Verhandlungssaal im Verfassungsgerichtshof
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100 Jahre VfGH

Erzählungen aus dem Präsidentenamt

Österreich hat nicht nur eine 100 Jahre alte Verfassung, sondern auch eine Institution, die genauso alt ist: den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Mit dem Inkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes am 10. November 1920 nahm auch das Höchstgericht seine Arbeit auf. Anlässlich des Jubiläums sprach ORF.at mit dem amtierenden und den früheren Präsidenten sowie mit der früheren Präsidentin des VfGH ausführlich über ihre Amtszeiten.

In ihrer letzten Sitzung beschloss am 1. Oktober 1920 die damalige Konstituierende Nationalversammlung das Bundes-Verfassungsgesetz. Bereits vier Tage später wurde das Regelwerk im Staatsgesetzblatt kundgemacht. „Dieses Gesetz tritt am Tag der ersten Sitzung des Nationalrates in Kraft“, hieß es darin. Am 10. November trat der neu gewählte Nationalrat zusammen und läutete damit die Geburtsstunde der Verfassung und des Verfassungsgerichtshofs ein. Seitdem wachen Richter und Richterinnen über die Einhaltung der Grundordnung. Aber freilich: 100 Jahre gehen nicht spurlos an einer Institution vorüber.

Gerade die Jahre bis 1945 waren alles andere als einfach. Autoritäre Regime ließen den VfGH verkümmern oder schalteten ihn komplett aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den rassistischen Nazi-Gesetzen startete nicht nur die Republik nochmals neu durch, sondern auch das Höchstgericht. Mit ORF.at sprachen die zwei ehemaligen Präsidenten Ludwig Adamovich (1984–2002) und Gerhart Holzinger (2008–2017), die ehemalige Präsidentin Brigitte Bierlein (2018-2019) sowie der amtierende Präsident Christoph Grabenwarter (seit 2020) über ihre Erfahrungen im VfGH.

Brigitte Bierlein (ehemalige Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs) im ORF.at-Interview
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Brigitte Bierlein war zuerst Vizepräsidentin und später Präsidentin des VfGH

Bis auf Adamovich, der 1984 zum Präsidenten ernannt wurde, waren alle bereits vor ihrer Präsidentschaft im Höchstgericht als Mitglieder tätig: Holzinger seit 1995, Bierlein seit 2003 und Grabenwarter seit 2005. Karl Korinek, der nach Adamovich und vor Holzinger Präsident war und 2008 aus gesundheitlichen Gründen das Amt zurücklegte, starb im Jahr 2017. Seit 1920 gab es insgesamt neun Präsidenten – mit Grabenwarter zehn – und eine Präsidentin. Das Richtergremium selbst zählt vierzehn Mitglieder (inkl. Präsident und Vizepräsidentin, Anm.) und sechs Ersatzmitglieder, die einspringen, wenn es nötig ist.

Fachliche Expertise schließt Emotion nicht aus

Die Stimmung im Höchstgericht beschreiben die Präsidenten als kollegial und höflich. „Dem VfGH umgibt eine besondere Atmosphäre. Das muss man einmal erlebt haben, um es richtig darstellen zu können“, sagte Adamovich im Gespräch. Aber man habe es auch „mit sehr ausgeprägten Persönlichkeiten zu tun“. Der ehemalige Höchstrichter und heutige Berater von Bundespräsident Alexander Van der Bellen spricht von „mehr oder weniger selbstbewussten Herrschaften, mit denen nicht immer gut Kirschen essen gewesen ist“.

Auch Holzinger erwähnt, dass es zwischen den Mitgliedern auch mal zu „heftigen Diskussionen“ kommt. „Ich musste ja auch dafür sorgen, dass die eigene Meinung zum Durchbruch kommt. Was natürlich nicht immer gelungen ist und mitunter auch ein Anlass zur Frustration war“, sagte er. „Emotionale Ausbrüche gehörten dazu. Vor allem wenn man von seiner Rechtsmeinung einfach überzeugt ist.“ Es habe nur wenige Kolleginnen und Kollegen gegeben, die in sich so ruhten, dass sie nie oder selten emotional wurden. Allerdings seien die Debatten nie untergriffig oder beleidigend geworden.

Die Beratung über einen Fall führt das Richtergremium hinter verschlossenen Türen. Nur sehr selten dringt eine Information nach außen. Die Debatten basieren auf einem Entscheidungsentwurf, den ein Mitglied (Referent) des VfGH mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ausarbeitet. Nachdem der Referent den Entwurf vorgelesen hat, melden sich die Mitglieder per Handzeichen, sagte Bierlein. „Der bzw. die Vorsitzende erteilt in der Reihenfolge der Meldung das Wort. Dann wird sehr eingehend, mitunter auch durchaus emotional, über den Fall diskutiert.“

Ludwig Adamovich (ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs) im ORF.at-Interview
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Von 1984 bis 2002 war Ludwig Adamovich Präsident des VfGH

Je länger, desto akzeptierter

Beraten wird in den Sessionen, die viermal im Jahr stattfinden. Eine Session dauert zwischen drei und vier Wochen. „Die Beratungen in engem Zeitkorsett sind schon sehr anspannend, vor allem in der dritten Sessionswoche“, so Bierlein. Holzinger ergänzt: „Zu vergessen sind nicht die gruppendynamischen Konsequenzen, wenn man einen bestimmten Zeitraum dauernd aufeinanderpickt.“ Oft müsse man auch in den Nachtstunden arbeiten, um Entwürfe zu studieren oder umzuarbeiten. Dann wird über Passagen, Sätze und Wörter diskutiert. Die Mitglieder sprächen sich manchmal gegen eine bestimmte Formulierung aus, weil diese unter Umständen für spätere Fälle eine Richtung vorgeben könnte, sagte Bierlein.

Nach interner Abstimmung fällt die Entscheidung, die bei besonders brisanten Inhalten mündlich verkündet werden kann – etwa bei der Aufhebung der Stichwahl der Bundespräsidentenwahl 2016. Damals war Holzinger Präsident, Bierlein seine Vizepräsidentin und Grabenwarter Mitglied des VfGH. „Das war eine einmalige Situation. Wir haben wochenlang durchgearbeitet, um innerhalb von vier Wochen eine Entscheidung treffen zu können“, so Grabenwarter. Laut Holzinger hat der VfGH lange um eine Entscheidung gerungen. Als Präsident hatte der gebürtige Oberösterreicher kein Stimmrecht. Die Entscheidung bezeichnet er heute als „alternativlos“.

Die Entscheidung, die bundesweite Stichwahl aufzuheben, hatte ein weltweites Echo ausgelöst. Grabenwarter sagte – nicht mit Fokus auf diese Entscheidung –, dass je länger um eine Entscheidung gerungen wird, desto mehr wird diese nachher im Richtergremium „als eine gemeinsame Entscheidung akzeptiert und angenommen“. Es gehöre zum Stil des Höchstgerichts, dass man nicht versucht, im Nachhinein eine Entscheidung infrage zu stellen. „In den Beratungen diskutiert man intensiv, und wenn die Entscheidung gefallen ist, ist sie die Grundlage für spätere Entscheidungen.“

Gerhart Holzinger (ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs) im ORF.at-Interview
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Gerhart Holzinger übernahm nach Korinek das Amt des Präsidenten

Kritik prasselt auf VfGH nieder

Dass eine Entscheidung im VfGH auf Akzeptanz stößt, bedeutet freilich nicht, dass sie auch außerhalb des Gerichtshofs positiv aufgenommen wird. Der schärfste Angriff auf den VfGH – insbesondere auf Präsident Adamovich – stammte von Kärntens früherem Landeshauptmann Jörg Haider im Jahr 2001. Nach einem Erkenntnis über zweisprachige Ortstafeln in Kärnten warf Haider Adamovich vor, sich mit dem slowenischen Staatspräsidenten getroffen, aber das Gespräch mit der Kärntner Landesregierung verweigert zu haben. Der frühere VfGH-Präsident sagte, dass Haider „bei mir erschienen ist, um mich vor den möglichen Konsequenzen eines zu weit gehenden Urteils zu warnen“.

Damaliger Referent, jenes Mitglied, das den Entwurf ausgearbeitet hat, war Holzinger. Der VfGH entschied, dass die 25-Prozent-Regel für zweisprachige Ortstafeln in Kärnten zu hoch ist. „Die Entscheidung ist nicht einfach gewesen, es wurde lange diskutiert. Es mussten unterschiedliche Aspekte berücksichtigt werden“, sagte Holzinger. Haiders Sager, man müsse den Verfassungsgerichtshof endlich auf das demokratiepolitisch verträgliche Maß zurechtstutzen, sei ein Frontalangriff gewesen. Auch die Angriffe auf Adamovich hätten Spuren im Gerichtshof hinterlassen. Aber man habe daraus gelernt und den medialen Auftritt des VfGH professionalisiert.

„Gegen Kritik als solche kann man nichts sagen, sondern nur gegebenenfalls gegen die Art und Weise, wie die Kritik ausgeübt wird“, sagte Adamovich mit Blick auf polemische Äußerungen vonseiten der Politik. Anders sieht es in der Rechtswissenschaft aus. Dort wird zwar auch Kritik an Entscheidungen geübt, allerdings auch zuerst seziert. „Kollegen am Gerichtshof, die Universitätsprofessoren sind, veranstalten sogar von sich aus Seminare, in denen sie Entscheidungen zur Diskussion stellen“, erzählte Grabenwarter. Das ertrage das Höchstgericht nicht nur gerne, sondern man sei dafür dankbar, um nicht Gefahr zu laufen, „betriebsblind“ zu werden.

Kernaufgabe des VfGH

Der Verfassungsgerichtshof wacht über die Einhaltung der Verfassung und schützt die Grundrechte des Einzelnen gegenüber Verwaltung und Gesetzgeber. Er prüft Rechtsvorschriften auf Verfassungs- bzw. Gesetzesmäßigkeit, schlichtet Kompetenzstreitigkeiten und überprüft Wahlen.

Du statt Sie

Auf die Frage, ob sich die Atmosphäre ändert, wenn neue Mitglieder an den Sessionen teilnehmen, sagte Bierlein, dass eine neue Generation von Richtern und Richterinnen mitunter im persönlichen Umgang etwas anders als ihre Vorgängerinnen und Vorgänger agiere. „Als ich den Gerichtshof verlassen habe, war etwa der Gebrauch des Du-Wortes weitgehend üblich.“

Das war zu der Zeit, als ich Vizepräsidentin wurde, zumindest bei neu ernannten Mitgliedern, eher die Ausnahme", erzählte die Ex-Höchstrichterin. Der frühere Präsident Korinek habe ihr nach drei Jahren gemeinsamer Tätigkeit das Du-Wort mit dem Hinweis angeboten, er hoffe, dass sie das nicht als unangemessen empfinde.

„Kein heimlicher Sozialdemokrat“

Alle vier sagten im ORF.at-Gespräch, dass niemand aus der Politik je versucht habe, bei Beratungen zu intervenieren. „Es würde, wenn man die Persönlichkeiten im Gerichtshof kennt, sehr nach hinten losgehen“, so etwa Grabenwarter. Dass die Mitglieder von politischen Organen (Bundesregierung, Nationalrat und Bundesrat) nominiert und vom Bundespräsident bestellt werden, sei eine langjährige Praxis. Kritik daran werde es immer geben. „Der VfGH, so wie er jetzt mit diesen Regelungen in der Praxis besteht, ist ein Gremium mit hervorragenden Juristinnen und Juristen“, betonte Holzinger. Die juridische und die moralische Qualifikation seien die wichtigsten Kriterien.

Christoph Grabenwarter (Präsident des Verfassungsgerichtshofs) im ORF.at-Interview
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Mit Christoph Grabenwarter wurde Anfang des Jahres 2020 der elfte VfGH-Präsident ernannt

Auch Bierlein äußert sich ähnlich: „Egal, von welcher Partei ein Mitglied nominiert wurde, man merkt das im Gerichtshof nicht. Im Gegenteil: Es sind manchmal von einer als konservativ eingestuften Partei nominierte Richter und Richterinnen fortschrittlicher und umgekehrt. Es wird nicht entlang von parteipolitischen Linien abgestimmt oder gearbeitet, sondern streng nach rechtlichen Kriterien.“ Adamovich: „Wenn einmal einer bestellt ist, dann ist er nicht der Sklave der politischen Partei.“

Holzinger, der unter SPÖ-geführten Regierungen VfGH-Mitglied und -Präsident wurde, sagte „ganz offen dazu, weil immer so viel hineingeheimnisst wird: Der Umstand, dass ich 20 Jahre im Verfassungsdienst gearbeitet habe, zuerst unter Kreisky, dann unter Sinowatz und dann unter Vranitzky, hat dazu geführt, dass mich Regierungspolitiker gekannt haben“ und ihn auch deshalb nominiert hätten. Es sei ein politischer Prozess, aber keinesfalls so, dass dann im Sinne des bestellenden Organs agiert wird. „Also Karl Korinek ist in der Zeit der SPÖ-Alleinregierung Mitglied des Verfassungsgerichtshofs geworden, und niemand hätte dem Korinek unterstellt, dass er ein heimlicher Sozialdemokrat wäre.“

Plötzlich Kanzlerin

Holzinger und Adamovich waren vor ihrer Tätigkeit im Höchstgericht im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts. Der Rechtsdienst gilt als Sprungbrett für die juristische Karriere. Grabenwarter war als Professor an unterschiedlichen Universitäten tätig und Bierlein Generalanwältin in der Generalprokuratur. Im Oktober 2002 erhielt sie „überraschend einen Anruf mit der Frage, ob ich mir vorstellen könnte, mich für das Amt der Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs zu bewerben“, sagte Bierlein. Es war an einem Sonntag, und die Bewerbungsfrist für das Amt endete bereits am Montag.

„Das Gesuch habe ich noch am Sonntag auf meinem PC in der Generalprokuratur geschrieben. Aber zuerst musste ich mit Mühen die ‚Wiener Zeitung‘ mit der Ausschreibung finden. Am nächsten Tag bin ich mit dem DIN-A4-Blatt meiner Bewerbung ins Bundeskanzleramt gegangen“, erzählte die Juristin. Erst Wochen später habe sie erfahren, dass sie nominiert und von Bundespräsident Thomas Klestil ernannt werde. 2018 übernahm sie als erste Frau das höchste Amt im VfGH. „Ich glaube, es hat für junge Frauen eine Signalwirkung, wenn man beweist, dass Frauen auch Spitzenpositionen erreichen können.“

Dass sie wenig später von Bundespräsident Van der Bellen gefragt wurde, ob sie vorübergehend die Regierungsgeschäfte leiten will, war „sehr frappierend“, wie sie betonte. „Zuerst sagte ich: Um Gottes Willen, das kann ich nicht.“ Aber nachdem auch ihre interimistische Nachfolge mit dem damaligen Vizepräsidenten Grabenwarter geklärt war, habe sie den Bundespräsidenten am nächsten Tag angerufen und zugesagt.