Zerstörtes Parlament in Wien um 1945
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1945/2020

Das dunkle Erbe der NS-Justiz

In den letzten Kriegstagen im April 1945 hat die Geschichte der Republik Österreich neu begonnen – allerdings mit jeder Menge Ballast. Denn nach sieben Jahren unter der NS-Herrschaft war ein selbstständiger Staat auch mit einer Unabhängigkeitserklärung nicht auf Anhieb vom Nazitum befreit. Das Rechtsleben musste erst einmal entnazifiziert werden.

Die Zukunft Österreichs begann mit der Vergangenheit. Noch bevor der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende gegangen war, kehrte die sich im Aufbau befindende Republik zu ihrer Verfassung von 1920 (Fassung von 1929) zurück. Mit dem Verfassungs-Überleitungsgesetz wurden mit 1. Mai 1945 zudem alle Verfassungsgesetze aufgehoben, die zwischen 1933 und 1945 in Kraft gesetzt wurden. „Österreich befand sich wieder im Zustand vor dem ‚Ständestaat‘ und vor dem NS-Regime“, sagt Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal im Gespräch mit ORF.at.

Das galt aber nur im verfassungsrechtlichen Sinn. Bei einfachen Gesetzen gab es eine solche radikale Rückkehr nämlich nicht. Mit dem Rechts-Überleitungsgesetz (R-ÜG) wurden Bestimmungen aufgehoben, die nach dem „Anschluss“ im März 1938 erlassen wurden und mit einer „echten Demokratie“ unvereinbar waren oder „Gedankengut des Nationalsozialismus“ enthielten.

Die provisorische Staatsregierung der Republik Österreich 1945.
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Die provisorische Staatsregierung unter Karl Renner setzte Österreich teilweise zurück in die Zeit vor dem NS-Regime

Dieser zeitliche Markierungspunkt sei die Folge der Okkupationstheorie gewesen, wonach Österreich infolge der Besetzung durch Nazi-Deutschland handlungsunfähig gemacht wurde und somit das „erste Opfer“ des NS-Reiches war, so Reiter-Zatloukal. „Man knüpfte an die Zeit vor dem ‚Anschluss‘ an, aber behielt alle Bestimmungen, die im ‚Ständestaat‘ erlassen wurden.“

Teils chaotische Überleitung

Dass trotz Opfermythos nicht alle Gesetze des NS-Regimes aufgehoben wurden, lag unter anderem an der Befürchtung, dass im Rechtsleben zu große Lücken entstehen würden, die so schnell nicht geschlossen werden könnten, erklärt Reiter-Zatloukal. In den ersten sechs Monaten wurden knapp tausend deutsche Rechtsvorschriften beseitigt, bis 1947 wurden insgesamt 34 Kundmachungen erlassen – um auch zu sehen, welche Rechtsvorschriften von der Bereinigung betroffen waren.

Zuerst wurden primär der „Rassenpflege“ dienende Vorschriften aufgehoben wie die Nürnberger Rassengesetze – unter anderem das Blutschutzgesetz, das die Ehe zwischen Juden und „Deutschblütigen“ bestrafte – und das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Diese Rechtsvorschriften implizierten klar das Gedankengut der Nationalsozialisten und mussten entfernt werden. Gesetze, gegen die es aber keine Einwände gab, blieben bis „zu einer Neugestaltung“ in Geltung.

Die Rechtsüberleitung verlief allerdings alles andere als problemlos. Nicht jede Vorschrift wurde aufgehoben, nicht jedes Rechtsgebiet neu gestaltet, und kundgemacht wurde auch nicht alles. Der damalige Berater der provisorischen Staatsregierung, Ludwig Adamovich senior, äußerte im Jahr 1946 in der „Österreichischen Juristen-Zeitung“ leise Bedenken an der Umsetzung des Rechtserneuerungsplanes. Es seien in der ersten Etappe (die Rechtsüberleitung, Anm.) Schwierigkeiten aufgetaucht, schrieb der Verfassungsrechtler. Es ließe sich „kein genaues Bild“ über die Vorschriften gewinnen, die aufgehoben sind, und darüber, welche weiter gelten.

Sovietische Truppen vor dem Parlament um 1945
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Als sowjetische Truppen im Frühjahr 1945 in Wien einmarschierten, wurde bereits an der Zweiten Republik gewerkt

Ehegesetz aus der NS-Zeit

Im Laufe der Jahre wurde Kritik laut, dass Bestimmungen aus der NS-Zeit weiterhin in Kraft sind. In den 1980er Jahren seien es mehr als 100 an der Zahl gewesen, so Reiter-Zatloukal. Bei der Rechtsbereinigung 1999 wurden über 60 davon von der Aufhebung ausgenommen. Sie gelten quasi als NS-ideologiebefreit. Zu den bekanntesten Beispielen zählt das Eherecht. Bis 1938 gab es für Katholiken keine Eheauflösung dem Bande nach (Scheidung).

Erst mit dem Ehegesetz des NS-Regimes war es auch dieser Bevölkerungsgruppe möglich, sich wegen eines bestimmten Grundes scheiden zu lassen – eine insofern längst überfällige Modernisierung. 1945 wurden die rassistischen Bestimmungen aufgehoben, und in weiterer Folge erfuhr das Gesetz mehrere Novellierungen.

Buchhinweise

  • Kurt Heller: Der Verfassungsgerichtshof. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart. Verlag Österreich, 668 Seiten, 80 Euro.
  • Claudia Kuretsidis-Haider, Winfried Garscha: Keine „Abrechnung“. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945. Akademische Verlagsanstalt, 488 Seiten, 67 Euro.

Für Reiter-Zatloukal ist es unverständlich, warum das Ehegesetz in den letzten 75 Jahren nicht wiederverlautbart wurde und „damit zumindest vom evidenten Stigma der NS-Provenienz befreit wurde“. Ihr Kollege am Institut für Verfassungs- und Rechtsgeschichte an der Universität Wien, Thomas Olechowski, ist derselben Meinung. In einem „Presse“-Gastkommentar hielt er 2018 fest, dass sich die verbindliche Kundmachung des Ehegesetzes nach wie vor im Deutschen Reichsgesetzblatt findet und bis heute die Unterschriften von Adolf Hitler und seinem Reichsjustizminister Franz Gürtner trägt.

Als weiteres Relikt aus der Zeit des Nationalsozialismus gilt der Kirchenbeitrag. Zwar sei die Möglichkeit, dass anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften Beiträge einheben können, keine Erfindung der Nazis, wie Reiter-Zatloukal betont. Das sei schon unter anderem durch das Staatsgrundgesetz 1867 möglich gewesen. „Die Einhebung war aber bis 1939 nicht notwendig, weil die Kirche staatlich finanziert wurde. Doch das NS-Regime stellte alle Zuschüsse ein, die Kirche sollte sich durch ihre Mitglieder finanzieren. Damit erhofften sich die Nazis, dass die Zahl der Kirchenaustritte steigt.“

Mittlerweile seien nationalsozialistische Formulierungen weitestgehend aus der österreichischen Rechtsordnung entfernt worden, sagt die Rechtshistorikerin. Allerdings stehe die Beibehaltung von Rechtsvorschriften aus der NS-Zeit und der bis in die Gegenwart reichende augenscheinliche Unwillen zur Wiederverlautbarung von NS-Gesetzen wie den Ehegesetz 1938 im klaren Widerspruch zur Intention des Rechts-Überleitungsgesetzes. Das zeuge auch „von einer beachtlichen Insensibilität im Umgang mit deren nationalsozialistischer Vergangenheit.“

Personalengpass und Entnazifizierung

Zu den Problemen des Rechtsstaat 1945 zählte neben Rechtsüberleitungsfragen auch die Personalnot in der Justiz. „Zu Beginn der Zweiten Republik stand die Entnazifizierung im Vordergrund. Aber hätte man alle Nationalsozialisten aus der Justiz entfernt, hätte sich die ohnehin bestehende extreme Personalknappheit so verstärkt, dass ein Zusammenbruch der Justiz befürchtet wurde“, erklärt die Expertin.

Nachdem es überall Personalengpässe gab, habe die Entnazifizierung in Österreich im Laufe der ersten Jahre ohnehin unter „ferner liefen“ rangiert. Mit dem Nationalsozialistengesetz 1947 wurde die Entlassung von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern nur mehr auf „Belastete“ beschränkt, also Personen, die eine höherer Funktion innegehabt hatten. „Minderbelastete“ (einfache NSDAP-Mitglieder) konnten im öffentlichen Dienst bei Bedarf und nach besonderer Prüfung ihres politischen Verhaltens vor dem 27. April 1945 verwendet werden.

Hunderte Personen mit NSDAP-Vergangenheit seien als Richter und Staatsanwälte wieder zugelassen worden. „Schon drei Jahre nach dem Ende des NS-Regimes waren die Anfangserfolge der Entnazifizierung wieder weitgehend rückgängig gemacht“, resümiert Reiter-Zatloukal.