Ludwig Adamovich, ehemaliger Verfassungsgerichtshofpräsident, im ORF.at-Interview
ORF.at/Christian Öser
1945/2020

Im Dienst der zertrümmerten Republik

Wenn Ludwig Adamovich in Medien zitiert wird, dann als Verfassungsexperte. Das hat freilich einen Grund: Fast sein ganzes Berufsleben widmete er der Verfassung. Weitaus weniger bekannt sind seine Jahre im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit. Der frühere Verfassungsgerichtshof-Präsident war elf Jahre alt, als 1944 die ersten Bomben auf Wien niedergingen, und zwölf, als Deutschland im Mai 1945 kapitulierte.

An das Ende der NS-Herrschaft kann sich Adamovich „sehr gut“ erinnern, wie er im ORF.at-Gespräch sagt. Als Mitte April 1945 sowjetische Truppen in Wien einmarschierten und die Stadt besetzten, saß die Familie Adamovich eine Woche lang im Luftschutzbunker fest. „Das Ende dieses Zustandes war für sich allein schon ein Befreiungsschlag. Für meinen Vater, ich habe das alles ja nur so am Rande mitbekommen, war das noch ein viel größerer Befreiungsschlag, weil er immer schon ein begeisterter Österreicher gewesen ist.“

Adamovich wurde im Sommer 1932 in Innsbruck geboren. Im Alter von drei Wochen zogen er und seine Mutter Emma (früher Hofmann) nach Graz, wo sein Vater Ludwig Adamovich senior seit 1928 eine Professur an der Universität Graz innehatte. Nach rund einem Jahr wurde Wien die neue Heimat der Familie. Im „Ständestaat“ wurde Vater Adamovich 1934 zum Mitglied des Staatsrates (Beratergremium, Anm.) ernannt, in Februar 1938 zum letzten Justizminister vor dem „Anschluss“.

Ludwig Adamovich, ehemaliger Verfassungsgerichtshofpräsident, im ORF.at-Interview
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Adamovich ist heute 87 Jahre alt und weiterhin als Verfassungsexperte in der Hofburg aktiv

Bombenangriff am 18. November 1944

„Mein Vater war Minister, gerade einmal dreieinhalb Wochen, und das in einer Zeit, wo man wissen musste, dass es nicht gutgehen kann“, die „Explosion“ sei unmittelbar bevorgestanden, so Adamovich. Im März 1938 wurde sein Vater durch den Nationalsozialisten Franz Hueber als Minister ersetzt und mit Berufsverbot in den Ruhestand geschickt. Sein Vater sei Monarchist und Legitimist gewesen, „also ein Mann, der von der Legitimation des herrschenden Hauses durch die göttliche Gnade überzeugt war“, schrieb Adamovich in seinen Memoiren „Erinnerungen eines Nonkonformisten“.

Als der Zweite Weltkrieg begann, war Adamovich sieben Jahre alt. Unmittelbar ausgewirkt habe sich der Krieg auf ihn aber erst im Jahr 1944. Damals flogen britische und die US-Luftstreitkräfte Ziele in Wien an. Tag und Nacht heulten Sirenen, an einigen Tagen fielen in kurzen Intervallen Bomben nieder. Wohnungen wurden zerstört, in Bunkern und provisorisch luftschutzmäßig eingerichteten Kellern suchten die Bewohner Schutz. Insgesamt werden im Bombenkrieg zwischen März 1944 und April 1945 fast 9.000 Menschen getötet.

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Die gesprengte Marienbrücke über den Donaukanal. Im Hintergrund das Dianabad, Wien, 1945
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Nach dem Bombenkrieg 1944 und 1945 wurden zahlreiche Bauwerke in Wien zerstört, etwa die Marienbrücke über den Donaukanal
Demolierte Tramway vor der teilzerstörten Universität, Wien, 1945
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Auch die Universität Wien wurde in Mitleidenschaft gezogen, Studierende halfen damals mit, den Schutt zu beseitigen

Auch der damals elfjährige Adamovich wäre bei einem Luftangriff am 18. November fast ums Leben gekommen. Eine Bombe sei unmittelbar vor dem Haus und im Nebenhaus eingeschlagen. „Der Luftschutzkeller war, wie sich herausgestellt hat, vollkommen unbrauchbar“, wie er erzählt. Nach dem Bombenangriff fand die Familie bei Verwandten, die ebenfalls in Wien wohnten, Unterschlupf. Zuerst dachte man, vorübergehend, aber der Einmarsch der Roten Armee hatte sich bereits abgezeichnet. Deshalb blieb man länger.

„Strahlende helle“ Nachkriegszeit

Oft wird das Nachkriegswien als grau und düster beschrieben. Wesentlich zu diesem Bild beigetragen haben freilich die Literatur und das Filmgeschäft – allen voran der Agententhriller „Der Dritte Mann“ mit Orson Welles, der eben in Wien unter Besatzung spielt. Adamovich, der im Nachkriegswien in die Schule ging und studierte, stimmt dieser Sicht zu. „Ja, verglichen mit der heutigen Situation herrschte eine gewisse Düsternis", sagt er. Aber wenn man die Kriegszeit mit der Verdunkelung erlebt hat, dann sei die Nachkriegszeit „strahlend hell“ gewesen.

Adamovich über den „dunklen“ Zweiten Weltkrieg

Der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, spricht über über den „dunklen“ Zweiten Weltkrieg, den er als Elfjähriger miterlebt hat. Die Nachkriegszeit sei zwar düster gewesen, der Krieg aber dunkel, so Adamovich.

Die Lichter der Stadt wurden ausgeschaltet, die Fenster und Fahrzeugscheinwerfer verdunkelt, die Belichtung von Schaufenstern, Wohnhäusern und Straßen abgedreht oder umgelenkt. Mit der Verdunkelung sollte verhindert werden, dass sich die alliierten Luftstreitkräfte an den Lichtern orientieren können. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gab es Verordnungen, die verpflichtend umgesetzt werden mussten. So richtig verdunkelt wurde Wien, als die Stadt zum Ziel der westlichen Alliierten wurde.

Der Übergang zwischen der Stunde null und dem neuen Alltag in der Nachkriegszeit war für Adamovich quasi fließend. Bereits im Mai 1945 besuchte er wieder das Akademische Gymnasium in Wien. Das Schulwesen sei recht schnell wieder angelaufen, sagt er. Nach der Matura im Jahr 1950 wechselte Adamovich an die Uni Wien, wo er – wie sein Vater Jahrzehnte zuvor – Rechtswissenschaften studierte. „Meine Eltern waren schon froh, dass sie mich in der Nähe hatten“, sagt der Jurist. „Ich wollte schnell fertig werden, ich bin auch sehr schnell fertig geworden. Mein Vater hat das sanft gefördert.“

Die Überführung der Nazi-Gesetze

Vater Adamovich war in der Nachkriegszeit ein vielbeschäftigter Mann. Er war nicht nur Universitätsrektor, Vize- und später Präsident des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), sondern entwarf für die provisorische Staatsregierung unter Karl Renner auch die Überleitungsgesetze und die vorläufige Verfassung. Für Adamovich junior war es klar, dass sein Vater beim Aufbau des neuen selbstständigen Österreichs herangezogen werden würde. „In einer Schublade versteckt hatte er (Adamovich senior., Anm.) schon die Entwürfe für eine Rechtsüberleitung.“

Aufnahme von Ludwig Adamovich junior im Jahr 1957
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Adamovich im Jahr 1957

Die damalige Verfassungsüberleitung sei durch eine Rückkehr zum Zustand von 1933 gekennzeichnet, erklärt die Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal im Gespräch mit ORF.at. Verfassungsrecht, das nach dem 5. März 1933 erlassen wurde, ist laut der Expertin aufgehoben worden. Das galt aber nicht für einfache Gesetze, also unterhalb der Verfassungsebene. So wurden etwa NS-Gesetze übernommen, wenn sie nicht „den Grundsätzen einer echten Demokratie“ widersprachen oder „typisches Gedankengut des Nationalsozialismus“ enthielten.

Wegen der Personalnot in der Justiz gestaltete sich die Rechtsüberleitung als schwierig. „Die Entnazifizierung stand anfänglich im Vordergrund, obwohl sie natürlich mit einem raschen Wiederaufbau der Justiz im Widerspruch stand. Die Entfernung aller Nationalsozialisten hätte die ohnehin bestehende extreme Personalknappheit so verstärkt, dass ein Zusammenbruch der Justiz befürchtet wurde“, sagt Reiter-Zatloukal. Denn insgesamt seien in der Justizverwaltung fast 3.000 Personen (44 Prozent) des Personalstandes von 1938 entfernt worden. Um die Personalnot zu mindern, wurden auch viele Richter reaktiviert, die 1938 aus politischen oder rassistischen Gründen entlassen worden waren.

Adamovich über Vergleiche mit seinem Vater

Der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, spricht über die Vergleiche mit seinem Vater. Adamovich hat wesentliche Karriereschritte seines Vaters kopiert. Das sei in seiner gesamten Laufbahn immer thematisiert worden.

Der Vater imponiert, der Vergleich weniger

Adamovich senior, der 1890 in Essegg (heute Osijek, Kroatien, Anm.) in eine Familie von Grundbesitzern, Offizieren und Verwaltungsjuristen hineingeboren worden war, gehörte quasi zu jenen, die aus der Pension zurückgeholt wurden. Mit seinem Vater verbindet Adamovich aber nicht nur den Wiederaufbau, sondern auch eine Karriere im Gleichklang. Beide waren für den Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt tätig, Präsident des Verfassungsgerichtshofes und Berater von Spitzenpolitikern. Adamovich senior beriet Renner, Adamovich junior Bundespräsident Heinz Fischer, und heute dessen Nachfolger, Alexander Van der Bellen.

Die Position seines Vaters, den er in seinen Memoiren als streng und dominant bezeichnete, habe ihm imponiert, aber sei auch ein Problem gewesen, „das mich durch meine ganze berufliche Laufbahn verfolgt hat. Weil es ganz natürlich ist, dass man da Vergleiche anstellt und dass ich auf der einen Seite natürlich einen gewissen Nachahmungstrieb gehabt habe“, so Adamovich. Auf der anderen Seite habe er aber auch ein bisschen revoltiert. „Mein Vater ist im September 1955 verstorben, sodass ich die eigentliche Berufslaufbahn ohne seine Aufsicht und seinen Schutz zurücklegen konnte. Das war auch gut so.“

Adamovich über seine damalige Parteimitgliedschaft

Der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, spricht über seine damalige Parteimitgliedschaft. Er sagt, dass in Österreich immer nach der Partei, aber nie nach der Grundhaltung gefragt werde. In manchen Institutionen müsste man Parteimitglied sein.

Dass Adamovich nie Minister wurde, wie einst sein Vater, stört ihn nicht. Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre sei ein Ministerposten immer wieder Thema gewesen, geworden ist daraus aber nie etwas. Damals war der Jurist im Bundeskanzleramt unter Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) tätig und noch Parteimitglied der ÖVP. „Ich glaube, bis 1983“, sagt er. „Natürlich hat man mir übelgenommen, dass ich ausgetreten bin. Nur ist mein Verhältnis zur ÖVP kein intensives gewesen.“ Seine Parteimitgliedschaft begründet er heute mit seiner ersten beruflichen Station im niederösterreichischen Landesdienst. „Da ist man geworben worden.“

„Nicht immer gut Kirschen essen“

Nach fast 30 Jahren im Verfassungsdienst wurde Adamovich 1984 zum Präsidenten des VfGH ernannt – und diente in dieser Position 19 Jahre lang am Höchstgericht. „Zu der Zeit, zu der ich an den VfGH gekommen bin, war eine ziemlich deutliche Spaltung zu sehen“, sagt er. Mitglieder hätten befürchtet, dass sich die Polarisierung mit Adamovich noch verschärft, weil er gegen den Willen der ÖVP berufen worden war. Er habe versucht, ausgleichend auf seine Kollegen zu wirken. Aber am Höchstgericht habe man es auch mit „sehr ausgeprägten Persönlichkeiten“ zu tun. Es sei nicht immer leicht gewesen, die Balance zu finden.

Adamovich über seine Zeit am Verfassungsgerichtshof

Der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, spricht über seine Zeit am Höchstgericht und dessen Mitglieder, die „selbstbewusste Herrschaften“ waren.

Der Grund liegt in der Möglichkeit, dass Verfassungsrichter ihre bisherige Tätigkeit weiterhin ausüben dürfen – eine Ausnahme stellen nur Verwaltungsbeamte dar, dazu zählte etwa Adamovich, der damals im Bundeskanzleramt arbeitete. Jene Mitglieder, die ihrer Arbeit etwa als Universitätsprofessoren oder Juristinnen nachgehen, würden eben „ein gewisses Standing“ mitbringen, das auch am Höchstgericht „zu einem guten Teil“ beibehalten wurde, sagt der 87-Jährige. Darunter seien auch „selbstbewusste Herrschaften“ gewesen, „mit denen nicht immer gut Kirschen essen gewesen ist“.

Mitglieder des Verfassungsgerichtshof, darunter Ludwig Adamovich, 1996
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Die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs im Jahr 1996, darunter auch Adamovich, damals Präsident des Höchstgerichts

Ortstafeln, Jörg Haider und ein Glas Bier

Seinen wohl größten Streit trug Adamovich allerdings nicht im VfGH aus, sondern mit dem damaligen FPÖ-Chef und Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider Anfang der Nullerjahre. Hintergrund war ein VfGH-Erkenntnis im Dezember 2001 über zweisprachige Ortstafeln in Kärnten. Seit 1976 galt eine 25-Prozent-Klausel, wonach in allen Gemeinden, in denen sich mehr als ein Viertel der Bevölkerung zur slowenischen Volksgruppe bekannte, Ortstafeln in beiden Sprachen angebracht werden sollten. Der VfGH hob diese Regel auf und empfahl eine Grenze von zehn Prozent. Das ging Haider zu weit.

Über Wochen hinweg lieferten sich die beiden einen verbalen Schlagabtausch. Der Streit katapultierte den VfGH in einer bis dahin nicht gekannten Form ins Zentrum einer öffentlichen Debatte. Das von Haider geforderte Amtsenthebungsverfahren gegen den VfGH-Präsidenten kam nicht zustande. Es gebe keine Anhaltspunkte für den Tatbestand „unwürdiges Verhalten“, hieß es im Jänner 2002. Wenige Wochen später wurde die Eiszeit zwischen Haider und Adamovich in Villach zumindest medial beendet – bei einem Glas Bier, wie es hieß.

Shakehand zwischen dem Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider und dem Präsidenten des VfGH, Ludwig Adamovich am 9. April 2002 in Villach
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Im April 2002 trafen Haider und Adamovich in Villach aufeinander

„Duell zwischen nassen Fetzen und Florett“

In seiner Zeit als VfGH-Präsident – und auch davor und danach – hat es immer wieder von politischer Seite Kritik gegen Erkenntnisse des Höchstgerichts gegeben. Immer wieder musste sich Adamovich scharfe Kritik von der ÖVP anhören, aber auch von der SPÖ wurden Stimmen laut. „Gegen die Kritik als solche kann man nichts sagen, sondern nur gegebenenfalls gegen die Art und Weise, wie die Kritik ausgeübt wird“, sagt er.

Adamovich über seinen Streit mit Jörg Haider

Der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, spricht über seinen Streit mit dem damaligen Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider (FPÖ). Ausgangspunkt war eine Erkenntnis des VfGH im Jahr 2001, mit dem die 25-Prozent-Klausel für zweisprachige Ortstafeln aufgehoben wurde.

Das sei ja „das Teuflische“. Denn während ein Politiker, wenn er angegriffen wird, in der Regel mit denselben Mitteln zurückschlägt, könne das ein Gericht nicht tun, sagt er. „Es ist wie ein Duell zwischen nassen Fetzen und Florett. Der VfGH kann schon reagieren, aber er muss wissen, wo seine Grenzen sind – und die sind andere als die eines Politikers.“

Sein grundlegendes Amtsverständnis stellte Adamovich übrigens vor mehr als 30 Jahren in einem Vortrag dar: „Bedenken wir, dass wir uns dem Phänomen ‚Recht‘ nur in der Weise des Menschlichen nähern können. Versuchen wir, keine Götter im Talar zu sein. Arbeiten wir als Menschen für Menschen auf der Basis der Grundwerte.“