Financial District in London
Getty Images/shomos uddin
Lugano-Übereinkommen

Großbritanniens offene Brexit-Flanke

Inmitten der Coronavirus-Krise steht Großbritannien außenpolitisch vor der nächsten großen Hürde: Noch im Juni muss sich entscheiden, ob die Übergangsphase des Brexit über das Jahresende hinaus verlängert wird. Spätestens jetzt muss Großbritannien den Beitritt zu zahlreichen wichtigen Abkommen vorbereiten – eine Aufnahme gilt aber alles andere als gesichert. So ist etwa das Lugano-Übereinkommen eine von vielen offenen Baustellen.

Großbritannien ist am 31. Jänner offiziell aus der EU ausgetreten, seither ist die Übergangsperiode in Kraft, in der Rechte und Pflichten Londons – etwa in Handelsfragen – großteils unverändert bleiben. Geht es nach dem britischen Premier Boris Johnson, ist eine Verlängerung dieser Phase über den 31. Dezember hinaus keine Option. Vor allem der von London anvisierte Ausstieg aus dem EU-Binnenmarkt wird wohl zu einer großen Hürde in vielen Bereichen.

So stellt sich etwa die Frage nach der Zuständigkeit von Gerichten bei grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten mit anderen europäischen Staaten. In zivil- und handelsrechtlichen Fragen ist das im Übereinkommen von Lugano geklärt – dieses stellt unter anderem sicher, dass Urteile in anderen Staaten vollstreckt und anerkannt werden können.

Mitglied des Binnenmarkts dürfte Kriterium sein

Neben den EU-Mitgliedsstaaten sind Island, die Schweiz und Norwegen Teil des Lugano-Rechtspaktes. Großbritannien hat bereits im April ein Ansuchen gestellt, unabhängiges Mitglied dieses Abkommens zu werden, wie die „Financial Times“ („FT“) schreibt. Doch die bisherigen Unterzeichner eint ein Kriterium: Sie alle haben Zugang zum EU-Binnenmarkt, entweder als EU-Mitglied oder als Mitglieder der Freihandelsvereinigung EFTA. Großbritannien lehnt hingegen einen EFTA-Beitritt nach dem Brexit ab.

Mann mit Aktenkoffer geht auf der Waterloo Bridge, im Hintergrund die Skyline des Financial District in London
Reuters/Hannah Mckay
London galt bisher als wichtiger Standort für internationale Rechtsstreitigkeiten

Genau das könnte für London zu einer unüberwindbaren Hürde werden. Unterstützung erhält die Johnson-Regierung zwar von den Mitunterzeichnern Schweiz, Island und Norwegen – doch die EU ist augenscheinlich zurückhaltender. Und für die Aufnahme in das Lugano-Übereinkommen bedarf es eines einstimmigen Beschlusses.

Die „FT“ beruft sich auf Diplomaten, wonach es schon im April hieß, dass es ein „Segen“ für den britischen Rechtssektor wäre, dem Ansuchen der Briten zuzustimmen. Es gebe in der Frage aber auf EU-Ebene keine Eile, schreibt die „FT“. Normalerweise werde über Ansuchen binnen eines Jahres entschieden – Großbritannien stellte den Antrag laut „FT“ Anfang April.

London bisher internationales Zentrum für Rechtsstreite

Momentan ist London noch durch die Übergangsphase vom Lugano-Übereinkommen erfasst, doch sobald diese am 31. Dezember endet, warnen Anwältinnen und Anwälte davor, dass britische Gerichtsurteile ihre Kraft in den EU-Rechtsprechungen zu verlieren drohen, schreibt die „FT“. Das könnte dazu führen, dass Großbritannien auf andere, fragmentiertere internationale Vereinbarungen angewiesen ist.

Bisher galt London als wichtiges Zentrum für internationale Handelsstreitigkeiten. Mit dem Ausscheiden aus dem Lugano-Abkommen könnte das aber dem Ansehen der Stadt schaden. Ein britischer Anwalt sagte gegenüber dem Blatt: „Es besteht kein Zweifel daran, dass größere Kosten und Schwierigkeiten entstehen könnten, die Anerkennung und Vollstreckung der Urteile der englischen Gerichte in den EU-27 zu erwirken.“

Britische Regierung verweist auf lange Tradition

Aus der britischen Regierung verweist man laut „FT“ auf die lange gemeinsame Geschichte bei der Zusammenarbeit in Rechtsfragen: „Wir haben mit den Ländern, die das Übereinkommen unterzeichnet haben, in Fragen des internationalen Privatrechts jahrzehntelang vor der Einführung des Binnenmarktes und der EU zusammengearbeitet.“ Das Lugano-Übereinkommen sei eine „bestehende multilaterale Konvention, die ausdrücklich allen Ländern der Welt offen steht“, zitiert die „FT“.

Noch viele Baustellen

Freilich ist die Frage nach der Zuständigkeit von Gerichten nur eine von vielen, die zum momentanen Zeitpunkt noch ungeklärt ist. Diese Woche gingen die Brexit-Beratungen zwischen London und Brüssel in die nächste Runde, um nach einer gemeinsamen Lösung für die Vielzahl ungeklärter Fragen zu finden. In den bisherigen Runden wurde kein Durchbruch erzielt.

Auch zum Ende der Runde am Freitag wurde kein Durchbruch verkündet. „Es ist meine Verantwortung, die Wahrheit zu sagen“, sagte der Brexit-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier. „Es gab in dieser Woche keine wesentlichen Fortschritte.“ Und er fügte hinzu: „Wir können nicht ewig so weitermachen.“ Dennoch schlug er eine weitere Verhandlungsrunde Ende Juni vor, in der man sich intensiv mit den wichtigsten Streitpunkten befassen solle.

Schon vor Beginn der Gespräche bezeichnete Barnier die Lage als ernst. Großbritannien versuche derzeit, das Beste aus den Handelsabkommen der EU mit anderen Ländern herauszupicken, ohne eine Gegenleistung anzubieten, sagte er der französischen Zeitung „Le Monde“. Um zu einem Ergebnis zu kommen, brauche es „mehr Realismus“.

Medien: Britische Zentralbank warnt vor Scheitern

Die britische Zentralbank rät unterdessen einem Medienbericht zufolge den heimischen Geldhäusern zu verstärkten Vorbereitungen auf ein Scheitern der Verhandlungen mit der EU über die künftige gemeinsame Beziehung. Dazu habe der Gouverneur der Bank of England, Andrew Bailey, in einer Telefonkonferenz mit den größten britischen Banken geraten, berichtete der Sender Sky News am Mittwoch.

Die Notenbank wollte sich nicht dazu äußern. Der für die in Großbritannien besonders starke Finanzbranche zuständige Minister John Glen sagte, der Sektor sei „Weltklasse“ – wie auch immer die Brexit-Verhandlungen ausgingen. „Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass wir als Branche nach wie vor gut aufgestellt sind – unabhängig von den konkreten Ergebnissen der Verhandlungen, die in der zweiten Hälfte dieses Jahres vor uns liegen“, sagte er in einem Onlineseminar.

Großbritannien will verbindliche Zusagen der EU über den Zugang zu den Finanzmärkten. So soll verhindert werden, dass Banken, Versicherer und Vermögensverwalter von der EU abgeschnitten werden. Viele Banken haben wegen des EU-Austritts Jobs von der Insel nach Kontinentaleuropa verlegt.