Bücher auf einem Holztisch
ORF.at/Lukas Krummholz
Sommerbücher 2020

Die Sachbücher für den Sommer

Coronavirus- und Klimakrise, Informationsgesellschaft und faschistische Tendenzen – die Sachbücher der Saison beschäftigen sich mit den brennendsten Themen der Zeit. Aber auch anderes kommt nicht zu kurz: Mit im Gepäck sind diesmal etwa Kunstfälschungs-True-Crime und amüsante Tipps für die perfekte Zeitreise.

Ist der Mensch „im Grunde gut“?

Andere, wie Steven Pinker, die sagen, alles werde für und durch die Menschheit immer besser, stehen unter Naivitäts- und Neoliberalismusverdacht: Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut. Nicht so der 32-jährige Historiker und Starjournalist Rutger Bregman, der durch seinen Kampf für die 15-Stunden-Woche unverdächtig ist. In seiner neuen Menschheitsgeschichte sammelt er Fakten zur These, dass der Mensch nicht erst durch die Zivilisation und durch die Wirtschaft „gut“ wird, sondern das Gute ohnehin in sich trägt, solange man es ihm nicht austreibt. Packend wie ein Thriller, toll geschrieben – viel nachzudenken und zu diskutieren. (Simon Hadler, ORF.at)

Rutger Bregman: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt, 480 Seiten, 24,70 Euro.

Lektüre für den Klimaschulstreik

Benedikt Narodoslawskys Begeisterung ist ansteckend. Begeistert ist er von der neuen Klimabewegung, die auf Greta Thunberg zurückgeht. „Inside Fridays for Future“ heißt sein Buch, in dem er – höchst fluffig und spannend – erklärt, was gerade wie und warum passiert, wenn die Jungen in Österreich mit ihren bis in die Nacht hinein gemalten Transparenten auf die Straße gehen, um eine lebenswerte Zukunft einzufordern. Klimajournalismus kommt oft einem Mahnen in der Wüste gleich. So liest sich das aber nicht. Bleibt zu hoffen, dass die Kettenreaktion, die Thunberg angestoßen hat, durch die Coronavirus-Krise nicht abgerissen ist. (Simon Hadler, ORF.at)

Benedikt Narodoslawsky: Inside Fridays for Future. Die faszinierende Geschichte der Klimabewegung in Österreich. Falter Verlag, 240 Seiten, 24,90 Euro.

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Landkarten, die die Klimawahrheit zeigen

Das Magazin „Katapult“ hat nun schon in mehreren Bänden die Welt in Form von eingefärbten, kommentierten und durch Piktogramme ergänzten Landkarten erklärt. Bilder sagen in dem Fall tatsächlich mehr als tausend Worte. Nun hat man sich der Klimathematik angenommen. Wie groß ist die Fläche, die aufgeforstet werden müsste, damit die Erde in Sachen CO2 klimaneutral ist? Wie rasant wächst der Algenteppich im Meer? Wie viele „Autokilometer“ CO2 verbraucht die Haltung eines Haustiers? (Spoiler: erschreckend viele) Und alle 2018 alleine in Deutschland zugelassenen SUVs ergeben einen Autokorso von 2.800 Kilometern Länge. Ein Buch als Augenöffner – zwei Stunden des Schmökerns, die sich lohnen. (Simon Hadler, ORF.at)

Katapult (Hg.): 102 grüne Karten zur Rettung der Welt. Suhrkamp, 203 Seiten, 22,70 Euro.

Ausflüge in die Weltgeschichte

Ein Wochenende in der DDR, bei Tyrannosaurus Rex oder im isländischen Mittelalter gefällig? Wer in Zeiten der Pandemie physische Ortsveränderungen eher meiden, auf das Reisen aber nicht verzichten will, der könnte es mit diesem Buch versuchen. Das „Handbuch für Zeitreisende“ ist ein witziger und gut recherchierter Reiseführer mit vielen Tipps für die gelungene Vergangenheitserfahrung. Im Pleistozän: garantiert unberührte Natur. In Paris 1855: eine gute Gelegenheit, das Alu-Campinggeschirr teuer zu verkaufen. Fehlt nur noch die Erfindung der Zeitmaschine. (Paula Pfoser, für ORF.at)

Kathrin Passig und Aleks Scholz: Handbuch für Zeitreisende. Von den Dinosauriern bis zum Fall der Mauer. Rowohlt, 334 Seiten, 20,60 Euro.

Tagebuch aus Wuhan

Coronavirus-Tagebücher gibt es viele, dieses hier ging um die Welt: Das „Wuhan Diary“ der chinesischen Autorin Fang Fang ist ein packendes Dokument direkt aus dem Zentrum der Pandemie. Ursprünglich als Blog erschienen, berichtet Fang hier aus der Perspektive der Eingeschlossenen, wie sie die Absperrung der Millionenmetropole erlebte. 59 Einträge dokumentieren die Verhältnisse zwischen quälend langem Ausharren, der Jagd auf Schutzmasken und dem nahenden Kollaps des Gesundheitssystems. Die Systemkritik ist moderat, für China aber überraschend deutlich. (Paula Pfoser, für ORF.at)

Fang Fang: Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Hoffmann und Campe, 349 Seiten, 25,70 Euro.

Nur noch kurz die Welt retten

Was tun gegen Faschismus? Gegen schmelzende Gletscher? Gegen Überwachung und Verknappung des Wohnraums? Wie sich wehren gegen eine Politik des Spaltens und des Herrschens und gegen Parolen, die den Verstand beleidigen? Sibylle Berg stellt diese und andere brennende Fragen unserer Zeit Expertinnen und Experten aus den Disziplinen Systembiologie, Neuropsychologie, Kognitionswissenschaft, Meeresökologie und Konflikt- und Gewaltforschung im Wissen, dass es darauf keine einfachen Antworten geben kann. Aber vielleicht den Ausblick auf eine positive Zukunft. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Sibylle Berg: Nerds retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen. Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten, 22,70 Euro.

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Intellektuelles Vermächtnis

Seit Februar 2016 muss die Welt ohne den Gelehrten, Schriftsteller und beispielhaften öffentlichen Intellektuellen Umberto Eco zurechtkommen. „Der ewige Faschismus“, eine Zusammenstellung von Vorträgen zwischen 1995 und 2012 tröstet für knapp 80 Seiten darüber hinweg. Wie Eco hier über die Geschichte und Elemente des europäischen Faschismus nachdenkt, um aktuelle faschistische Tendenzen klar als solche benennen zu können, wirkt direkt in die Gegenwart hinein. Was er über die Probleme der Intoleranz und Xenophobie gedacht hat, ist prägnant und gültig. Ein kleines intellektuelles Vermächtnis eines großen Denkers. (Florian Baranyi, ORF.at)

Umberto Eco: Der ewige Faschismus. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Hanser, 80 Seiten, 10,30 Euro.

Wie der Kapitalismus die Liebe ruiniert

Wie ermächtigende Aufklärung vor Liv Strömquist funktioniert hat? Keine Ahnung. Seit die Comics der Schwedin auf Deutsch erscheinen, ist es viel einfacher geworden, jungen (und älteren) Leuten die Kulturgeschichte der Vulva („Der Ursprung der Welt“) oder das mit dem Feminismus („I’m every Woman“) zu vermitteln. In „Ich fühl’s nicht“ geht es nun um die Mechanismen des Verliebens, was das mit dem Kapitalismus zu tun hat, und wie man sich davon befreien könnte. Strömquist verknüpft dazu soziologische, historische und psychologische Recherchen radikal unterhaltsam mit Popkultur. Man wünschte, das hätte in der eigenen Teenagerzeit schon existiert. (Magdalena Miedl, für ORF.at)

Liv Strömquist: Ich fühl’s nicht. Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant-verlag, 174 Seiten, 20,60 Euro.

Die mit der Chaiselongue

Ihr berühmtester Entwurf ist nicht unter ihrem Namen bekannt: Charlotte Perriand, Grande Dame des französischen Designs, war federführend bei der legendären Liege von Le Corbusier, ihr Beitrag wurde aber dem berühmten Kollegen untergeordnet. Immer wieder musste sie neu anfangen, eine mit vielen fantastischen Fotos ihrer Entwürfe, aber auch mit Perriands eigenen Aufnahmen ausgestattete Biographie von Laure Adler porträtiert in mehreren Essays die Designerin, Fotografin und Architektin als grundsätzlich neugierige, den Menschen zugewandte und mutige Frau. (Magdalena Miedl, für ORF.at)

Laure Adler: Charlotte Perriand – Ihr Leben als moderne und unabhängige Frau. Designerin, Fotografin, Visionärin. Aus dem Französischen von Martin Bayer. Verlag Elisabeth Sandmann, 192 Seiten, 45,30 Euro.

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Der große Schaden für die Kunst

Zwei Bücher beschäftigen sich mit kriminellen Energien auf dem Kunstmarkt. Hubertus Butin widmet sich in „Kunstfälschung – Das betrübliche Objekt der Begierde“ dem System der Entstehung und der Auswirkungen von Fälschungen und zeigt die unsichtbaren und manchmal auch unabsichtlichen Netzwerke von Fälschern, Verkäufern, Museen und Gutachtern auf. Die beiden Autoren von „Kunst und Verbrechen“, Stefan Koldehoff und Tobias Timm, streunen in ihrem breiter angelegten Buch durch alle möglichen Verbrechen von, durch und mit Kunst: Von Fälschung, Steuerhinterziehung, Diebstahl bis hin zu Kunst als Bezahlung für illegale Geschäfte kommen ihn ihrem Buch neben der Sachlichkeit auch Anekdoten nicht zu kurz. (Peter Bauer, ORF.at)

Hubertus Butin: Kunstfälschung. Das betrübliche Objekt der Begierde. Suhrkamp, 476 Seiten, 28,80 Euro.

Stefan Koldehoff und Tobias Timm: Kunst und Verbrechen. Galiani Berlin, 328 Seiten, 25,70 Euro.

Reiselustige Pflanzen

Der Botaniker Stefano Mancuso versteht es wie kein zweiter, Geschichten über Pflanzen zu erzählen. In seinem neuen Buch denkt er das Thema Migration ganz anders und zeigt, dass viele Einwanderer in der Pflanzenwelt höchst erfolgreich sind. So ist etwa die Tomatensauce, ein kulinarischer Klassiker Italiens, dort erst 1572 das erste Mal bezeugt. Das Gemüse kam 1544 nach Italien und musste erst von gelb zu rot mutieren, um zu werden, wie man sie heute kennt. Mancuso vermengt Fachwissen mit Esprit und Kulturgeschichte. Ein Vergnügen, besonders mit den Aquarellen von Grisha Fisher, die den Band zum Kunstwerk machen. (Florian Baranyi, ORF.at)

Stefano Mancuso: Die unglaubliche Reise der Pflanzen. Aus dem Italienischen von Andreas Thomsen. Klett-Cotta, 154 Seiten, 22,70 Euro.

Hölderlin – Schwelgen in Wort und Bild

Das Konzept ist denkbar simpel. Und es funktioniert undenkbar gut. Die Fotografin Barbara Klemm hat zum 250. Geburtstag des Dichters Hölderlin jene Orte aufgesucht, die er in seiner Poesie besungen hat. Naturerlebnisse werden gewahr, greifbar und in eine Welt übersetzt, in der gerade um die Zukunft der Natur gekämpft wird. Es sind Gesänge, die uns lehren, diese Natur zu lieben und von ihr zu lernen: „Siehe! das rauhe Thier des Feldes, gerne/Dient und trauet es dir, der stumme Wald spricht/Wie vor Alters, seine Sprüche zu dir, es/Lehren die Berge“; ein wundervoller Bildband mit Gedichten zum Schwelgen. (Simon Hadler, ORF.at)

Sandra Potsch, Wiebke Ratzeburg (Hg.): Hölderlins Orte. Fotografien von Barbara Klemm. Kerber, 125 Seiten, 24,70 Euro.

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Ein etwas anderer Erziehungsratgeber

Auch wer normalerweise mit Ratgeberliteratur nichts am Hut hat, wird von Philippa Perrys Erziehungsbuch begeistert sein. Die britische Psychotherapeutin erzählt von ihrer Arbeit und ihrem eigenen Familienleben und verrät, wie man schmerzliche Erfahrungen aus der eigenen Kindheit nicht weitergeben, sondern heilen kann. Perry erklärt undogmatisch und praxisnahe, worauf es zwischen Eltern und Kindern wirklich ankommt, und hilft einem dabei, den eigenen Eltern zu vergeben und seine Kinder nicht nur zu lieben, sondern sie auch zu mögen. (Sonia Neufeld, ORF.at)

Philippa Perry: Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen. Aus dem Englischen von Karen Schuler. Ullstein, 304 Seiten, 20,60 Euro.

Beten und Arbeiten als grundeuropäische Tugenden

Paolo Rumiz, der als Kriegsreporter für „La Repubblica“ bekannt wurde, schreibt eigenwillige Reisebücher und landet damit in Italien einen Bestseller nach dem Anderen. Mit seiner Mischung aus umfassender humanistischer Bildung, origineller Beschreibung und investigativ journalistischer Kritikfähigkeit macht er jedes Thema zum Pageturner. In „Der unendliche Faden“ begibt er sich auf eine spirituelle Reise in diverse Benediktinerklöster und findet in den Regeln des unkonventionellen Ordens die Grundlage für ein neues Post-Brexit-Europa, das er kulturell und nicht kapitalistisch denkt. (Florian Baranyi, für ORF.at)

Paolo Rumiz: Der unendliche Faden. Reise zu den Benediktinern, den Erbauern Europas. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio, 234 Seiten, 22 Euro.

Die Sicht auf den Körper im Neoliberalismus

Mit der „Selbstoptimierung“ und der Frage, was viele Menschen neben dem gesundheitlichen Aspekt ins Fitnesscenter treibt, beschäftigt sich Jürgen Martschukat in seinem Buch „Das Zeitalter der Fitness“. Was sagt der Zustand des Körpers über den sozialen Status und auch die Leistungsfähigkeit in Beruf, Sexualität und Freizeit aus? Auch dieser Frage geht Martschukat nach. Damit ist der Körper im Neoliberalismus angekommen und muss sich in dem System auch permanent beweisen: Denn wer fit ist, übernimmt Verantwortung für sich selbst und auch andere, so das Credo. Und der Historiker Matschukat erhellt diese Entwicklung, „wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde“ – so nämlich auch der Untertitels des Buches. (Peter Bauer, ORF.at)

Jürgen Martschukat: Das Zeitalter der Fitness. S. Fischer, 352 Seiten, 25,70 Euro.

Ohne Netzwerke kein modernes Leben

Von Internet bis zu Satelliten, vom U-Bahn-Netz bis zur Kanalisation, vom Wasser- und Stromnetz bis zur Versorgung mit Lebensmitteln: Der Mensch ist von oft nur teilweise sichtbaren Infrastrukturen abhängig. Ohne Netzwerke kein modernes Leben. In seinem bereits vor etwas längerer Zeit erschienem Buch „Alles im Fluss – die Lebensadern unserer Gesellschaft“ zeigt der Historiker Dirk van Laak die lebenswichtigen Netzwerke für Menschen und deren Entstehung auf. Van Laak legt dabei das Hauptaugenmerk auf die letzten 200 Jahre und erklärt, wie diese Netzwerke Mensch und Umwelt prägten und veränderten – denn ohne Netzwerke wären weder Kolonialismus noch Globalisierung möglich gewesen, argumentiert van Laak. (Peter Bauer, ORF.at)

Dirk van Laak: Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft. S. Fischer, 368 Seiten, 26,80 Euro.