Älteres Paar sitzt in Zuschauerreihen
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Schutz vs. Diskriminierung

Ältere „nicht über einen Kamm scheren“

Die internationalen Zahlen zeigen es: Ältere Menschen sind einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt, mit einem schwereren Verlauf an der Lungenkrankheit Covid-19 zu erkranken. Man dürfe Ältere aber „nicht über einen Kamm scheren“, warnte der Altersforscher Franz Kolland im ORF.at-Gespräch. Es gäbe in dieser Gruppe große Unterschiede.

Der verallgemeinernde Aufruf, dass insbesondere alle über 65-Jährigen zur Risikogruppe zählen, wirke sich auf diese Menschen aus, so der Soziologe. „Jetzt bin ich alt“, lautete etwa eine Reaktion einer 67-Jährigen zu Beginn des „Lock-down“, der ja vom Aufruf „Schützt die Älteren“ begleitet war. Bis dahin zählte die Seniorin sich eigentlich nicht zu den „Alten“. Diesen Perspektivenwechsel beobachtet auch Kolland.

Er geht davon aus, dass die Coronavirus-Krise die Menschen älter gemacht hat: „Mit zunehmendem Alter fühlt man sich üblicherweise sechs bis acht Jahre jünger. Das hat positive Auswirkungen auf die Gesundheit, weil man mehr tut.“ Fällt dieses Gefühl weg, habe das gesundheitliche Folgen.

„Zu Inaktivität verurteilt“

Mit einem Team an der privaten Karl-Landsteiner-Universität untersucht er derzeit im Auftrag des Landes Niederösterreich die Auswirkungen von „Social Distancing“ im Alter aufgrund der CoV-Krise: „Wir haben die Vermutung, dass durch die starke Adressierung der Alten als Risikogruppe diese zu Inaktivität verurteilt wurden und nun das subjektive Gefühl haben, gealtert zu sein.“ Aufgrund ihres gesundheitlichen Zustands zählen etwa nicht alle 75-Jährigen zur Risikogruppe, ist Kolland überzeugt. Durch die erzwungene Passivität bestehe aber die Gefahr, eine Risikogruppe zu erzeugen.

Älterer Mann liest auf Couch sitzend Zeitung
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Soziale Kontakte und kognitive Herausforderungen sind entscheidend für gesundes Altern

Zudem würde die „Fremdstereotypisierung oft in das eigene Bild von sich übernommen“, erklärte Kolland, der auch an der Universität Wien tätig ist. Das bewirke eine ungünstige Reaktion, wirke sich auf das Verhalten aus und könne zu einem Anstieg von Depressionen führen. Kolland zeigte sich positiv überrascht, dass es im Zuge der CoV-Maßnahmen „kein Altenbashing“ gab: „Ich hatte Schlimmstes befürchtet.“ Der Schutzaufruf sei aber dennoch eine Diskriminierung, wenn auch eine positive.

„Kollektive Entmündigung“

Der deutsche Altersmediziner Johannes Pantel spricht sogar von einer Tendenz zu einer „kollektiven Entmündigung“. Das Bild, dass die Gesellschaft die Senioren schützen müsse, suggeriere, dass die Senioren alle schutzlos und nicht für sich selbst entscheidungsfähig seien, begründete er seine Argumentation in einem Interview mit dem „Spiegel“: „Manche Senioren mögen körperlich eingeschränkt sein, aber die meisten sind nicht dement.“

Die 86-jährige Helga Witt-Kronshage beschreibt dieses Gefühl im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) aus ihrer eigenen persönlichen Situation: „Das (die Isolation, Anm.) ist kein Schutz. Das ist eine Qual.“ Die Pensionistin leidet an Vorerkrankungen und lebt im Pflegeheim. Dort durfte sie zuletzt ihr Zimmer kaum verlassen, keine Besuche empfangen und musste immer alleine essen. Das Schlimmste sei nicht die Einsamkeit, sagt die 86-Jährige. „Aber niemand hat mich gefragt, ob ich meine letzte Lebenszeit so verbringen will.“

Soziale Interaktion notwendig

Auch Kolland verweist auf die unterschiedliche Bedeutung von Zeit im Alter: „Für 80-Jährige bedeutet jede Woche, in der er etwas nicht darf, einen massiven Einschnitt. Wenn man sie beschneidet, nimmt man ihnen viel mehr als Menschen in jüngeren Jahren.“ Im Alter brauche man kognitive Herausforderungen und soziale Kontakte. Kolland: „Wenn wir das nicht zulassen, ziehen sich die Älteren zurück.“ Dadurch entstünden körperliche wie psychische Probleme.

Im Alter erlebe man mit sozialen Beziehungen Sinn, so Kolland, über die Kontakte zur Familie wie auch über die Freiwilligentätigkeit. Diese müsste man nun wieder mehr in den Vordergrund stellen und die Tätigkeiten wieder aufnehmen. Kolland: „Es gibt derzeit dazu keine Regeln und Hinweise. Wie kann man wieder zur Freiwilligentätigkeit zurückkehren? Welche Maßnahmen müssen dafür gesetzt werden?“

Es sei auch problematisch, über einen langen Zeitraum die Kontakte zur Familie zu kappen. Bei rund 60 Prozent der über 60-Jährigen könne man das zumindest vorübergehend mit Videochats kompensieren, so Kolland. 40 Prozent dieser Gruppe verfügen aber über keinen Internetzugang: „Da wird die Distanz auf Dauer hochproblematisch.“

Nur Ältere isolieren?

Berichte aus Frankreich und Italien, wonach in Spitälern bei Behandlungsengpässen jüngeren Covid-19-Patienten der Vorzug gegeben wurde, und die Sorge, dass bei weiterem Andauern der Coronavirus-Krise Ältere stärker isoliert werden könnten, schürt Unsicherheit bei der älteren Generation. Aussagen wie die des deutschen Oberbürgermeisters in Tübingen, Boris Palmer, dass in Deutschland möglicherweise Menschen gerettet werden, „die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, vergrößern die Unsicherheit.

Aus Sicht der Alterswissenschaft ist Zurückhaltung bei der Kategorisierung in Junge und Alte gefragt, betont Kolland. Man könne auch bei einer allfälligen zweiten Welle nicht alte oder bestimmte Gruppen alleine isolieren. Kolland: „Solche Restriktionen einzuführen, sollte man sich dreimal überlegen und dann durch die Hervorhebung der Leistung und des Verdiensts von Älteren für die Gesellschaft begleiten.“

Der Soziologe Bernhard Weicht von der Universität Innsbruck sieht mit dem Schutzaufruf für die Risikogruppe die Abgrenzung zwischen alten, pflegebedürftigen oder kranken Menschen und dem Ideal der Jungen, Aktiven, Unabhängigen weiter verschärft. Das könnte in weiterer Folge den sozialen Zusammenhalt gefährden, warnt der Forscher – mehr dazu in tirol.ORF.at.

Fühlen sich wie „weggesperrt“

Man dürfe die Risikogruppe auch nicht nur unter dem Parameter Alter sehen, betont der Mediziner Hans-Peter Hutter vom Zentrum für Public Health an der MedUni Wien. Denn ein erheblicher Anteil der Bevölkerung, rund ein Drittel der Erwachsenen, zähle eigentlich auch aufgrund von Vorerkrankungen zur Risikogruppe.

Wenn man nur die Risikogruppe stärker isolieren wolle, müsste man diese Beschränkungen auf eine große Gruppe anwenden. Hutter: „Das ist eine gesellschaftspolitische Entscheidung. Aus medizinischer Sicht ist so eine Herangehensweise nicht vertretbar.“ Schon jetzt fühlten sich einige Betroffene der älteren Generation wie „Aussätzige“ und „weggesperrt“, so Hutter.

Nicht auf Selbstbestimmung „vorbereitet“

Ob in Zukunft bei den CoV-Maßnahmen stärker zwischen einzelnen Gruppen unterschieden werden soll, konnte das Sozialministerium gegenüber ORF.at nicht beantworten. Für die Gestaltung des privaten Alltags nach Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen setzt die Regierung jedenfalls auf Eigenverantwortung. Kolland begrüßt diesen Zugang: „Selbstbestimmung und Autonomie sind unser höchstes Ziel.“ Diese Selbstbestimmung erfordere aber Kompetenz: „Die Krise zeigt uns, dass wir darauf nicht vorbereitet sind.“