„Noi Denunceremo“ („Wir klagen an“) – Angehörige von Coronavirus-Opfern in Bergamo, Italien
APA/AFP/Miguel Medina
CoV-Hotspot Bergamo

Angehörige von Toten „klagen an“

Bergamo ist in der Coronavirus-Krise zum tragischen Symbol geworden: Wochenlang gingen Nachrichten von hohen Todeszahlen, überfüllten Friedhöfen und Krankenhäusern und trauernden Angehörigen aus der lombardischen Stadt um die Welt. Nun erheben Hinterbliebene von Covid-19-Opfern schwere Vorwürfe gegen die Verwaltung. Ihnen zufolge hätten die hohen Todeszahlen verhindert werden können. Sie fordern Aufarbeitung und Konsequenzen.

Angehörige von Coronavirus-Opfern haben sich unter dem Namen „Noi Denunceremo“ („Wir klagen an“) zusammengeschlossen und wollen nun die Verwaltung für Fehlentscheidungen in der heißen Phase der Pandemie zur Verantwortung ziehen. Am Mittwoch brachten 50 Hinterbliebene Anzeigen wegen Fahrlässigkeit gegen Unbekannt ein. Es sind laut der Initiative die ersten von geplanten 200 Anzeigen. Dazu fand eine symbolische Demonstration vor dem Justizpalast der Stadt statt, bei der Menschen Fotos ihrer Angehörigen oder gar Urnen zeigten.

Der Zusammenschluss kritisiert, dass zu spät Maßnahmen ergriffen wurden, um die Verbreitung der Krankheit einzugrenzen. Die lombardischen Regionalbehörden werden unter anderem beschuldigt, die Gemeinden Nembro und Alzano Lombardo bei Bergamo Anfang März nicht zur Sperrzone erklärt zu haben, obwohl hier zahlreiche Todesopfer und Infektionsfälle gemeldet worden waren. Weil diese beiden Gemeinden mit zusammen etwa 25.000 Einwohnern nicht abgeriegelt wurden, habe sich die Infektion in der ganzen Region stark verbreitet, lautet der Vorwurf.

Angehörige von Coronavirus-Opfern mit Bilder der Verstorbenen
AP/Antonio Calanni
Die Bewegung der Hinterbliebenen formierte sich online, nun meldet sie sich auch in der physischen Welt zu Wort

Regierungsspitze wird einvernommen

Entsprechende Untersuchungen laufen bereits. Bei diesen gerät nicht nur die Regionalpolitik in Bedrängnis: Wie die Zeitung „Corriere della Sera“ am Mittwochnachmittag berichtete, sollen in der Causa auch Premierminister Guiseppe Conte, Innenministerin Luciana Lamorgese und Gesundheitsminister Roberto Speranza befragt werden. Conte wird am Freitag die Staatsanwaltschaft von Bergamo treffen. „Ich bin nicht besorgt, ich werde den Ermittlern über die Ereignisse der vergangenen Monate berichten“, sagte der Premier am Mittwoch vor Journalisten in Rom.

Hintergrund ist ein politischer Streit über die Zuständigkeit: Der Präsident der Lombardei, Attilio Fontana, hatte argumentiert, dass die Regierung in diesem Zeitraum für die Verhängung einer Sperrzone verantwortlich gewesen wäre. Die Regierung in Rom weist dies zurück und sieht die Verantwortung bei der lombardischen Regionalregierung.

Die Gräber von Coronavirus-Opfern auf dem Friedhof von Nembro bei Bergamo, Italien
Reuters/Flavio Lo Scalzo
Überfüllter Friedhof in Bergamo

Die Angehörigen kritisieren nun Fahrlässigkeit und Inkompetenz bei den Entscheidungsträgern. Zudem sei durch jahrelange Kürzungen von Mitteln im Gesundheitswesen die Epidemie verschärft worden. „Die Anzeigen richten sich nicht gegen das Gesundheitspersonal in den Krankenhäusern, das alles Erdenkliche zur Rettung von Menschenleben getan hat, sondern gegen die Politiker, die viele Lügen erzählt haben“, sagte die Rechtsanwältin Consuelo Locati, von der der Verband angeführt wird. Sie verlor durch das Coronavirus ihren Vater.

„Wollen, dass sich jemand entschuldigt“

„Wir wollen, dass jemand zurücktritt, dass sich jemand entschuldigt. Wir erwarten, dass jemand Verantwortung übernimmt, etwas, was bisher noch niemand getan hat“, so eine Betroffene, deren Vater ebenfalls an Covid-19 starb. Er sei Anfang März krank geworden, aber der Hausarzt habe einen Besuch abgelehnt, und eine Ambulanz sei tagelang nicht gekommen, um ihn ins Krankenhaus zu bringen. „Zu viele Patienten sind zu spät in Krankenhäuser gekommen, und das hat zu zu vielen Toten geführt.“

Luca Stefano Fusco ist der Initiator der Gruppe, die sich auf Facebook formiert hatte. Sein 85 Jahre alter Großvater starb an Covid-19. Fusco kritisierte in einem Pressegespräch, dass die Behörden „oberflächlich und amateurhaft“ gehandelt hätten. Die Gruppe wolle keine finanzielle Entschädigung, „auch weil alles Gold der Welt uns nicht zurückgeben kann, was wir verloren haben“. „Es geht nicht um Rache, es geht um Gerechtigkeit.“

Mehr als Hälfte hat Antikörper

Die Provinz Bergamo war das Epizentrum der Coronavirus-Krise in Italien. Weil die Krematorien nicht mehr alle Leichen verbrennen konnten, mussten die Särge mit Militärwagen abtransportiert werden. In der gesamten Lombardei wurden rund 16.300 Covid-19-Tote registriert, das ist mehr als die Hälfte aller Toten in Italien. Wie weit sich die Krankheit verbreitete, zeigten die Ergebnisse einer am Mittwoch veröffentlichten Antikörperstudie: Bei fast 57 Prozent von fast 10.000 getesteten Bürgerinnen und Bürgern konnte das Coronavirus nachgewiesen werden. Bei etwa 10.400 getesteten Mitarbeitern im Gesundheitswesen habe die Quote dagegen nur bei gut 30 Prozent gelegen, teilten die Behörden am Montag mit.

Die Zahl der neuen Coronavirus-Opfer in Italien hat sich unterdessen wieder leicht erhöht. Die Zivilschutzbehörde teilte mit, zuletzt seien 65 Menschen an Covid-19 gestorben, nach 53 am Vortag. Insgesamt seien damit bisher 33.964 Personen den Virusfolgen erlegen. Das ist – gemessen an den Angaben der jeweiligen Behörden – die vierthöchste Zahl weltweit hinter den USA, Brasilien und Großbritannien.