Ein älterer Mann mit Maske schaut aus einem Fenster in Rom und hat eine Italien-Fahne aufgehängt
APA/AFP/Alberto Pizzoli
„Lock-down“ und die Folgen

Italien will Bürger psychologisch testen

Auch in Italien, wo besonders strenge Beschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus gelten, wird über Lockerungen nachgedacht. Eine Expertenkommission berät die Regierung dabei und will die Italienerinnen und Italiener nun psychologischen Tests unterziehen.

150.000 Personen sollen dem psychologischen Test unterzogen werden. Die Regierung will prüfen, wie stark die Bevölkerung nach eineinhalb Monaten Quarantäne unter den einschränkenden Maßnahmen leidet und wie lange sie diese noch aushalten kann, berichtete die Tageszeitung „Corriere della Sera“ (Montag-Ausgabe). Gefragt wird unter anderem, ob man sich einsam fühlt und wie viel Zeit man mit Nichtstun verbringt.

Die Ergebnisse der Tests sollen der italienischen Regierung von Premier Giuseppe Conte zur Orientierung bei der ersten Lockerung einiger Maßnahmen dienen. Aktuell gelten die Maßnahmen und Ausgangsbeschränkungen bis 3. Mai, dann soll es schrittweise Lockerungen geben. Vorgesehen ist aber, dass Unternehmen den Anfang machen, bevor die Maßnahmen für die Menschen gelockert werden.

Betriebe machen den Anfang

Im Raum steht die Öffnung der meisten Betriebe und Büros, allerdings soll weiterhin – wenn möglich – auf Homeoffice gesetzt werden. Die Öffnungszeiten sollen gestaffelt werden, um Stoßzeiten zu vermeiden. An Bord der öffentlichen Verkehrsmittel werden nur eine beschränkte Zahl von Passagieren zugelassen. Die seit 10. März geschlossenen Parks sollen wieder geöffnet werden, wenngleich auch nur eingeschränkt. Bars, Restaurants und andere Lokale müssen noch länger auf die Wiedereröffnung warten.

Arbeiter an einer Maschine in einer Fabrik in Mirano
Reuters/Marco Brazzolotto
Italiens Wirtschaft sehnt sich nach Normalbetrieb

Am Mittwoch sind weitere Beratungen der Regierung mit dem wissenschaftlichen Komitee geplant. „Wir prüfen, wie wir in den kommenden Monaten mit dem Virus in Sicherheit zusammenleben können“, sagte Premier Conte. Hitzige Debatten zwischen Regierung, Regionen sowie Vertretern der Industrie und Gewerkschaften löst ein möglicher gestaffelter Neustart der produktiven Aktivitäten je nach Region aus, den Conte ins Spiel brachte.

Norden stemmt sich gegen Staffelung

„Wir denken an eine Regionalisierung des Neustarts. In den Regionen mit weniger positiv getesteten Menschen ist es einfacher, der Kette der Kontakte nachzugehen, um zu prüfen, wo sich Menschen angesteckt haben könnten“, sagte Industrieminister Stefano Patuanelli laut italienischen Medien. Priorität sollen Regionen in Mittel- und Süditalien mit weniger Todesopfern und Infektionsfällen haben.

Der Norden stemmt sich jedoch dagegen. Der lombardische Regionspräsident Attilio Fontana forderte, ganz Italien müsse gemeinsam neu starten. Die Nachbarregion Piemont teilt Fontanas Ansichten ebenso. „Wenn einige Präsidenten ihre Regionen schließen, droht ein Krieg Norden gegen Süden“, warnte auch der Präsident Venetiens Luca Zaia. Und der Präsident der Emilia Romagna, Stefano Bonaccini, machte Druck: „Wir haben der Regierung gesagt, dass wir am 4. Mai wieder starten können oder sogar schon am 27. April.“

Eine Unternehmerin öffnet ihre Buchhandlung in Rom
AP/LaPresse/Cecilia Fabiano
Erste Buchhandlungen und Wäschereien dürfen wieder öffnen

„Die Gesundheit liegt uns allen am Herzen, aber wir sehen auch das Risiko sozialer Unruhen“, so Bonaccini. Er verstehe nicht, warum andere Länder schon wieder geöffnet haben, das in Italien aber unter Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen nicht möglich sei. „Verarbeitende Betriebe, die exportieren, Auto-, Keramik-, Holz- und Modebetriebe sowie Baustellen sollen öffnen“, forderte Bonaccini. „Und auf den Stränden sollte im Sommer mehr Abstand gehalten werden und dieser auch kontrolliert werden“.

Tausende suchen Schlupflöcher

Unterdessen wollen Tausende Betriebe ein Schlupfloch in den restriktiven Bestimmungen nutzen, um wieder zu öffnen. Dabei geht es um Zulieferfirmen für Produkte, die als essenziell notwendig gelten. Über 100.000 Firmen haben laut Innenministerium bereits einen Antrag gestellt. Allein in der Stadt Padua in Venetien sind mehr als 4.500 Anträge eingegangen. Die meisten dieser Firmen dürfen wieder ihre Arbeit aufnehmen, heißt es vom Präfekten der Stadt, Renato Franceschelli.

Nach der Lombardei ist die Emilia Romagna die von der Coronavirus-Pandemie am stärksten betroffene italienische Region. Laut dem obersten Gesundheitsinstitut (ISS) ist die Lombardei damit auch die letzte Region, die mit einer Lockerung rechnen könnte, und zwar nicht vor dem 28. Juni. Die ersten Regionen, die auf eine schrittweise Normalisierung hoffen können, seien dagegen Umbrien und die Basilicata.

Süden droht mit Abschottung

Der Präsident Kampaniens, Vincenzo De Luca, warnte dagegen vor einer verfrühten Öffnung einiger norditalienischen Regionen, in denen die Zahl der Infizierten weiterhin steige und die Zahl der Todesopfer nach wie vor hoch sei. De Luca drohte mit der Schließung Kampaniens für Bürger aus Norditalien, sollte der „Lock-down“ in Italien aufgeweicht werden.

Walter Ricciardi, Mitglied der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Gesundheitsberater der italienischen Regierung, warnte generell: „Es ist absolut zu früh, die ‚Phase zwei‘ einzuleiten. Einige Regionen Norditaliens befinden sich noch voll in der ‚Phase eins‘. Wir dürfen nicht voreilig handeln: Die Gefahr ist ansonsten, dass die Epidemie wieder explodiert“, so Ricciardi.

„Familienmodel der 1950er Jahre“

Länger warten heißt es für die Kinder in Italien. Die seit 5. März geschlossenen Schulen werden wohl bis September geschlossen bleiben. Es sei sinnlos, die Schulen wenige Wochen vor Ende des Schuljahres Mitte Juni zu öffnen, während in Italien weiterhin 500 Coronavirus-Opfer täglich gemeldet werden, schrieb Bildungsministerin Lucia Azzolina auf Facebook. „Schule ist ein Thema, mit dem wir uns später befassen werden“, sagte ISS-Präsident Silvio Brusaferro dem „Corriere della Sera“.

Leere Schulklasse in Rom
Reuters/Remo Casilli
Die Schulen bleiben wohl bis nach den Sommerferien geschlossen

„Es wird überlegt, wie die Produktion wieder aufgenommen werden kann. Wobei alle Schritte ermittelt werden, die für eine sichere Durchführung erforderlich sind: von einem ausreichenden Vorrat an Masken und Desinfektionsmitteln über die Möglichkeit einer physischen Entfernung bis hin zu sicheren Transportmitteln“, schrieb „La Repubblica“ am Sonntag. Das sei „in Ordnung“, aber ein wichtiger Teil fehle: die Familienorganisation derer, die mit minderjährigen Kindern arbeiten gehen sollen.

„Als ob diejenigen, die die Wiederaufnahme der Produktion vorbereiten, eine Zusammensetzung der Belegschaft im Sinn hätten, die nur oder hauptsächlich aus Personen ohne familiäre Verpflichtungen besteht. Oder nur aus Männern, die die Organisation der Familie und die Betreuung der Kinder an ihre Frauen oder Partnerinnen delegieren können. Als ob wir noch in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wären“, so die „Repubblica“ weiter.

Siebenjähriger: „Wohin sollen wir?“

Eltern starteten dagegen zahlreiche Petitionen und veröffentlichten Briefe, damit die Schulen wieder geöffnet werden – und nicht erst im September. „Wenn die Eltern arbeiten gehen sollen und wir nicht zu den Großeltern dürfen, wohin sollen wir?“, schrieb ein Siebenjähriger in einem Brief an Staatspräsident Sergio Mattarella, der „Corriere della Sera“ am Sonntag veröffentlichte. „Warum öffnen Unternehmen, aber unsere Schulen nicht?“