Französische Flagge an einem Balkon in Paris
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Frankreich

Nach CoV-Krise droht soziale Krise

Mit bisher über 25.000 Toten ist Frankreich eines der am stärksten vom Coronavirus betroffenen Länder der Welt. Doch nicht nur die gesundheitlichen Folgen der Pandemie sind enorm: Fachleute warnen vor einem heftigen Wirtschaftseinbruch und einer sozialen Krise.

Seit Mitte März gilt in Frankreich eine Ausgangssperre. Wer sein Zuhause verlässt, muss einen Passierschein mit sich führen. An die frische Luft zu gehen ist zwar erlaubt, allerdings nur eine Stunde pro Tag und das in einem Umkreis von maximal einem Kilometer rund um den Wohnort. Parks und Spielplätze, Theater, Kinos und Freizeiteinrichtungen, Restaurants und Bars, Fabriken sowie die meisten Geschäfte sind geschlossen.

Während in Österreich und anderen Ländern Europas die Maßnahmen zur Eindämmung des Erregers vorsichtig Schritt für Schritt zurückgenommen werden, müssen sich Frankreichs Bürgerinnen und Bürger noch gedulden. Am 11. Mai sollen, sofern die Infektionszahlen stabil bleiben, die Geschäfte nach achtwöchiger Sperre wieder öffnen dürfen. Um die arbeitenden Eltern zu entlasten, werden ab diesem Tag die Betreuungsstätten für die Kleinsten aufgesperrt. Auch Kindergärten und Volksschulen nehmen ihren Betrieb zumindest teilweise auf. Das Hochfahren des öffentlichen Lebens findet unter strengen Auflagen statt. In öffentlichen Verkehrsmitteln gelten strikte Abstandsregeln und Schutzmaskenpflicht.

Statue mit aufgesetzter Gesichtsmaske vor dem Eiffelturm
Reuters/Benoit Tessier
Frankreichs Regierung will eine Schutzmaskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln einführen

Die Folgen der Ausgangssperre für die Wirtschaft sind beträchtlich. Frankreichs Regierung geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes im zweiten Quartal um acht Prozent sinken wird. Fachleute rechnen mit einem noch größeren Einbruch. Das BIP könnte zwischen März und Juni um ein Viertel zurückgehen, sagte Eric Beyer, Ökonom am Pariser Beratungsinstitut OFCE, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“). „Das ist das schlechteste Szenario. Im besten Fall dürften wir ein Minus von 13 Prozent haben“, so Beyer.

Kleine Unternehmen besonders getroffen

In der Krise hat auch Frankreich ein Kurzarbeitsmodell eingeführt. Mehr als elf Millionen Menschen – fast 60 Prozent aller Beschäftigten im privaten Sektor – erhalten laut „FAZ“ derzeit Geld aus diesem System. Die Kosten gehen in die Milliarden. Ab Juni soll das Modell der Zeitung zufolge zurückgefahren werden. Wie schnell sich die Wirtschaft erholen kann, ist unklar. Die Automobil- und die Luftfahrtbranche hat die Krise mit voller Wucht erwischt. Nach wochenlangem Stillstand kündigte Peugeot PSA an, die Fahrzeugproduktion ab nächster Woche langsam starten zu wollen. Federn lassen musste auch die Luxusgüterindustrie.

Frankreichs große Konzerne können im Fall des Falles auf Rettung durch den Staat hoffen. Besonders hart treffen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie indes kleinere und mittlere Unternehmen. Tausende Betriebe könnten in die Pleite schlittern. Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Gastronomie. Wann Restaurants, Bars und Kaffeehäuser wieder aufsperren dürfen, wird laut Frankreichs Premier Edouard Philippe erst Ende Mai entschieden.

Airbus-Werk in Toulouse
Reuters/Jean Philippe Arles
Die Krise trifft Frankreichs traditionell starke Luftfahrtindustrie hart

CoV zeigt Kluft zwischen Arm und Reich

Der Wirtschaftseinbruch könnte die bereits bestehende soziale Krise in Frankreich weiter anheizen, warnten Fachleute. In der Pandemie zeigt sich die Kluft zwischen Arm und Reich in aller Deutlichkeit. In Seine-Saint-Denis nordöstlich von Paris lag die Todesrate in der letzten Märzwoche über 30 Prozent höher als im Rest des Landes. Das Department, Teil der berüchtigten Banlieue rund um die französische Hauptstadt, ist gekennzeichnet durch seine Wohnsilos, in denen die Menschen dicht an dicht leben.

Viele der Bewohnerinnen und Bewohner von Seine-Saint-Denis sind zugewandert oder haben Wurzeln im Ausland. Die soziale Stigmatisierung entlädt sich immer wieder in Gewalt. Im Herbst 2005 kam es in den Städten des Departements tagelang zu Krawallen zwischen Jugendlichen und der Polizei. In der CoV-Pandemie entbrannte eine Diskussion darüber, ob die Bewohnerinnen und Bewohner die Ausgangssperren auch einhalten.

Nach Brandanschlag beschädigte Schule in Gennevilliers bei Paris
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Mitte April kam es in den Pariser Vorstädten zu Unruhen, in der Stadt Gennevilliers legten Randalierer einen Brand in einer Schule

Befeuert wurde die Debatte Anfang April durch einen Überraschungsbesuch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Pantin, der Hauptstadt des Departments Seine-Saint-Denis. Der Staatschef wurde rasch von einer Menschenmenge umringt, machte Selfies mit Fans und genoss das Bad in der Menge. Weder er selbst noch seine Leibwächter trugen Gesichtsmasken. In Pantin herrsche „absolut kein Respekt für die soziale Distanzierung und die Ausgangssperre, und das vor dem Präsidenten der Republik“, kritisierte Marine Le Pen vom rechtspopulistischen Rassemblement National (RN).

Wie fragil die Stimmung in den Pariser Vororten ist, zeigte sich Mitte April. Nachdem ein vorbestrafter Mann bei einer Polizeikontrolle schwer verletzt wurde, lieferten sich Jugendliche in Villeneuve-la-Garenne Straßenschlachten mit der Polizei und setzten Autos in Brand. Die Krawalle breiteten sich rasch auf andere Kommunen rund um die Hauptstadt aus. In der Stadt Gennevilliers versuchten Randalierer, eine Schule anzuzünden.

Regierung unter Druck

Der Ausbruch des Coronavirus traf Frankreich in einer politisch heiklen Phase. Die Proteste der „Gelbwesten“ waren nach Monaten abgeklungen. Dafür regte sich neuer Widerstand, dieses Mal gegen die geplante Pensionsreform, ein Prestigeprojekt Macrons. Das Vorhaben wurde ob der wirtschaftlichen Entwicklung auf Eis gelegt.

Bei den Anstrengungen gegen CoV hatte Macron anfangs auf martialische Rhetorik gesetzt. „Wir sind im Krieg“, erklärte der Staatschef in einer Fernsehansprache. Doch je länger die Krise dauerte, desto mehr geriet die Regierung wegen Fehlern im Krisenmanagement unter Druck. Das Gesundheitssystem geriet in einigen Landesteilen ans Limit. In ganz Frankreich gab es einen eklatanten Mangel an Schutzausrüstung, was zu Infektionen unter medizinischem und Pflegepersonal führte. Hunderte Ärzte und Krankenpfleger klagten die Regierung daraufhin wegen unterlassener Hilfeleistung.

Der französische Präsident Emmanuel Macron
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Frankreichs Präsident Macron steht wegen seines Krisenmanagements in der Kritik

Zur politischen Frage wurde auch die enorme Sterberate in Frankreichs Alters- und Pflegeheimen. Bis Ende April starben Schätzungen des Aktivistenbündnisses Coronavictimes 8.000 der 20.000 französischen CoV-Opfer in Einrichtungen für ältere Menschen. Die Lage verschärfte sich so weit, dass Frankreichs Gesundheitsministerium Ärzte Medienberichten zufolge anwies, den Zugang betagter Personen zu Intensivstationen zu beschränken.

Weg von der Kriegsrhetorik

Der seit 24. März geltende Gesundheitsnotstand wurde dieser Tage bis 24. Juli verlängert. Rhetorisch aber entfernte sich Macron vom Bild des Kriegs gegen den Erreger, stellte die Lockerung der Ausgangssperre in Aussicht und appellierte an die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger.

Dass das Land für die nun geplanten Lockerungen tatsächlich bereit ist, und ob diese im Alltag auch umsetzbar sind, bezweifeln viele. Ein Mindestabstand zwischen Fahrgästen in den öffentlichen Verkehrsmitteln sei nur schwer einhalt- und kontrollierbar, warnte die französische Staatsbahn SNCF. 300 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, darunter auch die Pariser Stadtchefin Anne Hidalgo, sprachen sich in einem offenen Brief wiederum gegen die Öffnung der Schulen aus. Der Zeitplan der Regierung sei „in den meisten unserer Gemeinden unhaltbar und unrealistisch“, hieß es. Die Gemeinden hätten nicht genug Zeit, um die Wiederaufnahme vorzubereiten.