Menschen mit Gesichtsmasken auf Treppen in Athen
AP/Petros Giannakouris
Griechenland

Aus der Not heraus zum CoV-Musterschüler

Vorausschauendes Handeln, strenge Maßnahmen, schrittweise Lockerungen: Griechenland verzeichnet bisher nur wenige Coronavirus-Infektionen und auch wenige -Tote. Das einstige Sorgenkind Europas entpuppt sich gerade während der Pandemie als Musterschüler. Doch gibt es Faktoren, die die Bestnote trüben könnten.

Rund 140 Menschen sind in Griechenland mit seinen 10,7 Millionen Einwohnern bisher nach einer Infektion mit dem Coronavirus gestorben. Vergleicht man diese Zahl mit anderen Ländern Europas, ist das äußerst wenig. Italien und Spanien etwa haben jeweils Zigtausende Tote zu beklagen und sind unter den Ländern mit den höchsten Todesraten. In Österreich gab es mit Stand Mittwoch 554 Coronavirus-Todesfälle, auch das ergibt eine höhere Todesrate als in Griechenland.

Schneller als andere Staaten der EU hat Griechenland reagiert. Bereits im Februar, als der erste Fall auftauchte, verbot die Regierung des konservativen Regierungschefs Kyriakos Mitsotakis Faschingsumzüge. Im März folgten Schulschließungen, danach die Schließungen aller Kaffee- und Gasthäuser. Seit über fünf Wochen gilt eine strenge Ausgangssperre. Außer zur Arbeit oder zum Lebensmittelkauf dürfen die Griechinnen und Griechen nicht außer Haus. Kurz spazieren gehen ist aber erlaubt.

Grafik zeigt die an Covid-19 gemeldeten Verstorbenen pro 100.000 Einwohnern in mehreren Ländern
Grafik: ORF.at, Quelle: Johns Hopkins University

Diese Maßnahmen wurden mit Hilfe eines der Topexperten Europas in dem Fach erstellt, mit dem Virologen Sotiris Tsiodras. Er leitet die griechische Coronavirus-Expertengruppe, die die Regierung berät. Mitsotakis hatte Sotiris laut ARD-Berichten schon Ende vergangenen Jahres zu seinem Sonderberater ernannt.

Alles hört auf Tsiodras

Jeden Abend um 18.00 Uhr tritt der 55-Jährige vor die Kameras, liest die Zahlen vor, berichtet über neue Entwicklungen und gibt Ratschläge sowie Erklärungen, wie man sich schützen kann und warum man das tun soll. „Wir dürfen jetzt nicht fahrlässig werden“, warnte er zuletzt die Bevölkerung, „sonst könnten wir alles zunichtemachen, was wir bisher erreicht haben.“

Griechischer Infektologe Sotiris Tsiodras
Reuters/Stelios Misinas
Chefvirologe Tsiodras berät den Premier in Sachen Coronavirus

Tsiodras war es auch, der der Regierung geraten hatte, Geschäfte und Schulen noch geschlossen zu halten, um die Spitäler nicht zu überlasten. Öffentliche Einrichtungen, beispielsweise Krankenhäuser, leiden in Griechenland immer noch an den Folgen der Staatsschuldenkrise der 2010er Jahre.

Breite Zustimmung in Bevölkerung

Doch hatte Mitsotakis in den letzten Wochen Tausende Ärztinnen und Ärzte neu eingestellt und die Intensivstationen ausgebaut. Kein Coronavirus-Patient habe abgewiesen werden müssen, und das werde auch so bleiben, versprach der Regierungschef in einer Fernsehansprache Dienstagabend. Das Gesundheitssystem sei gut gerüstet, so Mitsotakis weiter. „Das gute Wetter wird uns erlauben, mehr Zeit draußen zu verbringen. Und das Wichtigste: Die Bürger sind sensibilisiert, gut informiert. Sie wissen genau, was sie tun können und was sie lieber lassen sollen.“

Leere Straßen in Athen
APA/AFP/Angelos Tzortzinis
Leere Straßen in Athen gehören mittlerweile zum Alltag

Über 85 Prozent der Griechinnen und Griechen loben das Krisenmanagement ihrer Regierung. Da sich die Bevölkerung vorbildlich an die Regeln gehalten habe, kündigte Mitsotakis für 4. Mai Lockerungen an. Schritt für Schritt, wie er sagte. Friseursalons, Elektrogeschäfte und Buchhandlungen dürfen wieder aufmachen. Zudem darf man dann wieder ohne Einschränkungen auf die Straße. Der Unterricht für die Schülerinnen und Schüler der letzten Klasse des Gymnasiums soll am 11. Mai wieder beginnen.

Schwere Folgen für Tourismus erwartet

Erst später sollen auch die größeren Geschäfte und Einkaufszentren wieder aufmachen und die restlichen Schulklassen folgen. Im Juni dürfen stufenweise auch die Hotels wieder öffnen. Der Neustart des internationalen Flugverkehrs muss innerhalb der EU besprochen werden. Dass der Tourismus als Letztes kommt, bereitet allerdings Wirtschaftsexpertinnen und -experten Sorgen. Schließlich lebt Griechenland vom Tourismus. Das Hotelgewerbe und der Tourismus sowie die damit verbundenen Betriebe wie Tavernen, Bars, Busunternehmen, die Einnahmen der archäologischen Stätten sowie die Landwirtschaft, die die Hotels beliefert, machen etwa 30 Prozent der griechischen Wirtschaft aus.

Da die Reisebeschränkungen in vielen europäischen Ländern auch in der Hauptsaison aufrechterhalten bleiben, könnten in der Folge Hunderttausende Griechinnen und Griechen ihren Job verlieren. Hotels könnten in die Pleite stürzen. 65 Prozent der Tourismusbetreiber und -betreiberinnen fürchten, dass ihre Unternehmen bankrottgehen werden. Dies ist das Ergebnis einer Umfrage, die das Tourismusforschungsinstitut der Hotelierkammer Griechenlands bereits Anfang April vornahm.

Der Präsident des Verbandes der griechischen Reiseagenturen, Apostolos Tsilidis, bezifferte die Verluste des Tourismusbereichs für Griechenland auf bis zu 22 Milliarden Euro. Die griechische Regierung werde daher mit einem umfangreichen Finanzpaket und anderen Maßnahmen dem Bereich helfen, diese Zeit zu überstehen, um nächstes Jahr einen Neustart zu machen, sagte Mitsotakis am Donnerstag im Parlament.

„Es wird ein schwerer Schlag (für den Tourismus) sein.“ Das griechische Fernsehen übertrug die Rede von Mitsotakis. Griechenlands Tourismus hatte in den vergangenen Jahren wesentlich dazu beigetragen, dass die schwere Finanzkrise überwunden wurde. 2019 kamen nach Angaben der Hotelierkammer 33 Millionen Touristinnen und Touristen nach Griechenland.

Flüchtlingslager komplett überfüllt

Unterdessen überschlagen sich nahezu täglich die Nachrichten aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln. Was überall sonst im Land gilt, scheint dort ausgesetzt: Unmöglich sei es, Abstandsregeln und dergleichen einzuhalten, wie etwa der grüne Europaabgeordnete Erik Marquart vor Kurzem auf Twitter schrieb. Die griechische Regierung hatte eigentlich geplant, mehr als 2.300 Flüchtlinge von den Inseln auf das Festland zu bringen, darunter viele ältere und kranke Menschen. Die Aktion verzögerte sich aber wegen der Pandemie.

Rund 36.000 geflüchtete Menschen leben derzeit auf den Inseln Lesbos, Samos und Chios. Die offizielle Kapazität auf allen Inseln zusammen beträgt knapp 6.200 Plätze. Einige der Lager stehen unter Quarantäne, weil ein Coronavirus-Ausbruch befürchtet wird. Auf Chios brachen gewaltsame Proteste aus, nachdem eine Irakerin nach tagelangem Fieber gestorben war. In dem Flüchtlingslager auf Samos brannte es zuletzt mehrmals, auch in Moria auf Lesbos gibt es immer wieder Proteste.

Die Lage spitzt sich zu – und Europa sehe zu, urteilen Kritikerinnen und Kritiker. Denn das Problem zu lösen liege nicht allein bei Griechenland, sondern bei der EU. Die Mitgliedsländer streiten seit Jahren über eine gemeinsame Asylpolitik. Eine Einigung scheitert vor allem an der Verteilung von Asylwerberinnen und Asylwerbern auf alle Länder. Österreich sowie Polen und Ungarn lehnen es auch in der Coronavirus-Krise ab, sich zur Aufnahme zu verpflichten.