Durch Bomben zerstörte Staatsoper
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Kulturpolitik

Die Wiedererfindung der „Kulturnation“

Dass Österreich eine „Kulturnation“ ist, wird heute niemand infrage stellen. Es war in der berühmten „Stunde null“, dass man im Zugriff auf die Kultur eine besondere Chance erkannte. Die beinahe ins Überzeitliche erhobenen österreichischen Werte sollten helfen, sich von den Deutschen – und damit von der Nazi-Zeit – abzugrenzen. Ausgerechnet ein Kommunist wurde dabei Motor einer Österreich-Idee, in der am Anfang ein restaurativer Kulturbegriff alles, die Moderne aber wenig galt.

Die Hochkultur begleitet die Zweite Republik seit ihrer Geburtsstunde. Die Wiener Philharmoniker spielten ihr erstes Nachkriegskonzert am 27. April 1945, an jenem Tag, an dem Vertreter der SPÖ, ÖVP und KPÖ die Proklamation über die Selbstständigkeit Österreichs unterzeichneten. Die Staatsoper gab am 1. Mai Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“ im Ausweichquartier in der Volksoper, das eigene Haus war am 12. März durch einen Bombentreffer schwer beschädigt worden.

Der erste Unterrichts- und Kulturminister war der Schriftsteller Ernst Fischer, der als KPÖ-Mitglied in die provisorische Einheitsregierung Renners eintrat. Seine kurze Amtszeit illustriert deutlich, wie die Kulturpolitik zum erweiterten Feld wurde, auf dem die Alliierten, allen voran die USA und die Sowjetunion, ihre divergierenden Vorstellungen des besetzen Österreich austrugen.

Antideutschtum und österreichische Identität

Fischer, der im April 1945 aus dem Moskauer Exil zurückkehrte, wo er die Zeit seit 1934 verbracht hatte, lag in vielen Aspekten ganz auf der kulturpolitischen Linie der Sowjets. So forderten Offiziere der Roten Armee sofort nach der Befreiung Wiens am 13. April 1945 die Wiederöffnung der Kulturbetriebe. Kultur galt als stabilisierendes Mittel für die österreichische Identität, an deren Ausbildung im Zuge der Eigenstaatlichkeit Österreichs Stalin Interesse hatte.

Fischer wählte den Weg der Kontinuität der Klassikertradition, beispielsweise die Besetzung von Raoul Aslan zum Burgtheaterdirektor, der dieses am 30. April im Ausweichquartier im Ronachertheater mit Franz Grillparzers „Sappho“ wiedereröffnete. Aslan war einer jener Künstler gewesen, die sich in der Endphase des Zweiten Weltkriegs auf der „Gottbegnadeten-Liste“ von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels fanden.

Um solche Verstrickungen kümmerte sich Fischer wenig, es ging vordringlich darum, unverfängliche kulturelle Angebote bereitzustellen, die eine Loslösung von einer deutschnationalen Identität in der Bevölkerung begünstigte. Robert Menasse schreibt dazu in seinen Essays „Das war Österreich“: „Es wurden kulturelle Besonderheiten Österreichs im Unterschied zu Deutschland geltend gemacht, ein Argument, das innenpolitisch als ‚Mentalitätsunterschiede‘ wiederkehrte und durch die Anti-‚Piefke‘-Ressentiments, die es in Österreich nach 45 gab, verstärkt wurde. In den Schulen wurde damals sogar der Begriff ‚Deutsch‘ durch ‚Unterrichtssprache‘ ersetzt.“ Das ging vermutlich auf einen Erlass Fischers zurück.

Auch die Forcierung des „Wiener Mozart-Stils“ in der Nachkriegszeit weist in dieser Richtung. Dieser war seit „1941 von dem Dirigenten Karl Böhm, dem Regisseur Oscar Fritz Schuh und dem Bühnenbildner Caspar Neher entwickelt worden“, wie der Historiker Oliver Rathkolb in seinem Standardwerk „Die paradoxe Republik“ schreibt. Dieser „Mozart-Stil“ wurde ab 1947 durch Auslandstourneen dazu benutzt, „die Lieblichkeit des kleinen Österreichs unter Beweis zu stellen“, und konnte damit „die Opferdoktrin kulturell ‚abpolstern‘“, so Rathkolb.

Unterrichtsminister Felix Hurdes 1946
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Unterrichtsminister Felix Hurdes (1945–1952, ÖVP)

Österreich als „Kulturnation“

Fischers Amtszeit währte nur so kurz wie die provisorische Regierung Renners. Mit der Regierung Leopold Figls ab dem 20. Dezember 1945 ging das Unterrichts- und Kulturressort an Felix Hurdes (ÖVP) und blieb mit seinen Nachfolgern Ernst Kolb (1952–1954) und Heinrich Drimmel (1954–1964) für 19 Jahre in konservativer Hand. In Hurdes’ Amtszeit fällt die Verfestigung der Erzählung Österreichs als „Kulturnation“.

Den Grundstein dieser Erzählung legte Bundeskanzler Figl selbst in seiner Regierungserklärung vor dem Nationalrat am 21. Dezember 1945: „Unser neues Österreich ist ein kleiner Staat, aber es will dieser großen Tradition, die vor allem eine Kulturtradition war, treu bleiben als Hort des Friedens im Zentrum Europas.“ Das an der Vergangenheit orientierte Bild der Kulturnation bot sowohl für konservativ-katholisch geprägte Politiker als auch für die Koalitionspartner SPÖ und KPÖ, später nur SPÖ, ein vertretbares Konzept auf dem Weg zum Staatsvertrag.

Nach einer von Rathkolb zitierten Vaterlandskunde von 1955 ließ sich das Bild des „Kulturlandes Österreich“ auf folgende Kurzformel bringen: „Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Burgtheater, Staatsoper, Philharmoniker, Wiener Sängerknaben und Salzburger Festspiele.“ Diese Größen und Institutionen waren es auch, zu deren Gunsten der kulturelle Wiederaufbau organisiert wurde.

Wiederaufbau der Staatsoper

Ein vordergründig betriebenes Projekt war der Wiederaufbau der Wiener Staatsoper durch den Architekten Erich Boltenstern. Die Arbeiten dauerten zehn Jahre und kosteten, umgerechnet in heutige Kaufkraft, rund 220 Millionen Euro. Geleitet wurde das Projekt vom Handels- und Wiederaufbauministerium.

Auffällig war, dass kein Neubau in Betracht gezogen wurde, sondern das alte Haus am Ring wiederhergestellt werden sollte. Auch bei diesem Projekt waren Künstler mit nationalsozialistischer Vergangenheit involviert.

Besuch von Handelsminister Böck-Greissau in der Staatsoper
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Handels- und Wiederaufbauminister Josef Böck-Greissau 1952 vor einem der Wandteppiche, die nach Vorlagen des NS-Künstlers Rudolf Eisenmenger für die Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper in Auftrag gegeben wurden

Das betraf vor allem Rudolf Eisenmenger, der zwischen 1938 und 1945 großformatige Propagandagemälde wie „Die Nibelungen“, „Die Gaben der Ostmark“ oder „Die Heimkehr der Ostmark“ geschaffen hatte, die im Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung in Berlin, im Gebäude des Reichsarbeitsdienstes in Wien, im Welser Bahnhof, im Rathaus der Stadt Chemnitz und im Wiener Rathaus angebracht gewesen waren.

Buchhinweise

  • Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Neuausgabe, Zsolnay, 495 Seiten, 30,80 Euro.
  • Marion Knapp: Österreichische Kulturpolitik und das Bild der Kulturnation. Peter Lang, 400 Seiten, 49,90 Euro.
  • Robert Menasse: Das war Österreich. Suhrkamp, 464 Seiten, 15,50 Euro.
  • Maria Wirth: Ein Fenster zur Welt. Das Europäische Forum Alpbach 1945-2015. Studien Verlag, 256 Seiten, 34,90 Euro.

Trotz dieser einschlägigen Vergangenheit wurde Eisenmenger 1954 mit der Gestaltung des 176 Quadratmeter großen „Eisernen Vorhangs“ in der Staatsoper betraut, der die Bühne vom Zuseherraum trennt. Seit 1998 wird der Vorhang auf Initiative des damaligen Staatsoperndirektors Ioan Holender jährlich mit dem Werk eines zeitgenössischen Künstlers verhüllt.

Außerdem gestaltete Eisenmenger die Vorlagen für 13 großformatige Tapisserien, die Szenen aus Mozarts „Die Zauberflöte“ zeigen und bis heute im Gustav-Mahler-Saal der Staatsoper zu sehen sind. Die Kunsthistorikerin Veronika Floch, die zu Eisenmenger geforscht hat, spricht in diesem Zusammenhang gegenüber ORF.at von „fehlendem historischen und moralischen Bewusstsein bei den damaligen Entscheidungsträgern, die Eisenmenger zu den beiden prestigeträchtigen Aufträgen verholfen haben“. Außerdem lasse die Staatsoper bis heute eine „kritische Auseinandersetzung mit diesen Werken sowie eine Kontextualisierung, die alle damals beteiligten Akteure miteinbezieht, vermissen“, so Floch.

Die Wiedereröffnung der Staatsoper am 5. November 1955 zeugte von der Reintegration der nationalsozialistischen Vergangenheit in die österreichische Hochkultur. Böhm, selbst durch Kollaboration mit dem NS-Regime belastet, fungierte ab 1954 wieder als Staatsoperndirektor (zuvor schon 1943–1945) und dirigierte Beethovens „Fidelio“. Eine problematische Wahl, war die Oper doch schon 1938 im Haus am Ring bei „Anschluss“-Feiern missbraucht worden. Die Inszenierung stammte zudem von Heinz Tietjen, „der grauen Eminenz des Berliner und Bayreuther Kulturlebens in der NS-Zeit“, so Rathkolb.

Der Kalte Krieg als kulturpolitischer Faktor

Der Kalte Krieg, der ab Februar 1946 zwischen den österreichischen Besatzungsmächten Sowjetunion und den USA begann, zeigte auch seine Auswirkungen auf die Kulturpolitik.

So trat die US-Administration unter Hochkommissar Mark W. Clark nach der Befreiung Österreichs zunächst mit einem strikten Plan zur Entnazifizierung und „Reeducation“, der demokratischen Umerziehung, der Bevölkerung an. Diese Ziele wurden bereits mit dem Antreten der provisorischen Regierung Renners unterlaufen, welche von der Sowjetunion ohne Rücksprache mit den anderen Alliierten präsentiert wurde.

Bundeskanzler Figl in der Loge
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Staatssekretär Leopold Figl und US Hochkommissar Clark bei den Salzburger Festspielen am 12.8.1945

In der US-Zone blieb bis August 1945 eine Militärregierung aufrecht, die offizielle Anerkennung der wiedergegründeten politischen Parteien nahm Clark in seiner Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele vor. Während die USA prinzipiell die Förderung moderner Kunst zum Zweck einer demokratischen „Reeducation“ anstrebten, unterstützten sie den „österreichischen Weg“ der Identitätsbildung durch an der Vergangenheit orientierter Hochkultur.

Während der McCarthy-Ära, benannt nach dem US-Senator Joseph McCarthy, führte das zu einer Billigung der erneuten Integration von ehemaligen Nationalsozialisten oder Künstlern mit einem Naheverhältnis zur NSDAP. Der Historiker Rathkolb beschreibt diese Logik wie folgt: „Der plötzliche sowjetische Antinazismus wurde sehr rasch als Argument im Kalten Krieg von den Amerikanern ‚umgedreht‘; nun argumentierten viele, die ‚Ehemaligen‘ müssten integriert werden, um den antikommunistischen Block zu stärken.“

Verschlungene Förderung der Moderne

Trotz der Hegemonie des rückwärtsgewandten Konzepts der „Kulturnation“ gab es durchaus auch eine Förderung der Moderne ab 1945. In Wien bildete sich um den Maler und Schriftsteller Albert Paris Gütersloh 1946 der Art Club heraus, aus dem sich avantgardistische Tendenzen entwickelten. Im Wiener Amerikahaus wurde auf die Vermittlung von US-Künstlern gesetzt.

Transparent anlässlich der „Internationalen Hochschulwochen“ in Alpbach
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Das Europäische Forum Alpbach geht auf die Internationalen Hochschulwochen des Österreichischen Colleges zurück, die 1945 stattfanden

In Tirol wurden im Sommer 1945 die Internationalen Hochschulwochen des Österreichischen Colleges abgehalten, die als Forum Alpbach bis heute weiterbestehen. Die Veranstaltung, die von den beiden Brüdern Otto und Fritz Molden konzipiert wurde, wurde vom provisorischen Landeshauptmann Karl Gruber (ÖVP), von der französischen Besatzung und später von der Rockefeller-Stiftung unterstützt und diente schon früh als Vernetzungsort für moderne Kunst und Kultur.

Die nachhaltigeren Effekte der Förderung der Moderne durch die Alliierten zeigten sich aber erst wesentlich später. Viele Künstler und leitende Kunstvermittler der 1960er und 1970er Jahre absolvierten Auslandsaufenthalte oder Studien in Frankreich, England und den USA, die auf indirekte Kulturförderung oder Stipendien der Alliierten zurückgehen.