Mädchen spielt auf einer Konsole
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Kinder allein daheim

Die gute Seite des Gamens

Seit mehr als eineinhalb Monaten können Kinder und Jugendliche ihre Freundinnen und Freunde nicht treffen. Um dennoch Zeit miteinander zu verbringen, verabreden sich viele im Netz. Das ist zwar mit längeren Bildschirmzeiten verbunden, hat aber auch entscheidende Vorteile. „Kinder und Jugendliche brauchen Gleichaltrige“, so die Psychologin Martina Zemp gegenüber ORF.at. Und Freundschaften seien wesentlich für die Gesundheit.

Das Computerspiel „Minecraft“ war schon vor der Coronavirus-Pandemie beliebt. Den ganzen Nachmittag oder die halbe Samstagnacht gemeinsam mit Freunden und Freundinnen im Kinderzimmer zu sitzen und 3-D-Welten aus würfelförmigen Blöcken zu erschaffen ist zurzeit nicht möglich. Doch auch mit räumlicher Trennung kann gemeinsam gezockt werden: Die Spielerinnen und Spieler treffen sich online, gleichzeitig besprechen sie am Telefon die Spielstrategie – und plaudern zwischendurch auch einfach nur.

Neben „Minecraft“ sind etwa das Onlinespiel „Brawl Stars“ und die Spieleplattform „Roblox“ beliebte Treffpunkte, um Zeit „wie früher“ miteinander zu verbringen. Auch die App „Houseparty“, mit der man in einem virtuellen Raum mit anderen Nutzerinnen und Nutzern plaudern und Spiele spielen kann, boomt derzeit.

Teenager mit einem Smartphone
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Immerhin online können Kinder und Jugendliche Zeit mit ihren Freunden und Freundinnen verbringen

Ein bisschen Gedanken machten sie sich schon wegen der Bildschirmzeit, erzählen Eltern einander seufzend, aber „immerhin können die Kinder auf diesem Weg miteinander spielen“. Und genau das ist laut der Autorin und Wissenschaftsjournalistin Lydia Denworth auch der entscheidende Punkt: Zeit miteinander verbringen. Ihr Buch „Friendship“ („Freundschaft“), das unlängst in den USA erschien, handelt vom positiven Einfluss, den Freundschaften auf das psychische und physische Wohlbefinden haben.

Von Rhesusaffen lernen

Seit ihrer Recherche für das Buch blicke sie mit anderen Augen auf Computerspiele und Übernachtungspartys, erzählte Denworth in einem Beitrag für die „New York Times“. Früher seien Computerspiele für sie Zeitverschwendung gewesen. Und mit Übernachtungspartys habe sie in erster Linie viel Lärm und wenig Schlaf verbunden. Ihre Meinung änderte die Autorin, nachdem sie eine Woche in einer Affenkolonie in Puerto Rico verbracht hatte.

Für die Recherche an ihrem Buch über Freundschaft begleitete Denworth dort Primatologen bei deren Arbeit und beobachtete, wie Rhesusaffen Beziehungen pflegen – indem sie eng zusammensitzen und sich gegenseitig das Fell putzen nämlich. Die Forscher hätten festgestellt, dass jene Affen, die die stärksten sozialen Bindungen haben, länger leben, so die Autorin.

Als sie von der Reise nach Hause zurückkehrte, saß ihr Sohn mit seinem besten Freund auf dem Sofa beim Computerspielen. Zeitverschwendung, sei ihr erster Gedanke gewesen. Doch dann habe sie festgestellt, dass die Teenager etwas Sinnvolles taten. Sie saßen eng beieinander – wie die Rhesusaffen in Puerto Rico – und machten „das menschliche Äquivalent zum Fellputzen“: Sie lachten und plauderten und stärkten so ihre Bindung.

Fokus nicht nur auf Bildschirmzeit

97 Prozent der Buben und 83 Prozent der Mädchen in den USA spielten einer Studie des Pew Research Center zufolge im Jahr 2018 Computerspiele. Drei Viertel von ihnen taten das gemeinsam mit Freunden und Freundinnen. Auch das sei eine Form des Zusammenseins, so Denworth. Anstatt ausschließlich auf die Zeitdauer zu achten, die ihre Kinder vor dem Bildschirm verbringen, sollten Eltern fragen, was sie dort tun – und vor allem mit wem. Für sie mache es einen Unterschied, wenn ihr Sohn mit seinem besten Freund im Netz sei.

„Einen guten Freund zu haben und ein guter Freund zu sein, zählt genauso viel oder mehr als die vielen anderen Erfolge, zu denen wir unsere Kinder im Klassenzimmer, auf dem Basketballplatz oder in der Musikschule drängen“, so Denworth. Denn durch Freundschaften mit Gleichaltrigen lernten Kinder soziale Fähigkeiten wie Vertrauen, Loyalität, Konfliktlösung und Versöhnung.

„Kinder brauchen Kinder“

Als „Orte des sozialen Lernens“ beschreibt Martina Zemp Interaktionen mit Gleichaltrigen. Die Pflege von Freundschaften und regelmäßige Kontakte zu Gleichaltrigen seien für die gesunde psychische und körperliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zentral, so die Leiterin des Arbeitsbereichs Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Wien.

Kinder und speziell Jugendliche würden im Moment unter dem fehlenden „realen“ Kontakt mit ihren Freunden und Freundinnen leiden, so Zemp gegenüber ORF.at. „Kinder brauchen Kinder, denn mit gleichaltrigen Bezugspersonen kann ein Austausch auf gleicher Ebene stattfinden.“ Und dieser gestalte sich anders als mit Erwachsenen.

Familie bei einem Brettspiel
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In Zeiten von Ausgangsbeschränkungen bedeutet jedes Geschwisterkind: ein Mitspieler mehr

Zurzeit falle daher „eine sehr wichtige Ressource im Alltag von Kindern und Jugendlichen weg“. Besonders bedeutsam könnte das für Einzelkinder sein, die zu Hause keine Geschwisterkinder zum Spielen und gegenseitigen Austausch haben.

Studie der Uni Wien

Die Coronavirus-Krise bringt neue Herausforderungen und Belastungen für Familien mit sich. Die Fakultät für Psychologie der Universität Wien führt dazu eine Studie durch, an der Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren zusammen mit einem Elternteil teilnehmen können, die berichten wollen, wie sie die aktuelle Situation erleben.

Digitale Kontakte „nicht per se schlechter“

Videotelefonie, Computerspiele, Soziale Netzwerke und andere Onlinetreffpunkte seien für Kinder und Jugendliche aktuell sehr wichtige Optionen und Gelegenheiten für die Pflege ihrer Freundschaften. Diese digitalen Kontakte seien zwar nicht mit analogen Kontakten gleichzusetzen, so Zemp, aber sie seien auch nicht per se schlechter.

„Da der direkte physische Kontakt und analoge Verabredungen fast gänzlich wegfallen, können digitale Medien einen gewissen Ersatz bieten“, so die Psychologin. Denn auch der digitale Kontakt könne Gefühle der Verbundenheit und Solidarität stärken.

Ein kleines bisschen Laisser-faire

Mehr denn je gelte aber in diesen Zeiten: „Medien sollten bewusst und gezielt konsumiert werden.“ Viele Eltern hätten mit ihren Kindern in den letzten Wochen „außerordentliche“ Regeln zur Mediennutzung vereinbart, und das sei auch nicht „generell problematisch“, so Zemp. Es sei nur eine logische Konsequenz der aktuellen Umstände, durch die die Schule und der Kontakt mit Gleichaltrigen online organisiert werden müssten.

„Viele Erwachsene wollen ihren Kindern auch entgegenkommen, weil sie sich bewusst sind, dass Freundschaften für ihre Kinder essenziell sind“, so Zemp. Dennoch brauche es klare Strukturierung und verständliche und konsequente Regeln bezüglich Form, Inhalt und Dauer der Mediennutzung. Bei Jugendlichen sei es etwa sinnvoll, eher strikte Offline-Fenster zu vereinbaren, in denen auch keine Smartphones in der Nähe sind.

Von einer „prinzipiellen Laisser-faire-Haltung“ rät die Psychologin zwar ab, aber Eltern dürften während den Ausnahmezeiten der Coronavirus-Krise auch einmal nachsichtig sein. Denn auch für die Kinder sei die aktuelle Situation „eine sehr große persönliche Herausforderung“.