Es sind Bilder wie aus einem dystopischen Film: Während es in Dutzenden US-Städten – darunter in Washington DC – zu Demonstrationen, Ausschreitungen und Plünderungen kommt, inszeniert sich der Präsident inklusive Bibel für Pressefotos vor der Kirche St. Johns nahe dem Weißen Haus. Trump, der sich selbst als „Law and Order“-Präsident bezeichnet, stellte sich nach eigenen Worten an die Seite der friedlichen Demonstranten, die sich gegen Polizeigewalt und Rassismus starkmachen.
Zugleich drohte der republikanische Präsident seiner eigenen Bevölkerung mit dem Einsatz der Armee – zur Not auch ohne Zustimmung der Bundesstaaten. Er berief sich dabei auf ein altes Gesetz aus dem Jahr 1807, den „Insurrection Act“. „Die Worte eines Möchtegerndiktators“, kommentierte CNN-Journalist Jim Acosta.
Trump, der Kämpfer
„Seit Beginn seiner Amtsperiode hat sich Trump als jemand präsentiert, der Konflikt sucht, nicht Versöhnung, als Kämpfer und nicht als Friedensstifter“, analysierte die „New York Times“ – ob im Handelskrieg mit China, Auseinandersetzungen mit dem Iran, der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Twitter sowie den Demokraten. „Das spricht einen substanziellen Teil der Bevölkerung an, die in ihm einen Präsidenten sehen, der bereit ist, das etablierte und berechtigte Establishment herauszufordern.“
Sündenböcke für die Krisen, die die USA derzeit beschäftigen, hat Trump längst gefunden: In der CoV-Krise mit mehr als 100.000 Toten in den USA sind das China und die WHO. An den Unruhen seien die „Antifa und andere gewaltsame Gruppen des linken Flügels“ schuld. Auf Twitter kündigte er an, die USA würden die Antifa als Terrororganisation einstufen. Zur antifaschistischen Bewegung bekennen sich in den USA zahlreiche linke und linksradikale Aktivisten. Die Antifa hat weder Mitglieder noch eine Organisations- oder Führungsstruktur.
Auch in den vergangenen Tagen fiel Trump vor allem mit aggressiver Rhetorik auf. So verbreitete er am Freitag einen Tweet, wonach das Schießen beginne, wenn es zu Plünderungen komme. Damit hatte Trump einen Satz aus dem Jahr 1967 zitiert, mit dem der damalige Polizeichef von Miami ein hartes Vorgehen gegen die schwarze Bevölkerung angekündigt hatte – später ruderte Trump aufgrund starker Kritik zurück. Außerdem teilte er einen Tweet, in dem es heißt, dass der einzig gute Demokrat ein „toter Demokrat“ sei.
„Make America Hate Again“
Trump nutze das „Gemetzel“, um politisch davon zu profitieren, schreibt CNN. Trump – der nicht zuletzt für den Umgang mit der Coronavirus-Pandemie und der Rekordarbeitlosigkeit stark in der Kritik steht – mache die Krise zur Waffe, indem er seine politischen Konkurrenten beschuldigt und Verschwörungstheorien anheizt, um seine Chancen zur Wiederwahl im November zu erhöhen, so CNN außerdem.
Es ist zudem ein Teil von Trumps Wahlkampfstrategie, die Demokraten als Schwächlinge darzustellen, die der Kriminalität kein Ende setzen. „Wie kommt es, dass all diese Orte, die sich so schlecht verteidigen, von liberalen Demokraten geführt werden?“, twitterte Trump am Samstag.
„Zweifelt nicht für einen Moment daran: Trump hat Amerika wieder dazu gebracht, zu hassen“, schreibt die „Washington Post“ unter Anspielung auf dessen Wahlkampfslogan „Make America Great Again“. Unter Trump, der selbst für rassistische Äußerungen kritisiert wird, haben Hassverbrechen um 30 Prozent zugenommen, schreibt die „Washington Post“. Kritiker werden dabei nicht müde, an dessen Äußerungen nach einem Aufmarsch von Rechtsradikalen in Charlottesville 2017, wo eine Gegendemonstrantin getötet wurde, zu erinnern. Er hatte danach gesagt, es habe auf beiden Seiten „sehr gute Menschen“ gegeben.
Systematischer Rassismus in den USA
Ausgelöst wurden die aktuellen Unruhen in Dutzenden Städten von der Ost- bis Westküste inmitten der Coronavirus-Krise vom Tod Floyds im Zuge eines brutalen Polizeieinsatzes in Minneapolis. Acht Minuten und 46 Sekunden lang drückte ein weißer Polizist sein Knie auf Floyds Hals. Seine flehenden Worte „Ich kann nicht atmen“ sind Schlachtruf der Demonstrierenden.

„Ich kann nicht atmen“ ist – nach dem Tod des Afroamerikaners Eric Garner 2014 – bereits eine der Parolen der „Black Lives Matter“-Bewegung, die sich in den USA für Gleichberechtigung von Schwarzen und Weißen und gegen Polizeibrutalität einsetzt, geworden. Systematischer Rassismus steht in den USA trotz des Todes von Floyd, Garner und unzähligen weiteren Afroamerikanern sowie der damit einhergehenden Frustration bei Teilen der Bevölkerung nach wie vor an der Tagesordnung.
Minderheiten auch von CoV besonders betroffen
Schwarze und andere Minderheiten sind es auch, die die Coronavirus-Krise besonders hart getroffen hat. Der Direktor des Nationalen Instituts für Infektionskrankheiten, Anthony Fauci, führte das im April auf eine „Verschlimmerung eines Gesundheitsgefälles“ zurück.
Erkrankungen wie Herzkrankheiten und Diabetes seien bei den Afroamerikanern häufiger zu verzeichnen als bei anderen Gruppen, sagte Fauci. Diese Vorerkrankungen erschwerten den Ausbruch für diese Gemeinschaft. Strukturelle Ungleichheiten wie Armut und fehlende Absicherung durch eine Krankenversicherung tragen nach Ansicht von Fachleuten wahrscheinlich ebenfalls dazu bei.
Politologe Heinisch über die Proteste in den USA
Amerika-Kenner und Politikwissenschafter Reinhard Heinisch mit einer Analyse der Unruhen in den USA nach dem gewaltsamen Tod eines Afroamerikaners bei einem Polizeieinsatz.
„NYT“: „Jahr nationalen Traumas“
Das Zusammenfallen einer Gesundheits-, Wirtschafts- und Rassismuskrise habe Trumps Herangehensweise getestet und ihn nur Monate vor einer Wahl, in der er den Umfragen zufolge hinter seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden zurückliegt, beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen, heißt es in der „New York Times“. Und: „Solch ein Moment würde freilich jeden Präsidenten fordern. Es war ein Jahr nationalen Traumas.“
Trumps Umgang mit der aktuellen Situation ist jedenfalls, wie so vieles unter seiner Präsidentschaft, äußert ungewöhnlich für einen US-Präsidenten. David Gergen, politischer Kommentator und ehemaliger Berater von vier US-Präsidenten, schreibt dazu für CNN: „Seit den frühen Tagen der Republik bis jetzt haben wir Amerikaner uns darauf verlassen, dass unsere Präsidenten Schutz, Sinn und Trost bieten, vor allem in Zeiten der Krise.“ Immer wieder hätten vergangene US-Präsidenten von Franklin Roosevelt bis Barack Obama in ihrer Funktion als „Mourner in Chief“, also oberster Trauernder des Landes, in Krisenzeiten der Bevölkerung mit versöhnenden Worten Trost gespendet, schreibt Gergen, nicht so Trump.