Pillen im Blister
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Psychopharmaka

Vorräte gegen CoV-Angst voll

Panikattacken, Schlafstörungen, Depressionen – die Coronavirus-Epidemie belastet die psychische Gesundheit vieler Menschen. Der Griff nach Psychopharmaka scheint naheliegend. Doch die Nachfrage nach solchen Präparaten sinkt – ein Widerspruch? Nicht unbedingt.

Die Österreicherinnen und Österreicher sitzen offenbar nicht nur auf einem großen Vorrat an Klopapier, Germ und Nudeln, sondern auch an Antidepressiva, Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Wie ORF.at vom Verband der Arzneimittel-Vollgroßhändler (PHAGO) erfuhr, habe es in der Coronavirus-Woche eins ab 12. März im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bei Psychopharmaka (Psycholeptika sowie Psychoanaleptika) einen Zuwachs von mehr als 100 Prozent gegeben, also mehr als eine Verdoppelung.

Viele deckten sich also nach Bekanntgabe der Ausgangsbeschränkungen in den Apotheken mit Medikamenten ein. Damals hatten laut PHAGO statt 400.000 täglich bis zu 700.000 Menschen die Apotheken aufgesucht. In der Woche darauf sei immer noch eine erhöhte Nachfrage an Psychopharmaka von plus 25 Prozent zu verzeichnen gewesen, so PHAGO.

Weniger Arztbesuche

Seit 26. März sei die Nachfrage laut Arzneimittel-Vollgroßhandel jedoch zunehmend zurückgegangen. Über den gesamten April gesehen seien es im Vergleich zum Vorjahr insgesamt rund 25 Prozent weniger dieser Präparate gewesen, die nachgefragt wurden. Die Schlussfolgerung von PHAGO ist, dass die Patienten weniger oft ihren Arzt aufgesucht hätten und daher entsprechend weniger Psychopharmaka verschrieben worden seien.

Auch die Möglichkeit der telefonischen Verschreibung von Medikamenten habe das nicht wettgemacht. Seit Mitte März können sich Patientinnen und Patienten ja auch telefonisch beim Arzt Medikamente verschreiben lassen. Die Verschreibung gelangt über die E-Medikation vom Arzt zur Apotheke. Der Patient oder eine Vertretungsperson kann dann ohne Papierrezept unter Angabe von Name und Sozialversicherungsnummer das Medikament in der Apotheke abholen.

Hinzu kam offenbar, dass die Ärztekammer – um die Patientenfrequenz in den Ordinationen zu verringern – die niedergelassenen Ärzte von der Möglichkeit der Verordnung von Dreimonatsbedarf bei ständig verschriebenen Arzneimitteln informierte. Fazit: Die „Hausapotheken“ vieler Österreicherinnen und Österreicher dürften derzeit gut gefüllt sein. Die Vorräte reichen also länger an.

Keine Rückschlüsse auf Konsum

Auch der Dachverband der Sozialversicherungsträger (SV) registrierte im März im Jahresvergleich bei Antidepressiva, Schlaf- und Beruhigungsmitteln einen Anstieg von rund 18 Prozent der auf Kassenkosten bezogenen Verordnungen. „Ob eine Zunahme an psychischen Belastungen durch die Coronavirus-Krise zu einem erhöhten Konsum von bestimmten Psychopharmaka führt oder zunächst lediglich eine stärkere Bevorratung eintrat“, lasse sich anhand der Daten derzeit jedoch nicht seriös beurteilen, hieß es. „Möglicherweise können längere Betrachtungszeiträume hier weitere Erkenntnisse bringen.“

Außerdem verweist die Sozialversicherung darauf, dass ihr der Bezug von Medikamenten unter der jeweiligen Rezeptgebühr nicht bekannt werde, wenn keine Rezeptgebührenbefreiung vorliegt und das Medikament in der Apotheke privat verkauft wird. Ein Drittel der verfügbaren Präparate weise einen Preis unterhalb der Rezeptgebühr auf. Außerdem würden nur Daten im niedergelassenen Bereich erfasst, Spitalsbehandlungen seien daher nicht enthalten.

Psychische Gesundheit belastet

Experten sind sich jedoch einig darüber, dass sich die Coronavirus-Epidemie deutlich auf die psychische Gesundheit der Menschen auswirke. Laut aktuellen Daten einer repräsentativen Umfrage, die Experten der Donau-Universität Krems analysierten, hat sich die Häufigkeit depressiver Symptome vervielfacht. Auch Schlafstörungen und Angstsymptome kämen vermehrt vor, teilte die Universität mit.

„Besonders belastend ist die aktuelle Situation für Erwachsene unter 35 Jahren, Frauen, Singles und Menschen ohne Arbeit, während Menschen über 65 Jahre deutlich weniger belastet sind“, sagte Studienautor Christoph Pieh, Leiter des Departments für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit. „Wir gehen davon aus, dass die Corona-Krise einen ungeahnten Einfluss auf die Psyche der Menschen hat, vor allem auch bei Personengruppen, die bis dato nicht gefährdet waren, psychisch zu erkranken“, sagte die Geschäftsführerin der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, Claudia Lingner – mehr dazu in noe.ORF.at.

Angst vor finanziellen Problemen

Eine Untersuchung der Statistik Austria zeigte wiederum, dass die Österreicherinnen und Österreicher mehr Angst vor finanziellen Problemen durch die Auswirkungen der Coronavirus-Epidemie haben als vor einer Infektion. So gaben zehn Prozent der Befragten (Personen ab 16 Jahre) an, Angst vor finanziellen Problemen zu haben. Sieben Prozent befürchten, sich zu infizieren, und sechs Prozent, jemanden in der Familie aufgrund einer Covid-19-Erkrankung zu verlieren. Fünf Prozent halten einen Anstieg von Konflikten in der Familie oder in der Beziehung für wahrscheinlich.

Weit über 90 Prozent empfinden Maßnahmen wie Quarantäne in Krisengebieten, Abstandhalten, Veranstaltungsverbot oder das Tragen von Masken als angemessen. Hier zeige sich, dass die „Akzeptanz grundsätzlich hoch ist“, sagte Matea Paskvan, Studienprojektleiterin der Statistik Austria. Und rund zwei Drittel lassen sich die Stimmung durch die Epidemie gar nicht verderben: 64 Prozent empfinden zumindest meistens gute Laune, Ruhe und Entspannung. Deutlich geringer ist das psychische Wohlbefinden allerdings bei Menschen mit mäßiger bis schlechter Gesundheit (33 Prozent) oder Menschen mit Kindern vor dem Schulalter (58 Prozent).

Harmloses Husten als „Gefahr“

Und wie sieht es aus, wenn der „Lock-down“ endet? Ist dann alles wieder gut? Die Ängste und Sorgen könnten das tägliche Leben vieler Menschen auch künftig weiter belasten. Wenn das Gehirn dauernd im „Angst-Modus“ ist, wird die eigene Wahrnehmung womöglich auch mehr auf Dinge gelenkt, die die Ängste bestätigen. So kann es zum Beispiel passieren, dass schon ein harmloses Husten als „Gefahr“ wahrgenommen wird.

Die gesundheitlichen Folgen der Coronavirus-Epidemie kann noch niemand richtig einschätzen. Public-Health-Experte Martin Sprenger etwa warnt vor möglichen künftigen psychischen Belastungen wie Alpträumen und Angststörungen, und reiht sich in die Riege zahlreicher Wissenschaftler ein, die dafür plädieren, laufend Daten in der Bevölkerung zu erheben, um das Ausmaß und die Folgen des kollektiven Coronavirus-Traumas ermessen zu können.