Chinesischer Soldat
AP/Ng Han Guan
An vielen Fronten

China übt sich in Machtdemonstrationen

Hongkong, Taiwan, USA, Indien: Während die Welt mit der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie beschäftigt ist, lässt China gleich an mehreren Fronten seine Muskeln spielen. Beobachtern zufolge wittert das Reich der Mitte trotz Imageschadens angesichts des CoV-Ausbruchs im Land nun die Chance, die globalen Machtverhältnisse zu seinen Gunsten zu verändern.

Es scheint paradox, doch China – so glauben viele Beobachter – könnte aus der Coronavirus-Krise, die in der chinesischen Stadt Wuhan begann und zu heftiger Kritik am Vorgehen der Regierung in Peking führte, gestärkt hervorgehen. Das Reich der Mitte scheint die Krise nach Monaten weitgehend unter Kontrolle zu haben, eine Normalisierung des öffentlichen Lebens hält langsam wieder Einzug.

China finde sich im Vergleich zum Großteil des Rests der Welt, der nach wie vor mit Einschränkungen kämpfe, in einer seltenen Position von Stärke wieder, schrieb der CNN-Journalist und China-Experte James Griffiths. „Dies biete die Möglichkeit, ein lang ersehntes Ziel zu verfolgen – die Verjüngung der Nation, das Ergreifen der aus chinesischer Sicht rechtmäßigen Position als globale Supermacht“, so Griffiths („The Great Firewall of China“).

Chinas Präsident Xi Jinping beim nationalen Volkskongress
AP/Xinhua/Ju Peng
Chinas Volkskongress billigte die Pläne für ein neues Sicherheitsgesetz in Hongkong trotz heftiger internationaler Kritik

Hongkong als heißes Eisen

Als innen- wie außenpolitisch heißes Eisen gilt Hongkong, wo es zuletzt nach einer pandemiebedingten Pause wieder zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstrierenden kam. Der Grund: Peking brachte beim Nationalen Volkskongress ein Sicherheitsgesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in der chinesischen Sonderverwaltungsregion auf Schiene.

„Wolfskrieger“

Waren früher lange, unspektakuläre Statements bei chinesischen Diplomaten üblich, so geht die neue Generation der „Wolfskrieger“ dazu über, jedweder Kritik mit Härte und Schärfe zu begegnen. Der Begriff, den chinesische wie westliche Medien verwenden, stammt von einem kommerziell erfolgreichen gleichnamigen Actionfilm aus dem Jahr 2015.

Das Gesetz zielt darauf ab, „Separatismus“ und „Aufruhr“ in der früheren britischen Kronkolonie sowie eine Einmischung durch das Ausland – allen voran die USA und Großbritannien – zu verbieten. Kritik aus dem Ausland will China keinesfalls dulden. So hat sich jüngst eine neue Form der Diplomatie entwickelt, deren Speerspitze die „Wolfskrieger“ bilden. Die „Wolfskrieger“ wie Außenamtssprecher Zhao Lijan verbreiten Lobeshymnen auf China und drohen Kritikern zugleich mit Sanktionen.

Das Gesetz wäre der bisher weitgehendste Eingriff in die Autonomie Hongkongs, es ist eine Reaktion auf die monatelangen Massenproteste gegen die Peking treue Hongkonger Regierung im vergangenen Jahr. Das Hongkonger Parlament wurde dabei umgangen. Viele Bürgerinnen und Bürger befürchten, dass damit die Bürgerrechte stark eingeschränkt werden. Bereits im Jahr 2003 versuchte China, solch ein Gesetz durchzubringen, wogegen damals eine halbe Million Menschen auf die Straße gingen – das Vorhaben wurde fallen gelassen.

Proteste in Hong Kong
AP/Kin Cheung
In Hongkong kam es im vergangenen Jahr immer wieder zu Massenprotesten gegen die Hongkonger Regierung, der zu große Nähe zur Führung in Peking vorgeworfen wird

Schlüsselziel des nationalen Verjüngungsplans

China hatte mit den Plänen auch international Kritik und Sorge um Hongkongs Autonomie ausgelöst. Die USA wollen die vorteilhafte Behandlung der Metropole weitgehend beenden – davon betroffen sind unter anderem Exportkontrollen und Zölle. Für Hongkongs Firmen und Bürger steht damit viel auf dem Spiel. Zudem kündigten die USA ein Einreiseverbot für mehrere chinesische Staatsangehörige an. Das gelte für chinesische Studierende, die ein „potenzielles Sicherheitsrisiko“ darstellen würden.

Auch die Bedeutung des auch für China wichtigen Finanzstandorts gerät in Gefahr. London drohte indes mit der Einbürgerung ehemaliger Untertanen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell forderte eine „robustere“ Strategie im Umgang mit Peking, Sanktionen lehnt die EU aber ab.

Das Jahrhundert der Demütigung bezeichnet die Zeit der Intervention und der wahrgenommenen Unterwerfung des chinesischen Reiches durch westliche Mächte, Russland und Japan zwischen 1839 und 1949.

Seit der Rückgabe durch Großbritannien an China 1997 wird Hongkong als eigenes Territorium nach dem Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“ autonom regiert. Das Prinzip war in den vergangenen Jahren jedoch zunehmend erodiert. Für Aufregung sorgte vor Kurzem beispielsweise auch ein Gesetzesentwurf, der Strafen beim Missbrauch der chinesischen Nationalhymne vorsieht. „Hongkong war eines jener Territorien, welche China während des sogenannten ‚Jahrhunderts der Demütigung‘ verloren hat, die Umkehrung dessen gilt als Schlüsselziel des nationalen Verjüngungsplans“, so CNN-Journalist Griffiths.

Signal an Taiwan

Präsident Xi Jinping, der sich 2018 zum Staatschef auf Lebenszeit machen ließ und mit der Initiative der „neuen Seidenstraße“ (Belt and Road) den wirtschaftlichen und politischen Einfluss von Asien über Afrika bis Europa ausdehnen möchte, will sein Land wieder zur früheren Größe führen. „Mit dem Griff nach Hongkongs verbliebenen Freiheiten sendet Peking ein klares Signal auch an Taiwan. (…) Die Gefahr einer militärischen Invasion der Insel steigt“, heißt es in der „Zeit“.

Taiwan, das sich südlich des chinesischen Festlands befindet, hatte sich 1949 von China abgespalten. Peking betrachtet die Insel aber weiter als abtrünnige Provinz, die wieder mit der Volksrepublik vereinigt werden soll – zur Not auch mit militärischer Gewalt.

Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen
Reuters/Taiwan Presidential Office
Dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“, das China nach dem Vorbild Hongkongs auch für eine Wiedervereinigung mit Taiwan vorgeschlagen hat, erteilte Taiwans Präsidentin Tsai Ing Wen eine Absage

Die Stimmung verschlechterte sich zuletzt zudem, nachdem Taiwans Präsidentin Tsai Ing Wen für eine zweite Amtszeit vereidigt worden war. Tsai, die die Hongkonger Demokratiebewegung unterstützt, forderte Peking im Zuge ihrer Antrittsrede im Mai zu Verhandlungen und einer friedlichen Koexistenz auf. China wies das Gesprächsangebot zurück. Peking werde eine Unabhängigkeit Taiwans „niemals tolerieren“. Auch international ist Taiwan zunehmend isoliert. Nur noch 15 Länder pflegen diplomatische Beziehungen mit Taipeh.

Spannungen an Grenze zu Indien

Auch an anderen Fronten hat sich die Stimmung jüngst verschlechtert – etwa an der Grenze zu Indien. Indischen Medien zufolge kam es in den vergangenen Wochen an der gemeinsamen Grenze in der Himalaya-Region Ladakh, wo sich Hunderte Soldaten gegenüberstehen, zu neuen Spannungen. Zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Welt gibt es wegen ihrer langen gemeinsamen Grenze immer wieder Streitigkeiten. 1962 hatten sie deshalb auch einen kurzen Krieg geführt, den China gewann. Trump wollte in dem Konflikt indes vermitteln.

Im Südostchinesischen Meer sei Peking zudem mit zunehmender Aggressivität aufgefallen, schrieb CNN. So verhängte Peking unlängst ein Fischfangverbot in dem umstrittenen Seegebiet und verärgerte damit die vietnamesische Regierung. Das Südchinesische Meer liegt zwischen China, Vietnam, Malaysia und den Philippinen. Peking beansprucht 80 Prozent des Gebietes, durch das wichtige Schifffahrtsstraßen führen. Auch Vietnam, die Philippinen, Taiwan, Brunei und Malaysia erheben Ansprüche. Der internationale Schiedsgerichtshof wies 2016 die Ansprüche Chinas zurück, doch ignoriert Peking das Urteil.

Das sei keinesfalls das erste Mal, dass Peking seine Muskeln im Südchinesischen Meer spielen lässt oder sich an Grenzstreitigkeiten mit Indien beteiligt, so Griffiths. „Aber während Washington und Delhi durch heimische Anliegen im Zusammenhang mit der Pandemie abgelenkt sind, hat Peking die Möglichkeit, in beiden Regionen zu profitieren, was schwer umzukehren sein wird, sobald die Pandemie vorüber ist.“

Gerangel um globale Führungsposition

Vor allem aber die Beziehung zur weltgrößten Volkswirtschaft, den USA, hat einen Tiefststand erreicht. Die Liste der Streitthemen ist lang: vom Handelskrieg, über die von Trump angefachte Debatte über das Verhältnis Chinas zur Weltgesundheitsorganisation (WHO), den Konflikt um Hongkong, Chinas Druck auf Taiwan, die Verfolgung von Bürgerrechtlern, Uiguren und Tibetern bis hin zu den chinesischen Territorialansprüchen im Südchinesischen Meer.

US-Präsident Donald Trump
Reuters/Jonathan Ernst
Die Beziehung zu den USA hat einen Tiefststand erreicht – die Liste an Streitthemen zwischen den größten Volkswirtschaften der Welt ist lang

China nutze nicht nur seine wachsende wirtschaftliche und technologische Stärke, sondern fülle auch jene Lücke, die die USA mit dem Rückzug von Präsident Trump aus der globalen Verantwortung zurücklassen, so die Einschätzung von Beobachtern. Trump dürfte es zudem missfallen, dass Chinas Wirtschaft jüngsten Prognosen zufolge weniger unter der Pandemie leiden dürfte als die USA. Sowohl Republikaner wie auch Demokraten sind im Präsidentschaftswahlkampf bemüht, antichinesische Härte zu demonstrieren.

„Stetiges Driften in eine internationale Anarchie“

Es drohe ein „allgemeiner Ordnungsverlust, weil sowohl die absteigende Supermacht USA als auch die aufsteigende Großmacht China zu schwach sind, Regeln zu setzen und Institutionen zu führen“, heißt es in der „Zeit“ zudem. Auch der ehemalige australische Premierminister und China-Experte Kevin Rudd sieht ein „langsames, aber stetiges Driften in eine internationale Anarchie.“

Die EU steht unterdessen angesichts unterschiedlicher Interessen seiner Mitgliedsstaaten stets vor einem Dilemma und konnte bisher noch keine einheitliche Antwort auf Chinas geopolitische Bestrebungen finden. Daher hat das Verhältnis zu den USA und China auch im Zuge der bevorstehenden deutschen Ratspräsidentschaft Priorität. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel betonte Ende Mai vor allem die Bedeutung der Beziehungen zu den USA, dem „wichtigsten Partner Europas“. Überdies ist nach wie vor ein EU-China-Gipfel im September geplant.

Die „Zeit“ hält jedoch auch fest, dass selbst eine coronavirusbedingte Pattsituation zwischen den USA und China ein Riesenerfolg für Peking sei. Die Regierung wolle und könne noch nicht an die Stelle des bisherigen Hüters der Weltordnung treten. Aber: „Es reicht, für den Moment als Hort der Stabilität dazustehen, während die eben noch konkurrenzlose Supermacht wankt. Und das – welch eine Pointe – ausgelöst durch eine Seuche, die in Zentralchina ihren Anfang nahm.“