hatte auch große Lücken (dass sowohl er als auch seine Mutter, ohne davon zu wissen, beim selben Analysten, Jacques Lacan, in Therapie waren, machte das Unterfangen noch spezieller und auch schmerzhafter). Anzieu wollte die Theorie Sigmund Freuds zur Selbstwerdung weiter denken und die Stadien der von Freud ausgearbeiteten Phasen immer mit der Rückkoppelung an die Hauterfahrung weiterentwickeln (das „Spiegelstadium“ seines Lehrers Lacan nennt er zwar wörtlich so, er tilgt aber in seinem Buch bezeichnenderweise den Namen des Mentors).

Über das „Haut-Ich“, so Anzieu, entwickle das Kind, ausgehend von seinen Erfahrungen mit der Körperoberfläche, eine Vorstellung von sich selbst: „Dies entspricht dem Zeitpunkt, zu dem das psychische Ich auf der Handlungsebene vom Körper-Ich differenziert wird, auf der Vorstellungsebene aber mit ihm verschmolzen bleibt.“

Baby das unter den Beinen der Mutter liegt
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Mutter und Kind und die Imagination einer gemeinsamen Haut mit der Mutter, von der sich der kleine Mensch schrittweise lösen muss

Die doppelte Funktion der Haut

Die Haut hat für Anzieu in diesem Stadium zwei wesentliche Funktionen: die Grenze zur Außenwelt zu bilden (wofür er das Wort „interface“ im Französischen verwendet) und neben dem Mund ein primäres Werkzeug der Kommunikation mit dem anderen und der Entstehung bedeutungsvoller Beziehungen zu sein.​

„Die Erfahrung mit dem Körper, und da ist die Haut ein zentraler Schauplatz, zeigt uns, dass es immer um eine widersprüchliche Mischung geht“, sagt Guanzini, die sich selbst mit der Theorie Anzieus auseinandergesetzt hat: „Als Menschen oszillieren wir zwischen Abstand und Verbundenheit, zwischen Nähe und Distanz.“ Die Maske als eine Art von zweiter Haut des Menschen erhöht demgemäß das Erlebnis vom Schutz. Gleichzeitig macht es die Grenzziehungen zum anderen noch deutlicher.