Der Balkon als eine Art Bühne der Zeit hat eine lange Geschichte, seine Rolle und Funktion waren einem steten Wandel unterlegen: Als „dreidimensionales Schaufenster“ der Wohnung zwischen öffentlich und privat spiegle der Balkon immer kulturelle Verhältnisse wider, sagt Architektur- und Stadtplanungsexperte Maik Novotny im Gespräch mit ORF.at.
Balkone habe es in der Vergangenheit vor allem im Fernen Osten gegeben. Verstärkt in der islamischen Welt, „weil sich Frauen aufgrund kultureller und religiöser Gründe nicht zeigen durften“. Durch kleine Balkone, Holzfensterläden, war es ihnen aber möglich, einen Blick auf die Welt zu werfen und so am Geschehen teilzuhaben, erklärt Novotny. In Mitteleuropa seien Balkone hingegen lange nicht existent gewesen – schon gar nicht in der Funktion, in der sie heutzutage genutzt werden.
Vom repräsentativen Stilelement zur Erholungsoase
So erklärt sich auch die Tatsache, dass sich die wohl berühmteste Balkonszene der Welt („O Romeo, Romeo – Warum bist du Romeo?“) in der Originalfassung Shakespeares gar nicht finden lässt. Julia tritt lediglich am Fenster auf. Denn: Zu dieser Zeit gab es in England gar keine Balkone. Und: Auch der „Romeo und Julia“-Balkon in Verona soll erst nachträglich angebaut worden sein.
„In den Kulturen West- und Nordeuropas war es lange Zeit gar nicht denkbar, dass man sich in der Öffentlichkeit präsentiert. Das wurde als sehr vulgär empfunden“, so Novotny. Zwar habe es im adelig-fürstlichen Bereich sehr wohl Balkone gegeben, diese dienten jedoch als gestalterisches Element ausschließlich repräsentativen Zwecken. Ähnlich verhält es sich bei den Wiener Gründerzeitbauten, deren Balkone in der „Beletage“ so klein sind, dass man sie kaum betreten kann.
Im Mittelalter hätten Balkone als militärische Anlagen an Festungen gedient, so der deutsche Kunsthistoriker Christian Isermeyer. Funktionelle Balkone an bürgerlichen Häusern lassen sich, zumindest in den Städten, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts finden. Davor blieben die Häuserfassaden vor allem wegen der Geruchsbelästigungen in den Straßen glatt.
Anders im ländlichen Raum: Hier dominierte der Balkon die Fassaden alter Bauernhäuser bereits vor dem 19. Jahrhundert. Er diente jedoch weniger zur Erholung, sondern wirtschaftlichen Zwecken – etwa zur Verwahrung wirtschaftlicher Güter. 1912 entstand der Begriff des „Nützlichkeitsbalkons“ auch in den Städten. Dieser erfuhr seine Entfaltung vor allem während der Weltkriege. Zu dieser Zeit wurde der Balkon lediglich dafür genutzt, um Dinge des täglichen Bedarfs wie Brennholz zu lagern oder Gemüse zur Selbstversorgung anzubauen.
Auch die kleinen Balkone der 50er Jahre dienten noch lediglich als reine Abstellfläche für „Wasser- und Bierkästen, alte Weihnachtsbäume, Leitern und zum Trocknen der Wäsche“, wie die „TAZ“ schreibt. Erst danach erfolgte der Wechsel vom Wirtschaftsbalkon zum bewusst begrünten Balkon als Erholungsstätte.
Wenige Balkone in Wien
Warum gibt es in Wien so wenige Balkone? Das liegt grundsätzlich am Baurecht. Erst seit 2014 erlaubt die Bauordnung die Anordnung von Balkonen auch an straßenseitigen Fassaden über Verkehrsflächen. „Dabei ist auf ihre gestalterische Einfügung ins Stadtbild zu achten“, wie es von offizieller Seite heißt.
Der Balkon als erweitertes Wohnzimmer
Bis in die 60er und 70er Jahre sei es nun einmal nicht üblich gewesen, lange in Straßencafes zu sitzen oder sich freizeitmäßig im öffentlichen Raum – im Fall des Balkons im halb öffentlichen Raum – aufzuhalten, so Novotny. Mittlerweile, so stellt der Experte fest, sei jedoch auch hierzulande eine gewisse „Mediterranisierung“ eingetreten, wenn auch ohne „klischeehafte“ Wäscheleinen, die von Balkon zu Balkon gespannt sind.
Genutzt wird der Balkon heutzutage vor allem als „erweitertes Wohnzimmer und Ersatzgarten“. Novotny ortet hier einen „unglaublichen Trend“, was die Gestaltung des Balkons betrifft: „Von der Möblierung mit Rattan-Sitzgarnituren über Hightech-Grills bis hin zu allen möglichen Bepflanzungen.“ Das habe es in diesem Maße vor zwanzig Jahren noch nicht gegeben.
Heuer dürfte der Balkon zudem für viele auch zur Urlaubsdestination werden – den Begriff „Balkonien“ gibt es allerdings schon seit dem frühen 20. Jahrhundert. Vorgänger des blumenliebenden Balkoniers war übrigens der „Blumist“. „Als es noch keine Balkone gab, hießen die Leute, die den biedermeierlichen Drang hatten, Blumenkästen ans Fensterbrett zu stellen, Blumisten“, erzählt Novotny.
„Grenzübertritt, wo sich Außen und Innen begegnen“
Auch heutzutage hätten Balkone nach wie vor viel mit dem Thema Privatheit versus Öffentlichkeit zu tun. Novotny spricht an dieser Stelle von dem Balkon als kulturellem Lackmustest, der Aufschluss darüber gebe, was in welchem Maße an welchem Ort akzeptabel sei, „das Leute von sich selbst herzeigen und preisgeben. Wo ist es zum Beispiel akzeptabel, dass man von den Nachbarn oben ohne und beim Biertrinken gesehen wird?“
Ähnlich sieht das Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auch der deutsche Architekturkritiker Gerhard Matzig. Die Hauswand unterscheide zwischen Innen und Außen. Innen gebe es Privatheit und Intimität, draußen den öffentlichen Raum – der Balkon sei also genau das Scharnier dazwischen: „Er ist ein Grenzübertritt, eine Art Zollstation, wo sich Außen und Innen begegnen. Das macht die Besonderheit dieses Ortes aus“, so Matzig 2017 gegenüber dem Deutschlandfunk.
Stärkerer Bedarf wegen Coronavirus?
Dabei gehen die Meinungen zwischen jenen, die Balkone konzipieren, und jenen, die sie nutzen, manchmal auseinander: „Die Architekten haben es immer gerne transparenter und arbeiten viel mit Glasfronten. Die Bewohner hängen diese nach zwei Tagen dann aber immer gleich mit Bastmatten vom Baumarkt und schrecklichem anderen Zeug zu“, so Novotny, der Balkone als wesentlichen Teil des Stadtbildes erachtet.
Ein Balkon ist seiner Meinung nach mittlerweile Standard – gerade bei Neubauprojekten und nicht zuletzt auch wegen der Coronavirus-Krise: „Man kann spekulieren, ob der Bedarf mit Corona noch stärker wird, wenn die Leute so lange zu Hause sind, vielleicht noch dazu in Quarantäne und das Bedürfnis haben, einfach rausgehen zu müssen.“
Der Balkon als politische Bühne
Die Rolle des Balkons war in der Geschichte aber stets immer auch eine politische – von „Hitler bis zu Merkel“, so Novotny. So soll der faschistische Diktator Benito Mussolini mittelalterliche Balkone haben nachbauen lassen, die er er dann bei seinen Reden aufstellen ließ. Dass sich der Balkon so ideal als politische Bühne eignet, liegt nicht zuletzt an seiner Exponiertheit: „Er ragt aus der Fassade hervor, er ist wie ein prädestiniertes Rednerpult.“ Eine Rede auf einem Balkon gleiche einem Monolog im Theater: „Es ist eine Inszenierung, es ist ja wirklich wie eine Bühne“, so der Architekturexperte.
Zur politischen Bühne wurde der Balkon auch in den vergangenen Wochen wieder. Für viele war es aufgrund des „Lock-down“ der einzige Ort für politischen Protest. So wurde etwa in Slowenien auf Balkonen gegen die Regierung, in Argentinien gegen Hausarrest für Straftäter, in Spanien gegen das Königshaus und in Serbien gegen die Ausgangssperre protestiert. Und in Italien sangen die Menschen von ihren Balkonen am Tag der Befreiung das Partisanenlied „Bella Ciao“.
In Österreich stießen Balkonkonzerte hingegen nicht überall auf Begeisterung. So ging zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen etwa ein Video viral, in dem ein Mann ein italienisches Lied singt – und dabei von einer älteren Frau unterbrochen wird: „Ruhe! Ruhe! So schen is des net.“ Auch solche Szenen scheinen wohl unweigerlich zur Kulturgeschichte des Balkons zu gehören.