Besorgter Mann
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Pandemie

„Ausnahmesituation nicht ewig aushaltbar“

Viele Menschen suchen in der Coronavirus-Pandemie Rat und Hilfe bei den zahlreichen heimischen Krisenhotlines. Die Themen sind vielfältig und ernst: von Jobverlust und Wegfall der Existenzgrundlage über psychische Probleme und Gewalt bis hin zu Kindern, denen Schule und Freunde fehlen. Und einige Probleme dürften sich mit der Dauer der Krise – und auch danach – noch weiter verschärfen.

Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie laufen bei den heimischen Anlaufstellen für Hilfe in Krisenzeiten die Telefone heiß: Bis zu viermal mehr Anrufe wurden teilweise verzeichnet, berichten Vertreter und Vertreterinnen gegenüber ORF.at. Mittlerweile habe sich das Aufkommen eingependelt, wenn auch auf deutlich höherem Niveau als zuvor. Viele Angebote wurden entsprechend ausgebaut.

Angst ist bei den Hilfesuchenden ein großes Thema, sei es Angst vor Arbeitsplatzverlust und entsprechenden Existenzsorgen, Angst um das eigene Leben und das von Familie und Freunden, Angst vor psychischer und physischer Gewalt in der Beziehung oder Familie und Angst vor Einsamkeit. Das betreffe bereits bestehende Patienten und Patientinnen genauso wie Menschen, die sich selbst bisher als gefestigt erlebt haben, erzählt Barbara Haid, Psychotherapeutin in Tirol vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP).

Eine Bedrohung von außen, scheinbar unkontrollierbar, auch nicht von Autoritäten, docke an Urängste an, sagt Haid. „Die Menschen werden in ihren Grundfesten erschüttert.“ Viele erlebten Unsicherheit und Ohnmacht und wüssten nicht mehr weiter, psychische Probleme wie Depressionen werden zusätzlich verstärkt. Es komme auch zu Retraumatisierungen auf Basis vergessener „Erziehungsmaßnahmen“ aus der Kindheit, wie etwa das Gefühl, eingesperrt zu sein.

Soziale Isolation verschärft Probleme

Die soziale Isolation, die vor Krankheit schützen soll, verschärft die Situation für viele. Einerseits leiden Beziehungen zwischen Partnern und innerhalb der Familie unter einem „Zuviel“ an Nähe, ohne die Möglichkeit, sich aus dem Weg gehen zu können, wodurch Konflikte aufbrechen und geschürt werden, die in Gewalt eskalieren können.

Die fehlende Rückzugsmöglichkeit zeige sich auch an der gestiegenen Nutzung von Beratungen via E-Mail und Chats, erzählen Marion Kronberger vom Berufsverband Österreichischer PsychologInnen (BÖP) und Birgit Satke von „Rat auf Draht“ – Erwachsene wie Kinder könnten einfach nicht mehr in Ruhe und ohne Mithörer telefonieren. Auch diese Angebote wurden ausgebaut.

Streit zwischen Kindern und Mutter
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Ein „Zuviel“ an Nähe kann auch Konflikte auslösen und beschleunigen

„Wir brauchen Kontakte und Berührungen“

Andererseits ist Einsamkeit ebenfalls ein Problem. Das betrifft nicht zuletzt Risikopatienten wie ältere Personen, aber auch Menschen mit Vorerkrankungen wie Krebs, die sich vor einer Infektion besonders schützen müssen, sagt Antonia Keßelring von der Telefonseelsorge. „Ich halte das nicht aus, wie lange dauert das?“, sei eine oft gehörte Frage. Unter der Einsamkeit leiden aber auch Menschen mit Behinderungen sowie Demenzpatienten, die oft nur mehr über Berührungen erreichbar sind.

Es gebe eine hohe Bereitschaft, die aktuellen Maßnahmen mitzutragen, meint Kronberger, aber diese sei wohl auch enden wollend: Eine derartige „Ausnahmesituation ist nicht ewig aushaltbar“, die schrittweisen Änderungen seien gut, das schaffe Freiräume. „Wir sind soziale Wesen, Gruppen- und Herdentiere – wir brauchen Kontakte und Berührungen.“

alte Frau schaut aus dem Fenster
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Gerade ältere Menschen und Risikopatienten leiden unter der Isolation

Isolation hält Menschen von Hilfe fern

Die Isolation steigere zudem die Gefahr, dass man Menschen, die Hilfe dringend brauchen, nicht mehr erreicht, sagt Thomas Kapitany vom Kriseninterventionszentrum. Es gebe vermehrt Anrufe von Menschen, die einen Selbstmord im näheren Umfeld erlebt hätten. „Die Krise trifft uns umfassend, und alle sind davon betroffen.“

Es gebe allerdings ebenso paradoxe Effekte, erzählt Haid: Für manche Depressive sei die aktuelle Situation mit wenigen Sozialkontakten und viel Aufenthalt zu Hause „erleichternd“. „Der Druck der Gesellschaft, ständig aktiv und kontaktfreudig zu sein, ist für sie weggefallen.“ Ähnliches berichtet Keßelring von der Telefonseelsorge: „Die Krise ist ein Gleichmacher: Jetzt sind alle daheim.“

Kinder in Krisenfamilien leiden besonders

Betroffen von der Krise sind auch Kinder und Jugendliche: Arbeitsplatzverlust und Beziehungsstreits der Eltern seien für sie belastend, erzählt Satke von „Rat auf Draht“, dazu kommen Sorgen wegen der Schule. Nicht jeder Schüler komme mit E-Learning zurecht, die Kinder fühlten sich überfordert und hätten Sorge, ob sie den Unterrichtsstoff ausreichend verstehen. Nicht selten müssten sich Eltern und Kinder ein Notebook für Homeoffice und E-Learning teilen, das schüre das Konfliktpotenzial weiter.

Die Kinder würden zudem ihre Freunde sehr vermissen, gerade bei Jugendlichen sei das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe sehr wichtig, auch physische Präsenz, sagt Satke. Während Jugendliche das mit Telefonaten kompensieren können, sind jüngere Kinder oftmals ganz von ihren Freunden, etwa auf dem Spielplatz, und weiteren wichtigen Bezugspersonen wie Lehrern abgeschnitten. Kronberger plädiert dafür, nicht nur Geschäfte zu öffnen, sondern auch den Kindern den Schulbesuch und den Kontakt zu Freunden zu ermöglichen.

Schule ist auch Ausgleich

Besonders unterschätzt werde der fehlende Ausgleich durch Schule und Hort für Kinder in psychosozial schwächeren Familien, betont Kronberger. In Familien mit chronisch oder psychisch kranken Eltern sei die Anspannung, jetzt wo auch die Kinder die ganze Zeit zu Hause seien, besonders hoch – diese „stillen“ Kinder würden sich aber am seltensten melden, weil sie es gewohnt seien, viel auszuhalten. Gerade ihnen würden Ansprechpersonen und Struktur, Werte und Normen aus Schule und Hort besonders fehlen.

Armut bleibt länger Thema

Viele Probleme werden mit dem Ende der Pandemie nicht gleich verschwinden, sind sich die Experten sicher. Gerade die finanziellen Folgen seien in vielen Familien durch Jobverlust und Kurzarbeit zu drastisch, so Keßelring, die Armutsgefährdung werde weiter zunehmen, ist sich Kapitany sicher. Eine Herausforderung werde auch, wenn ältere Personen und Risikopatienten weiter nicht raus dürften, während die Zwangspause für den Rest vorbei sei: „Da wird noch was auf uns zukommen“, so Keßelring.

Bei allen Problemen gebe es aber auch viele Familien, die die Krise gut meistern, betonen Satke und Kronberger. In einem guten Elternhaus ermögliche die zusätzliche Nähe auch die Möglichkeit mehr zusammenzuwachsen, die Eltern würden vom Leben der Kinder mehr mitbekommen – und umgekehrt. „Sehr viele machen das sehr gut“, sagt Kronberger. Wichtig sei bei Problemen zu vermitteln, dass man damit nicht alleine sei, dass man darüber reden und jederzeit Hilfe holen könne, sagt Kapitany. Er hoffe, dass auch über die aktuelle Krise hinaus dafür genug Geld und Ressourcen da sind.