Pamela Rendi-Wagner (Bundesparteivorsitzende SPÖ) via Zuschaltung zu Gast bei ORF-Moderatorin Claudia Reiterer in der Sendung „In Zentrum“
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Coronavirus

Rendi-Wagner fordert „neue Regeln“

Die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie scheinen Wirkung gezeigt zu haben – die Kurve der Neuinfektionen flacht zunehmend ab. Laut SPÖ-Vorsitzender Pamela Rendi-Wagner ist die Akutphase nun vorbei. Sie forderte am Sonntag in der ORF-Sendung „Im Zentrum“ neue Regeln, konkrete Ziele, langfristige Perspektiven – und eine schrittweise Öffnung der Schulen Anfang Mai.

Der von der Regierung Mitte März verordnete „Shut-down“ sei aus fachlicher Sicht „eindeutig notwendig“ gewesen, doch nun brauche es einen gemeinsamen Diskurs über neue Rahmenbedingungen und Regeln, sagte die ehemalige Generaldirektorin für öffentliche Gesundheit. Sie vermisse eine „klare Antwort“, was das neue Etappenziel betreffe. Schließlich werde das Virus die Menschheit noch länger begleiten, ein „Fahren auf kurze Sicht“, wie die Regierung regelmäßig betont, sei daher nicht ausreichend.

„Es gibt Experten, die sagen, die Situation wird erst dann zu Ende sein, wenn es einen Impfstoff gibt. Das kann auch erst in ein bis drei Jahren so weit sein“, so die SPÖ-Vorsitzende. Folglich sei es notwendig, von einer „Monoperspektive“ des Virologischen auf die Gesamtsicht zu kommen. Dafür brauche es eine andere politische Herangehensweise, bei der auch gesellschaftliche Bedürfnisse und Freiheitsrechte berücksichtigt werden müssten, so Rendi-Wagner.

Pamela Rendi-Wagner (Bundesparteivorsitzende SPÖ), Marita Haas (Unternehmensberaterin und Gender-Expertin), Helmut Fickenscher (Präsident Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten) und Andreas Sönnichsen
(Leiter Abteilung Allgemeinmedizin, MedUni Wien) via Zuschaltung zu Gast bei ORF-Moderatorin Claudia Reiterer in der Sendung „In Zentrum“
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Rendi-Wagner vermisst von der der Regierung Klarheit, „wie es weitergeht in Österreich“

Rendi-Wagner für schrittweise Schulöffnung Anfang Mai

Daher sollten die wegen der Coronavirus-Krise geschlossenen Schulen ab Mai öffnen, so Rendi-Wagner. Sie sah „Österreich auf einem gleich guten Weg mit Deutschland“, und Deutschland habe beschlossen, mit Anfang Mai die Schulen zu öffnen. Die Schulen sollten schrittweise öffnen, mit nicht zu vielen Kindern gleichzeitig in der Klasse und einem „Fokus auf Volksschulkinder“, die betreuungspflichtig sind.

Auch Andreas Sönnichsen, der Leiter der Abteilung Allgemeinmedizin an der Medizinischen Universität Wien, sagte, er halte es für „nicht plausibel“, Kinder noch länger aus den Schulen draußen zu halten. "Aus internationalen Daten geht hervor, dass Schulen bei der Übertragung eigentlich keine Rolle spielen.

Man hat sie in Österreich geschlossen, ohne das wissenschaftlich zu begleiten. Wir machen Dinge, die nicht evidenzbasiert sind", so Sönnichsen. In Österreich habe man über 160.000 Temperaturmessungen durchgeführt – wie viele davon bei Schulkindern, sei unbekannt, da die Daten nicht zur Verfügung stünden, kritisierte der Mediziner.

„Im Zentrum“: Österreichs Kurs – Ausweg oder Irrweg?

Diese Woche erlebte Österreich erste Lockerungen der Coronavirus-Maßnahmen der Regierung. Könnte Österreich angesichts guter Zahlen schon jetzt mehr Lockerungen wagen? Oder ist das Risiko zu groß, dass dann die Kennzahlen wieder nach oben schnellen und die Notbremse gezogen werden muss?

Experte will „behutsame“ Öffnungen

Der Präsident der deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten, Helmut Fickenscher, verwies indes auf Vergleiche mit anderen, bereits bekannten Viruserkrankungen. Diese würden sich bei Kindern besonders gut verbreiten, was auch die wissenschaftliche Basis für die Zurückhaltung beim schnellen Öffnen der Schulen darstelle.

Lockerungen könnten ihm zufolge nur „behutsam“ erfolgen. Es gebe aber „kein Patentrezept“ bei Schulen, sagte er. Auch in Deutschland dürften vorerst nur Schüler und Schülerinnen der Abschlussklassen zurück. Der Grund für die Maßnahmen, nämlich die Solidarität mit besonders Gefährdeten, dürfe jedenfalls nicht zum Generationenkonflikt verkommen, so Fickenscher.

„Verstärkte“ Ungleichheiten zwischen Geschlechtern

Die Unternehmensberaterin und Genderexpertin Marita Haas kritisierte, dass in der Debatte über die Maßnahmen andere Dimensionen vernachlässigt würden. Sie ortete bei Schulen eine „nachgeordnete Priorisierung“ der Regierung. Die Betreuung gehe zulasten der Frauen. Auch hier „verstärken sich natürlich Ungleichheiten“, sagte die Dozentin des Instituts für Bildungswissenschaften. Zudem sei die Schule nicht nur ein Ort der Leistungserbringungen, sondern auch ein „sozialer Raum“. Auch die Frage, wie es den Kindern aktuell psychisch gehe, müsse gestellt werden, so Haas.

„Können jetzt nicht alle halben Jahre wieder zusperren“

Die Expertenschätzungen über die Dauer bis zur Verfügbarkeit eines Impfstoffs gegen das Coronavirus gingen auseinander. Gebraucht werde eine Strategie, „die uns über die nächsten Jahre trägt“, forderte Sönnichsen. „Wir können jetzt nicht alle halben Jahre wieder zusperren.“ Er forderte eine gute „Surveillance“ (Überwachung, Anm.), und „dann müssen wir lokal reagieren, dann kann es auch mal sein, dass man eine Schule zumachen muss oder ein Pflegeheim oder eine Region“. Aber ein kompletter „Lock-down“ sei in Zukunft zu vermeiden.

„Ja, dieser Weg wird ein längerer sein“, sagte Rendi-Wagner. Die Dauer sei schwer prognostizierbar, meinte Fickenscher, er „erwarte, dass es uns längere Zeit begleitet, aber dass wir besser lernen, damit umzugehen“. Sönnichsen wollte die „Gefährlichkeit des Virus nicht überschätzen“. Das durchschnittliche Todesalter der an Covid-19 Verstorbenen liege in Österreich über der durchschnittlichen Lebenserwartung, betonte er. Es sei aber tödlicher als Influenza, warnte Fickenscher.

Das Virus ist laut Sönnichsen „in dieser Welt, und daran werden auch in Zukunft Menschen sterben“. Auch bei Verkehrsunfällen sterben Menschen, und das lasse sich ebenfalls durch drastische Maßnahmen verhindern, sagte der Leiter der Abteilung Allgemeinmedizin an der MedUni Wien. Man habe sich daran gewöhnt, mit gewissen Todesursachen zu leben – und „das steht uns möglicherweise mit Covid auch bevor“.