Fest steht bereits: Die Coronavirus-Pandemie hat die Textilindustrie auf zahlreichen Ebenen tief getroffen. Viele Konzerne mussten die Produktion einstellen, Händler waren und sind aufgrund strenger Ausgangsbeschränkungen gezwungen, ihre Geschäfte zu schließen, vor allem aber sieht ein großer Teil der üblichen Kundschaft zurzeit keinen Bedarf für neue Kleidung. Vereinzelt machten Labels wie Prada und Louis Vuitton aus der Not auch eine Tugend, indem sie kurzerhand Schutzausrüstung produzieren ließen.
„Sie (die Pandemie, Anm.) hat eine reale existenzielle Krise für die Modeindustrie ausgelöst“, sagte Imran Amed, Gründer und CEO des Fachmagazins „Business of Fashion“ („BoF“), gegenüber der BBC. „BoF“ veröffentlichte angesichts der Krise jüngst einen Bericht. Mit J.Crew und Neiman Marcus mussten in den USA bereits die ersten Moderiesen Anfang Mai Gläubigerschutz beantragen. Hierzulande mussten indes einige der 57 Filialen der insolventen deutschen Textilkette Colloseum schließen, auch Airfield und Stefanel sind pleite.

Riesiger Umsatzeinbruch erwartet
Das Problem: Die Branche sei nach wie vor fast ausschließlich vom – nun stark eingeschränkten – physischen Verkauf abhängig, so Amed. „Mehr als 80 Prozent der Transaktionen in der Modeindustrie finden in physischen Geschäften statt“, so Amed. Dazu komme, dass viele Kundinnen und Kunden nun einfach nicht daran interessiert seien, einzukaufen. „Mode wird zu einem Nebengedanken, oder ist im Kontext von all dem gerade gar keinen Gedanken wert“, sagte er.
Laut einer ersten Prognose des „BoF“-Berichts werde der Umsatz der globalen Modeindustrie – Bekleidungs- und Schuhsektor zusammengerechnet – heuer um 27 bis 30 Prozent schrumpfen. Der Luxusgüterindustrie winke gar ein Rückgang von 35 bis 39 Prozent. Bleiben die Geschäfte zwei Monate lang geschlossen, dann würde das laut Bericht 80 Prozent der börsennotierten Unternehmen in Europa und Nordamerika in eine finanzielle Krise stürzen. Dem McKinsey Global Fashion Index zufolge waren finanziell schon 2018 mehr als die Hälfte der großen Konzerne stark unter Druck geraten. Allein der Umsatz der H&M-Gruppe brach im März um 46 Prozent im Vergleich zu Februar ein.
Topmanager hoffen auf Onlinegeschäft
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam jüngst eine Befragung von 25 Topmanagern durch die Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG). Diese gehen heuer von Umsatzeinbrüchen von 20 bis 25 Prozent aus. Noch deutlicher als der Umsatz – nämlich um 35 bis 40 Prozent – werde das operative Ergebnis (Ebitda) einbrechen, prognostizierten die Manager. Die Modebranche kommt weltweit BCG zufolge auf einen Umsatz von 1,35 Billionen Euro.
Eine Chance zur Schadensbegrenzung sehen die befragten Manager im Ausbau des Onlinegeschäfts. Hier seien Umsatzsteigerungen von zehn Prozent möglich, was aber nicht ausreicht, die generellen Ausfälle wettzumachen. Bisher entfallen rund 23 Prozent der Modeumsätze auf das Internet. Mehr als die Hälfte der Befragten zeige sich skeptisch, dass das Modegeschäft rasch wieder das Vorkrisenniveau erreichen wird.

Wenn sich die alten Kollektionen stapeln
Eine brennende Frage ist aufgrund der niedrigen Verkaufszahlen auch, was mit den bereits gelagerten, riesigen Mengen an unverkaufter Kleidung passiert – und mit jener, die noch dazu kommt. Denn Kleidung muss grundsätzlich ein halbes Jahr vor Verkauf bestellt sowie bezahlt werden. „Für uns war der Zeitpunkt des ‚Shut-downs‘ der denkbar ungünstigste, weil er zu Beginn einer neuen Saison kam“, sagte Jutta Pemsel, Branchensprecherin für den Bekleidungs-, Schuh-, Leder- und Sporthandel in der Wirtschaftskammer. Die Frühjahrsmode lasse sich mit Wochen Verspätung kaum mehr verkaufen.
Einige Riesen der Industrie – darunter Topshop, Gap und H&M – setzten daher bereits auf große Rabattaktionen, um den Überschuss an Ware in den Lagerhäusern loszuwerden. Amed zufolge werde das einige Zeit anhalten. „Der nächste Schlussverkauf steht schon vor der Tür“, sagte auch Pemsel. Ein Blick auf diverse Onlinehändler zeigt indes, auf welches Pferd gerade gesetzt wird – Loungewear, vor allem Jogginganzüge, die aktuell ohnehin ein Revival erleben.
Man müsse aber auch bedenken, dass es zwei Hemisphären gebe – „wenn es an einem Ort Sommer ist, ist es an einem anderen Winter“, so Amed, „Und ich denke, es gibt kreative Wege, diese Kollektionen zu redistributieren.“ Ihm zufolge würden einige Labels bereits darüber nachdenken, ihre heurigen Frühjahr/Sommer-Kollektionen einfach 2021 zu verkaufen. Die Trendfrage stehe ihm zufolge heutzutage ohnehin nicht mehr so im Vordergrund als das noch vor zehn bis 15 Jahren der Fall war.
Virtuelle Modewochen?
Unklar ist auch noch, was die Krise für die Modeschauen in Paris, Mailand, London und New York bedeutet. „Die nächste Runde an Fashionshows werden virtuelle Fashionshows sein. Daran gibt es keinen Zweifel“, schreibt die „New York Times“. Die Modewoche in London werde als dreitägiges Onlineevent im Juni abgehalten, hieß es. Die Männermodemesse in Mailand, die ebenso im Juni hätte stattfinden sollen, wurde hingegen abgesagt. Spekuliert wird zudem, ob Shows einfach ohne Gäste als Livestream verfügbar gemacht werden.
Mit der Met Gala in New York fiel indes auch eines der prestigeträchtigsten Events der Modeszene heuer aus. Sie findet für gewöhnlich stets am ersten Montag im Mai statt. Die Organisatoren ließen es sich allerdings nicht nehmen, zu Ehren des Events zu einer Challenge aufzurufen. Unter dem Hashtag „#MetGalaChallenge“ sollten Userinnen und User ihre liebsten Outfits der vergangenen Jahre rekreieren – ein Aufruf, dem bereits einige folgten.
Anna Wintour, Chefredakteurin der US-Vogue, sieht in der Krise auch eine Chance: „Ich denke, für uns alle ist es eine Möglichkeit, einen Blick auf unsere Industrie und einen Blick auf unsere Leben zu werfen, und um unsere Werte zu überdenken, und um wirklich über den Müll, und die riesigen Mengen an Geld, und den Konsum, und den Überschuss, in den wir uns alle gesuhlt haben, nachzudenken, und auch darüber, wofür unsere Industrie wirklich steht.“ Die Modeindustrie gilt als eine der größten Umweltsünder – jährlich werden fast 1,2 Milliarden Tonnen an CO2-Emissionen produziert (Stichwort „Fast Fashion“).
Nähmaschinen stehen still
Existenzbedrohend ist die Krise nicht zuletzt für die zahlreichen in Bekleidungsfabriken in Asien oder auch in Italien – viele davon illegale Arbeiterinnen und Arbeiter aus China – tätigen Personen. Denn einige internationale Firmen stornierten Aufträge in Milliardenhöhe, nachdem sie ihre Geschäfte zur Eindämmung der Pandemie schließen mussten. Für Fabriksarbeiterinnen und -arbeiter bedeutet das, dass der Lohn ausbleibt. Frauen gelten dabei als besonders hart betroffen – in asiatischen Ländern wie Bangladesch machen sie den größten Teil der Textilarbeiter aus.

Zahlreiche Labels würden sich ihren Zulieferern nun solidarisch zeigen, berichtet „Vogue Business“. Eine Gruppe an Arbeitgeberorganisationen, Gewerkschaften und Modelabels arbeiten mit der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO (ILO) zusammen. Großhändler, unter anderem H&M und die Zara-Mutter Inditex, haben sich dazu verpflichtet, die Hersteller für fertige Waren sowie für Waren in Produktion weiter bezahlen.
Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es für die Textilbranche dennoch – denn einige Länder wie Österreich lockern ihre strikten Maßnahmen im Kampf gegen das Virus bereits. Bis die Nachfrage wieder das Niveau vor der Krise erreicht, dürfte es Experten zufolge aber noch dauern. So sei hierzulande die erste Öffnungswoche seit dem „Shut-down“ schlecht gelaufen, räumte Pemsel im April ein – große Modeketten von H&M bis Zara hatten zu dem Zeitpunkt noch nicht geöffnet. Auch der Modehandel in Deutschland kam einer aktuellen Marktanalyse des Branchenfachblatts „Textilwirtschaft“ zufolge trotz der Wiedereröffnung vieler Geschäfte nur schleppend in Gang. Amed ist sich sicher: „Im Laufe des Jahres werden wir eine Pleitewelle erleben.“