Bücher auf einem Holztisch
ORF.at/Lukas Krummholz
Sommerbücher 2020

Die Romane für den Sommer

Ob am Strand, im Freibad oder zu Hause, bei Schlechtwetter oder Sonnenschein: Bücher dürfen auch heuer im Sommer nicht fehlen. ORF.at bietet eine kuratierte Auswahl der packendsten Lektüren. Den Anfang machen die Romane, die mit österreichischem Lokalkolorit, feministischer Message und ungewöhnlichen Erzählformen aufwarten. In den nächsten Tagen folgen Sachbuch-, Krimi- und Kinderbuchtipps.

Trotzig-frecher Antiheimatroman

Mit ihrem Antiheimatroman hat Helena Adler vielleicht das Österreich-Debüt der Saison geschrieben: Ihre „Infantin“ ist ein Bauernkind, das in einer archaischen Welt mit bösen Zwillingsschwestern und aggressiv-apathischen Eltern aufwächst und in einem Notwehrakt schließlich den Stadl des Hofs anzündet. Aus der Perspektive des widerständigen Mädchens erzählt, geht die Salzburger Autorin hier mit ungeheurer Sprachwucht und Fantasierlust ans Werk. Das Resultat: heftig, witzig, sinnlich. (Paula Pfoser, für ORF.at)

Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links. Jung und Jung, 184 Seiten, 20 Euro.

Einmal Liechtenstein und immer wieder zurück

Johann Kaiser ist Liechtensteiner. Er ist auch: Waise, Weltenbummler, Erzähler, Hochstapler, Steuerdatendieb. „Für immer die Alpen“ handelt von seinem turbulenten Leben und seiner Suche nach Gerechtigkeit, in der er sich mit dem Treuhandparadies Liechtenstein und dessen Fürsten anlegt. Angelehnt an reale Begebenheiten liefert Benjamin Quaderer damit ein sprachlich und inhaltlich dichtes Debüt zwischen Schelmenroman und Spionagekrimi ab. Dabei greift er zu stilistischen Kniffen, die den Roman bisweilen zur Herausforderung machen, ihm aber auch immer wieder ein gewisses Etwas geben. Eine wilde Fahrt ist Johann Kaisers Odyssee zweifelsohne. (Saskia Etschmaier, ORF.at)

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. Luchterhand, 592 Seiten, 22,70 Euro.

Eine zweite Chance für Arthur

Es ist ein Stück Literatur von großer Sensibilität, das Birgit Birnbacher mit „Ich an meiner Seite“ gelungen ist. Arthur, ein 22-jähriger Ex-Häftling, wird von einem schrägen Bewährungshelfer mit unkonventionellen Methoden wieder fit für das Leben gemacht. Die studierte Soziologin Birnbacher hat ein feines Gespür für die Schranken, die unsere Gesellschaft durchziehen, und zeigt, wie ein junger, intelligenter Mann von ihnen aufgehalten wird, ohne auch nur einen Satz lang Klischees zu bedienen. (Florian Baranyi, ORF.at)

Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite. Zsolnay, 269 Seiten, 23,70 Euro.

Gemeinsam Grenzen überschreiten

Marianne, die Freundin des Ich-Erzählers in Xaver Bayers Roman in 20 Geschichten, ist eine wahre Femme fatale: reich und gefährlich. Stets stachelt sie ihn an, neue „Erfahrungen“ zu machen und „Abenteuer“ zu erleben, woraufhin die alltäglichsten Situationen komplett aus dem Ruder laufen und mitunter in Horrorszenarien umschlagen. Grenzüberschreitung lautet das gemeinsame Thema aller Storys, egal ob ein Perchtenlauf eskaliert oder Marianne spontan testet, „wie belastbar“ ihr Partner ist. Ein Buch voller Überraschungen. (Florian Baranyi, ORF.at)

Xaver Bayer: Geschichten mit Marianne. Jung und Jung, 180 Seiten, 21 Euro.

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„Trainspotting“ – einmal geht’s noch

Irvine Welsh will es noch einmal wissen. Renton, Spud, Sickboy und Begbie wollen es noch einmal wissen. Aber will man es auch als Leserin oder Leser noch einmal wissen? Nach der Lektüre muss man sagen: Der dritte Teil von „Trainspotting“ ist zwar mit Sicherheit kein Kultroman wie der erste Teil. Aber er ist Slapstick erster Güte, man liebt die vier in die Jahre gekommenen Burschen, die sich als Amateurchirurgen betätigen, neue Drogen ausprobieren und sich gegenseitig bescheißen wie eh und je. Kein Buch für literaturwissenschaftliche Exegese, aber definitiv eines für den Strand. (Simon Hadler, ORF.at)

Irvine Welsh: Die Hosen der Toten. Das große Finale von Trainspotting. Heyne, 480 Seiten, 22,90 Euro.

Jugend ohne Gott

Von den gesellschaftlichen Umbrüchen der 1970er Jahre spüren Edgar und sein Bruder Roman in ihrem Dorf in der westdeutschen Provinz wenig. Ihr Leben ist unspektakulär, aber voller Freiheiten, bis der Vater die Familie verlässt und alles auseinanderbricht. Die Teenager kommen in ein Heim, wo Deutschlands dunkles Erbe die Zeit überdauert hat. Mit seiner bildgewaltigen Sprache schickt der Autor Willi Achten einen auf eine Gefühlsachterbahn zwischen Wut, Nostalgie, Spannung und Hoffnung, und lässt einen diese beiden Brüder lange nicht mehr vergessen. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Willi Achten: Die wir liebten. Piper, 384 Seiten, 22,70 Euro.

Ein Journalist in der Midlife-Crisis

Eshkol Nevo ist ein israelischer Erfolgsautor und Starjournalist. Und er hat nun einen Roman über einen israelischen Erfolgsautor in der Midlife-Crisis geschrieben, der wirkt, als ob er weiß, wovon er spricht. Da liegt der gefeierte Prachtkerl im Hinterzimmer des Yogastudios, wo er heimlich schläft, weil die Gattin den Untreuen rausgehauen hat, und räsoniert über sein Leben, über die Vergangenheit, über Abschiede und darüber, wofür sich das alles lohnt. Seelenverwandte werden bewegt mitzuräsonieren, für die anderen ist die Form spannend: Der Roman ist in Antworten auf Fragen von Lesern des Autors geschrieben. Das funktioniert überraschend gut. (Simon Hadler, ORF.at)

Eshkol Nevo: Die Wahrheit ist. Dtv, 432 Seiten, 22,70 Euro.

Die Liebe der Millennials

Ihre durchgestylte Fernbeziehung führen Tanja und Jerome zwischen Berlin und Maintal. Sie, die hippe Schriftstellerin, deren Debütroman bereits Kultstatus erreicht hat, und er, der Webdesigner ohne Geldsorgen, der in der Nähe von Frankfurt den Bungalow seiner Eltern bewohnt. Wenn sie sich an den Wochenenden besuchen, verbindet sie ihre hedonistische Pragmatik, wie Autor Leif Randt es nennt. Mit „Allegro Pastell“ hat er das Lebens- und Liebesgefühl der Millennials zwischen Badminton und den Hochzeiten der anderen erhellend und ironisch auf den Punkt gebracht. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Leif Randt: Allegro Pastell. Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 22,70 Euro.

Zwei Frauen und ein Kind

Eine Alleinerzieherin, ihr Sohn, die Nachhilfelehrerin: Zwischen den Perspektiven dieser drei pendelt Martina Borgers Roman. Sprachlich holpert er dabei etwas, aber schließlich geht auch im Leben der Figuren nichts glatt: Die eine trägt mit Ende sechzig Zeitungen aus, weil die Pension nicht reicht. Die andere ist zu erschöpft, um zu sehen, dass die blauen Flecken am Körper ihres Sohnes nicht von Stürzen stammen. „Wir holen alles nach“ ist ein empathisches Plädoyer für Frauensolidarität. (Maya McKechneay, für ORF.at)

Martina Borger: Wir holen alles nach. Diogenes, 295 Seiten, 22,70 Euro.

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Epos für eine Widerständige

Dieses Buch ist kein gewöhnliches Porträt: Die deutsche Schriftstellerin Anne Weber erzählt hier aus dem Leben von Anne Beaumanoir, einer französischen Resistance-Kämpferin und Unterstützerin des algerischen Widerstands, eingepackt in die Gattung des Epos. Behäbig und altmodisch? Weit gefehlt. Webers Umgang mit der Versform ist beeindruckend frei, hochpoetisch und doch schnörkellos – ein wunderschönes Denkmal für eine Widerständige, eingepackt in die Weltgeschichte des letzten Jahrhunderts. (Paula Pfoser, für ORF.at)

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Matthes und Seitz Berlin, 208 Seiten, 22,70 Euro.

Dunkle Zukunft

Die Welt, in der Cecile Wajsbrots Erzählerin schreibt, ist schleichend eine andere, diktatorische geworden. Die Schriftstellerin soll im Auftrag eines unbekannten Anrufers ein Soundblog verfassen, Töne und Eindrücke sammeln. Ob sie dabei zur Unterdrückung beiträgt oder diese bekämpft, weiß sie nicht. Das Regime versucht, die Erinnerung an die Vergangenheit abzuschaffen. „Zerstörung“ ist eine dunkle Parabel auf den Beitrag jeder Einzelnen zur Demokratie, ein Roman der um Literatur, Erinnerung und Melancholie kreist. (Florian Baranyi, ORF.at)

Cecile Wajsbrot: Zerstörung. Aus dem Französischen von Anne Weber. Wallstein, 229 Seiten, 20,60 Euro.

Wie man leben soll

Drei Frauen zwischen Freundschaft, Liebe, Sex, Betrug, Mutterschaft und Feminismus – in „Was wir sind“ geht es ans Eingemachte. Hannah liebt ihr Leben in London und die Ehe mit Nathan, doch alles scheint wertlos zu sein ohne ein Kind. Cate ist nach der Geburt ihres Sohnes aufs Land gezogen und hat das Gefühl, sich mehr und mehr selbst zu verlieren. Und Lissa steht nach einer schwierigen Beziehung kurz davor, endlich als Schauspielerin erfolgreich zu sein. Autorin Anna Hope ist eine scharfsinnige Beobachterin und eine brillante Erzählerin. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Anna Hope: Was wir sind. Aus dem Englischen von Eva Bonne. Hanser, 368 Seiten, 22,70 Euro.

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Plädoyer für Solidarität

Laetitia Colombani erzählt in ihrem neuen Bestseller „Das Haus der Frauen“ die Geschichte von Solene und Blanche, die in verschiedenen Welten und verschiedenen Zeiten leben. Die eine ist Anwältin im Paris von heute und kämpft mit einem Burn-out. Die andere hat vor hundert Jahren gegen alle Widrigkeiten den „Palais de la femme“ gegründet, ein Haus, in dem misshandelte Frauen vor ihren Peinigern Zuflucht fanden. Eben jenes Haus ist das Herzstück dieses Romans, der ein Plädoyer für mehr Solidarität ist – nicht nur zwischen Frauen, sondern zwischen allen. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Laetitia Colombani: Das Haus der Frauen. Aus dem Französischen von Anne-Kristin Mittag. S. Fischer, 256 Seiten, 20,60 Euro.

Szenen aus der Einsamkeit

Jhumpa Lahiri teilt etwas mit Vladimir Nabokov: spät in ihrer literarischen Karriere wechselt sie ihre Literatursprache. In ihrer Muttersprache Englisch hat sie bereits 2000 den Pulitzer-Preis gewonnen, jetzt hat sie ihren ersten Roman auf Italienisch geschrieben. Er handelt von einer Akademikerin in ihren Vierzigern, die sich in ihre Einsamkeit versenkt. „Das Einzelgängertum ist mein Metier geworden“, heißt es an einer Stelle. In kurzen Textpassagen zeichnet Lahiri die Topografie einer namenlosen italienischen Stadt nach und leuchtet mit großer sprachlicher Präzision die Erinnerung ihrer solitären Erzählerin aus. (Florian Baranyi, ORF.at)

Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde. Aus dem Italienischen von Margit Knapp. Rowohlt, 160 Seiten, 20,60 Euro.