Es gebe keine unkontrollierten Brände mehr, nur noch Glutnester zu bekämpfen, hatte der ukrainische Katastrophenschutz vergangene Woche versichert. Inzwischen brennt es im Sperrgebiet rund um das frühere AKW seit über zwei Wochen. Inzwischen seien an die 1.400 Feuerwehrleute im Einsatz, hieß es am Montag – gegenüber 400 vergangene Woche und 700 am Wochenende. Selbst in der etwa 70 Kilometer entfernten Hauptstadt Kiew seien die Schadstoffwerte in der Luft stark erhöht.
Am Montag folgte eine weitere Warnung vor einer großflächigen Verfrachtung radioaktiver Partikel durch die Brände. Große Teile der Sperrzone um das frühere AKW sind noch sehr stark verstrahlt. Die Organisation Internationale Ärzte zur Verhinderung eines Atomkriegs (IPPNW) warnte außerdem vor einer Verharmlosung der Lage. Es gebe radioaktive Wolken über der Ukraine, die sich ausbreiten. Die Werte des radioaktiven Isotops Cäsium 137, das während der Reaktorkatastrophe 1986 hauptsächlich freigesetzt worden war, seien auch nun wieder deutlich erhöht.
Gebiet unterschiedlich stark verstrahlt
Die „stark verdünnten“ Rauchschwaden hätten bereits Teile Europas erreicht, warnte die IPPNW und fügte hinzu: Auch wenn derzeit keine „relevante Gefahr“ für die Bevölkerung bestehe, sei es „wichtig zu verstehen, dass es keinen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen Radioaktivität ungefährlich wäre.“

Es könnten außerdem noch stärker verseuchte Flächen im Sperrgebiet in Brand geraten. Von offizieller ukrainischer Seite hatte es bisher stets geheißen, die Messwerte lägen innerhalb der Toleranzgrenzen. Die Luftverschmutzung in Kiew hänge nicht mit den Bränden zusammen, zitierte der englischsprachige TV-Sender „112 Ukraine“.
Unterschiedliche Einschätzung zu Größenordnung
Die Größe der durch die Waldbrände betroffenen Flächen bezifferten die offiziellen Stellen in der Ukraine mit rund 10.000 Hektar (ha), etwa 100 Quadratkilometer, die Ärzteorganisation und die Umweltschutzorganisation Greenpeace gehen von bis zu 46.000 Hektar, einem Gebiet größer als die Stadt Wien, aus. Betroffen sind auch Gebiete außerhalb der Sperrzone, in mehreren Siedlungen wurden Häuser zerstört.

Die verlassene Stadt Pripjat, nur wenige Kilometer von der Ruine des AKW unter ihrer Schutzhülle entfernt, hatten die Brände in der Vorwoche erreicht. Damals hatte es auch geheißen, sie seien an der nächsten Stelle bis etwa einen Kilometer an das frühere Kraftwerksgelände herangerückt. Speziell Satellitenbilder hatten schon zu diesem Zeitpunkt das enorme Ausmaß erkennen lassen.
Schlechte Krisen-PR macht skeptisch
Der erste Brand nahe dem früheren Kernkraftwerkskomplex, in dessen Reaktorblock 4 es am 26. April 1986 zur Katastrophe gekommen war, brach am 4. April aus. Danach hieß es mehrfach: „keine Gefahr“ für die Kraftwerksruine. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski erklärte die Brände vergangenen Dienstag für praktisch gelöscht, es seien nur noch Glutnester zu bekämpfen, was noch wenige Tage in Anspruch nehmen würde, hieß es vom ukrainischen Katastrophenschutz. Am Wochenende wurde die Zahl der Einsatzkräfte dann nochmals stark erhöht.
In Medienberichten, auch ukrainischen, wurde gemutmaßt, die Regierung könnte zumindest nicht die ganze Wahrheit sagen, es kursierten Bilder und Videos der Brände, die deren Ausmaß verdeutlichen sollten. Sie zeigten eine andere Version als die offizielle, hieß es dazu. Das erste Feuer in der Sperrzone war am 4. April registriert worden. Es hatte nach offiziellen Angaben etwa 20 Hektar umfasst, rund 90 Feuerwehrleute waren zur Bekämpfung eingesetzt worden. Auch ein Grund für Misstrauen: Die ukrainischen Behörden hatten seit Tagen keine Angaben zu den Bränden und möglichen von ihnen ausgehenden Gefahren gemacht.
Von Brandstiftern und „Science-Fiction-Fans“
Zur Ursache oder den Ursachen für die Brände gibt es in ukrainischen und internationalen Medienberichten mittlerweile unterschiedliche Theorien. Eine ist Brandstiftung bzw. grobe Fahrlässigkeit. Zwei Tage nach Ausbruch des ersten Feuers habe die Polizei einen Mann festgenommen, hieß es. Der 27-Jährige habe angegeben, er habe in der Sperrzone aus Langeweile Abfall und trockenes Laub angezündet. Eine weitere Theorie besagt, ein Stromkabel sei gerissen und habe ein Feuer entfacht, das habe sich mit starkem Wind und bei sehr trockenem Waldboden rasch ausgebreitet.
Mehr als zwei Wochen andauernde Brände
Um das Feuer im radioaktiv belasteten Gebiet rund um das havarierte Atomkraftwerk Tschernobyl zu bekämpfen, hat die Ukraine die Zahl der Einsatzkräfte noch einmal stark erhöht.
Am Montag berichtete „112 Ukraine“ außerdem unter Berufung auf das Innenministerium in Kiew, es seien weitere mutmaßliche Brandstifter von der Nationalgarde, die aktuell zu einem Einsatz gegen „Sabotage“ in dem Gebiet abgestellt ist, gestellt worden. Die britische „Times“ berichtete von „Science-Fiction-Fans“ auf der Suche nach Nervenkitzel in der Sperrzone. In dem russischen Film, von dem sich diese inspirieren hätten lassen, gehe es um die Suche nach Spuren von Außerirdischen in einer Sperrzone.
Die Katastrophe von April 1986
Im damals noch sowjetischen AKW Tschernobyl war es vor fast genau 34 Jahren zur Katastrophe gekommen, nachdem ein Sicherheitstest aus der Bahn gelaufen war. Er hätte einen Stromausfall simulieren sollen, die externe Stromversorgung, die für die Kühlsysteme notwendig war, wurde versuchsweise abgeschaltet. Es kam zu einer unkontrollierten Leistungssteigerung und zu einer Explosion im 1983 in Betrieb genommenen Block 4 des Kraftwerks. Anschließend wurden große Mengen an Radioaktivität freigesetzt.

Die Umgebung des AKW ist bis heute verstrahlt, nach dem Reaktorunglück war die Gegend in einem Radius von 30 Kilometern rund um das Kraftwerksgelände zur Sperrzone erklärt worden. Sie darf seit einigen Jahren – mit offizieller Erlaubnis und im Rahmen geführter Touren – wieder betreten werden. Im Vorjahr gab es Berichte, wonach die Sperrzone regelrecht von Touristinnen und Touristen gestürmt werde. Als Anlass wurde unter anderem eine US-britische Serie („Chernobyl“) über die Reaktorkatastrophe und ihre Folgen genannt.