Intensivstation in Frankreich
Reuters/Benoit Tessier
Hohe Dunkelziffer

Wie Frankreich und Großbritannien zählen

Nach Italien und Spanien sind Frankreich und Großbritannien die von der Coronavirus-Pandemie am stärksten betroffenen Länder Europas. Dort stieg die Zahl der Infizierten und der Toten zuletzt stark an – und das, obwohl die jeweiligen Statistiken offenbar große Lücken aufweisen und viele Fälle erst gar nicht aufscheinen.

Abgesehen von einer mutmaßlich hohen Dunkelziffer unerkannter Infektionen werden von Land zu Land unterschiedliche Kriterien für die Erfassung einer Infektion und für die Zählung der Todesfälle verwendet. Frankreich verzeichnete mit 1.427 Toten in nur 24 Stunden am Dienstag einen Rekordanstieg, der bisherige Rekorde aus Italien oder Spanien weit übertraf und das Land die Schwelle von 10.000 offiziellen Toten abrupt überspringen ließ.

Hintergrund war, dass an dem Tag auch mehr als 3.000 Covid-19-Tote der letzten Wochen in Alten- und Pflegeheimen in die Statistik einflossen – und nicht nur jene, die in Krankenhäusern gestorben waren. Es handelte sich also um die nachgeholte Meldung von Todesfällen aus den Heimen und nicht um einen plötzlichen Anstieg der täglichen Todesfälle. Die Zahl ist laut dem Kabinettschef des Premierministers, Benoit Ribadeau-Dumas, „objektiv erschreckend“.

Mangel an verlässlichen Daten

Und das ganze Drama ist Medienberichten zufolge offensichtlich noch unbekannt. Denn obwohl ältere Menschen vom Coronavirus am stärksten bedroht sind, haben die französischen Behörden weiter Probleme, Daten über die Ausbreitung des Virus aus den sozialen Einrichtungen zu beziehen. Gesundheitsminister Olivier Veran sprach von einem „technischen Problem“. Dabei schlagen Medienberichten zufolge medizinisches Personal, örtliche Gesundheitsbehörden und Angehörige seit Wochen Alarm.

Verzögerungen bei der Datenerfassung verhinderten rechtzeitige Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung der Krankheit in den Einrichtungen. Auch mangelnde Transparenz werde beklagt, und es gebe Todesfälle, die nicht gemeldet würden. Derzeit leben in Frankreich über 600.000 ältere Menschen in über 7.000 Heimen. Es gilt ein striktes Besuchsverbot. Das Gesundheitsministerium kündigte eine Untersuchung des Meldesystems an. Immerhin wurde Donnerstagabend vermeldet, dass erstmals seit Ausbruch der Pandemie die Gesamtzahl der Intensivpatienten sinke, anstatt zu steigen.

Verschärfte Ausgangssperren

Angesichts der neuen Zahlen wird der Elysee-Palast die landesweite Ausgangssperre voraussichtlich über den 15. April hinaus verlängern. Präsident Emmanuel Macron will sich am Ostermontag erneut in einer Rede an die Nation an die Bevölkerung wenden und das weitere Vorgehen des Staates in der Krise erläutern. Seit 17. März gilt im ganzen Land eine Ausgangssperre, die immer wieder verschärft wurde. In Paris sind seit Mittwoch tagsüber alle sportlichen Aktivitäten im öffentlichen Raum untersagt, die Kommunen im Großraum Paris zogen ebenfalls nach. Die Menschen sind angehalten, nur mit triftigen Gründen vor die Haustüre zu gehen. Dafür müssen sie einen Passierschein bei sich tragen. Die Polizei kontrolliert die Umsetzung der Maßnahmen streng.

Zugleich schränkte Frankreich die Einreise von Ausländern ein: Bürger aus anderen EU-Ländern oder aus Drittstaaten dürfen nach Angaben des Innenministeriums nur noch dann einreisen, wenn sie ihren Hauptwohnsitz oder ihre Familie in Frankreich haben, im Grenzgebiet arbeiten oder das Land aus familiären Gründen durchqueren wollen.

Altersheim „Korian La Riviera“ in Mougins
Reuters/Eric Gaillard
Das Altersheim „Korian“ in Mougins

Frankreich stockte unterdessen sein Hilfspaket für die Wirtschaft von 45 auf 100 Mrd. Euro auf. Damit solle der erwartete Wirtschaftseinbruch von sechs Prozent abgefedert werden, sagte Finanzminister Bruno Le Maire der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ am Donnerstag. Die Finanzspritze für das Gesundheitssystem wird Le Maire zufolge von zwei auf sieben Milliarden Euro erhöht und damit mehr als verdreifacht. Vor allem im Großraum Paris und im Grenzgebiet zu Deutschland sind die notorisch klammen Kliniken überlastet.

Datenlücken in Großbritannien

Probleme mit der Verlässlichkeit gemeldeter Todesfälle hat auch Großbritannien. Wer in Heimen oder in der eigenen Wohnung stirbt, kommt anders als in Frankreich in Großbritannien nicht in die Statistik. Erfasst werden also nur jene, die im Krankenhaus starben und positiv auf Covid-19 getestet wurden. Wie viele Menschen mit dem Virus verstarben, ohne positiv getestet worden zu sein, ist unklar. Das Statistikamt ONS wies auf diese potenziell starken Verzerrungen der Zahlen hin und errechnete, dass dadurch rund 40 Prozent der tatsächlichen Covid-19-Todesfälle nicht erfasst werden. Offiziellen Angaben zufolge sind bisher mehr als 7.000 Menschen in dem Land an der Viruserkrankung gestorben. Allein die Zahl der – bisher nicht erfassten – Toten in Heimen wird laut „Guardian“ auf bisher etwa 1.000 geschätzt.

Rettungsauto in London
Reuters/Hannah Mckay
Auf Londons Straßen ist kaum noch jemand unterwegs

Damit liegt Großbritannien noch deutlich hinter Italien, Spanien und Frankreich. Allerdings ist es in der Entwicklung der Pandemie einige Tage hinter dem Rest des Kontinents, wobei die Kurve der Todeszahlen schon jetzt weitaus steiler als in anderen Ländern verläuft. Wie eine Untersuchung des IHME-Instituts der University of Washington zeigte, könnte es in Großbritannien europaweit die meisten Todesopfer während der ersten Welle der Pandemie geben. Bis Juli seien 66.000 Tote möglich. Das wären weit mehr als in Italien, das laut der Studie bis dahin 20.000 Tote zu verzeichnen hätte. Europaweit rechnen die Forscher mit knapp 152.000 Toten.

Beratungen über weitere Maßnahmen

Der Nationale Sicherheitsrat (Cobra) erörterte am Donnerstag eine eventuelle Verlängerung der Ausgangsbeschränkungen. Der britische Premier Boris Johnson, der wegen Covid-19 tagelang auf der Intensivstation eines Londoner Krankenhauses lag und erst Donnerstagabend auf eine normale Station verlegt wurde, hatte unter anderem alle Geschäfte, die nicht zur Grundversorgung dienen, schließen lassen. Sportliche Aktivitäten sind nur noch einmal am Tag und nur gemeinsam mit Mitgliedern desselben Haushalts erlaubt.

Eine Entscheidung über die Fortsetzung der Maßnahmen solle aber erst in der kommenden Woche verkündet werden, sagte Kulturminister Oliver Dowden der BBC. Er hält es für unwahrscheinlich, dass die Beschränkungen gelockert werden, da sie gerade erste Wirkungen zeigten. Es wird befürchtet, dass viele Briten bei schönem Wetter über die Osterfeiertage gegen die Beschränkungen verstoßen werden. Vor allem in den Londoner Parkanlagen gab es immer wieder Ärger, weil die Menschen nicht genug Abstand zueinander hielten.