Ludwig Adamovich, ehemaliger Verfassungsgerichtshofpräsident, im ORF.at-Interview
ORF.at/Christian Öser
Ludwig Adamovich

„Duell zwischen nassen Fetzen und Florett“

Ludwig Adamovich war knapp 20 Jahre Präsident des Verfassungsgerichtshofs. Unter seiner Amtszeit kam es zum bisher heftigsten Streit zwischen einem Politiker und dem Höchstgericht. Der VfGH könne nie auf dieselbe Weise zurückschlagen, wie er angegriffen wird, sagt Adamovich zu ORF.at. Es sei ein „Duell zwischen nassen Fetzen und Florett“.

ORF.at: Herr Adamovich, Sie waren insgesamt 19 Jahre lang Präsident des Höchstgerichts. Gibt es einen Moment, der für Sie besonders prägend war?

Ludwig Adamovich: Ich glaube nicht, dass man etwas Bestimmtes herausgreifen kann. Dem VfGH umgibt eine besondere Atmosphäre. Das muss man einmal erlebt haben, um es richtig darstellen zu können. Man hat es nämlich mit sehr ausgeprägten Persönlichkeiten zu tun, und es ist da nicht ganz leicht, immer die Balance zu finden.

Zu der Zeit, zu der ich an den VfGH gekommen bin, war eine ziemlich deutliche Spaltung zu sehen. Ich habe mich, so glaube ich, mit Erfolg bemüht, hier ausgleichend zu wirken. Es war nicht einfach, weil ich bekanntermaßen gegen den Willen der ÖVP berufen worden war, aber auch die der SPÖ nahestehenden Mitglieder waren keineswegs glücklich. Sie haben befürchtet, dass sich die an sich schon bestandene Polarisierung noch verschärfen wird.

Hinweis

Aus Gründen der Lesbarkeit wurden die transkribierten Interviewpassagen leicht geglättet, ohne jedoch ihren Sinngehalt zu verändern. Es kann zu kleinen Unterschieden im geschriebenen Text und Videoausschnitt kommen.

ORF.at: Wer waren diese „ausgeprägten Persönlichkeiten“?

Adamovich: Schauen Sie, es ist so: Als Verfassungsrichter ist man ja nicht Berufsrichter, so wie es die Richter des Obersten Gerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes sind. Man ist gewissermaßen nebenbei Richter und kann den angestammten Beruf daneben ausüben. Die einzigen, die das nicht dürfen, sind die Verwaltungsbeamten, die berufen worden sind. Zu denen habe auch ich gehört. Ich war damals nicht Professor, sondern kam vom Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes.

Die Mitglieder haben ihr eigenes Standing, das sie mitgebracht und zu einem guten Teil auch behalten haben. Das hat sich natürlich auch ausgewirkt. Das sind durchaus mehr oder weniger selbstbewusste Herrschaften gewesen, mit denen nicht immer gut Kirschen essen gewesen ist.

VfGH-Richter: „Selbstbewusste Herrschaften“

Der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, spricht über seine Zeit am Höchstgericht und dessen Mitglieder, die „selbstbewusste Herrschaften“ waren.

Und dann ist da noch was anderes dazugekommen: Meine Vorgänger sind mit einer einzigen Ausnahme ernannte Professoren gewesen, die ihren Lehrauftrag neben ihrer Tätigkeit am VfGH ausgeübt haben. In der Zeit zwischen den Sessionen im Gerichtshof waren sie also wenig zu sehen, während ich als Präsident die ganze Zeit da war. Das hat natürlich auch atmosphärisch die Dinge verändert, weil ich mich um Dinge gekümmert habe, um die sich meine Vorgänger nicht kümmern konnten.

ORF.at: Bedeutet wohl auch, dass sich die Verhandlungen schwierig gestalteten?

Adamovich: Also, natürlich, man bräuchte keine Beratungen, wenn alle derselben Meinung wären. Es kommt zwar vor, aber es ist nicht die Regel. Sondern es gibt halt verschiedene Auffassungen, mehr oder weniger ausgeprägt. Natürlich gibt es mehrere Kompromisse. Aber nicht politische Kompromisse, sondern ganz einfach Kompromisse, was bestimmte Formulierungen betrifft.

Man darf etwas nicht übersehen: Wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, dann durchaus nicht immer aus irgendwelchen politischen Gründen, sondern aus methodischen Gründen. In dieser Hinsicht hat es immer wieder Gegensätze gegeben. Das ist recht interessant, aber man muss halt schauen, dass man trotzdem zu einem brauchbaren Ergebnis kommt.

ORF.at: Wie oft gab es im VfGH unter Ihrer Präsidentschaft eine einstimmige Entscheidung?

Adamovich: Die Entscheidungen waren überwiegend einstimmig. Wobei zu sagen ist, dass diese Einstimmigkeit nicht immer von Anfang an gegeben ist. Es ist oft so, dass am Anfang der Beratungen gegensätzliche Standpunkte zutage treten, und man sich auf etwas einigt.

Ludwig Adamovich, ehemaliger Verfassungsgerichtshofpräsident, im ORF.at-Interview
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Ludwig Adamovich war wie sein Vater, Ludwig Adamovich senior, Präsident des Verfassungsgerichtshofs

Oder es kommt auch sehr häufig vor, dass es Zwischenabstimmungen über bestimmte Fragen gibt. Nicht in der Hauptsache, sondern in irgendwelchen Vorfragen. Dann pflegen diejenigen, die zuerst dagegen gestimmt haben, in dieser Teilabstimmung, wenn die Mehrheit dafür ist, für das Ganze zu stimmen. Daher muss man die Einstimmigkeit mit einem gewissen Vorbehalt sehen.

ORF.at: Hat sich die Spruchpraxis des VfGH zu Ihrer Zeit verändert? Wenn ich es so fragen darf: Ist der VfGH mit der Zeit gegangen?

Adamovich: Also, dass mit der Zeit gegangen ist … Ich weiß schon, was Sie meinen. Aber das hat sich erst alles nach meiner Präsidentschaft abgespielt. Was sich hingegen schon sehr wohl in dieser Zeit abgespielt hat, war eine Änderung oder eine Verlagerung der Grundrechtsjudikatur. Das hat vor allem die politischen Kräfte nicht sehr gefreut.

Zur Person

Adamovich wurde 1932 in Innsbruck geboren. Ab 1956 war er im Verfassungsdienst tätig, den er ab 1976 leitete. Adamovich war von 1984 bis 2002 Präsident des Verfassungsgerichtshofs.

ORF.at: Warum?

Adamovich: Aus zwei Gründen: Erstens hat man es überhaupt nicht gerne gesehen, dass sich der VfGH stärker in die Gesetzgebung einmischt. Und zweitens: Dann war es aber doch eher eine bestimmte politische Richtung, die darüber nicht glücklich war.

ORF.at: Springen wir ins Jahr 2001. Das Erkenntnis des VfGH über zweisprachige Ortstafeln in Kärnten gipfelte in einem heftigen Streit mit dem damaligen FPÖ-Chef Jörg Haider. Wie bewerten Sie diesen heute?

Adamovich: Es sind zwei Dinge, die man auseinanderhalten muss: Das eine ist die Bewertung der Entscheidung in juristischer Hinsicht, und das andere ist die persönliche Komponente. Die zweisprachigen Ortstafeln haben eine lange Vorgeschichte, die immer wieder neu aufgeladen wurde.

Adamovich über Jörg Haider: „Besondere Pointe“

Der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, spricht über seinen Streit mit dem damaligen Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider (FPÖ). Ausgangspunkt war ein Erkenntnis des VfGH im Jahr 2001, mit dem die 25-Prozent-Klausel für zweisprachige Ortstafeln aufgehoben wurde.

Man muss in Betracht ziehen, dass seit dem Abschluss des Staatsvertrages in Sachen Ortstafeln, die ja der eigentliche Quell dieser Auseinandersetzung waren, überhaupt nichts geschehen ist. Es hat keine gesetzliche Regelung gegeben. Und dann hat man im Jahr 1972 eine ziemliche radikale Lösung getroffen, damals von der SPÖ-Alleinregierung: 205 Ortstafeln in 36 Gemeinden sollen zweisprachig beschriftet werden.

Nach drei Monaten waren sämtliche Ortstafeln weg. Das war der berühmte Ortstafelsturm. 1976 ist das Volksgruppengesetz gekommen, mit dem man versucht hat, die Dinge in Ordnung zu bringen. Natürlich waren viele damit nicht einverstanden, aber eine Zeit lang war mehr oder wenig Ruhe. Bis man dann von slowenischsprachiger Seite aktiv geworden ist und die Sache zum Gerichtshof getrieben hat. Schon vor dem VfGH-Erkenntnis im Jahr 2001 bestanden also Ressentiments.

ORF.at: Und die persönliche Komponente?

Adamovich: Der Landeshauptmann Haider hat mir nach der Veröffentlichung des Erkenntnisses im Rundfunk vorgeworfen, ich hätte das Gespräch mit der Kärntner Landesregierung verweigert und mich stattdessen mit dem slowenischen Staatspräsidenten getroffen. Letzteres ist richtig, nur ist da nicht über die Ortstafelgeschichte gesprochen worden.

Ersteres war natürlich schon eine besondere Pointe, weil Landeshauptmann Haider in Person bei mir erschienen ist, um mich vor den möglichen Konsequenzen eines zu weit gehenden Urteils zu warnen. Und daraufhin habe ich ihn der Lüge geziehen, und das hat er nicht gerne gehabt.

ORF.at: Das Erkenntnis hatten viele aber genau als diesen radikalen Schnitt gesehen, zu dem es schon 1972 kam.

Adamovich: Ich hatte ja kein Stimmrecht. Es ist dann später behauptet worden, dass es ein Dirimierungsfall geworden ist. Bei Stimmengleichheit entscheidet der Präsident, weil seine Stimme dann den Ausschlag gibt. Aber es war nicht so. Wie auch immer. Es war dann sicher so, dass die bisherige 25-Prozent-Regelung für zweisprachige Ortstafeln zu hoch war. Ob man nun von zehn Prozent oder von 15 Prozent redet, darüber kann man sicher diskutieren.

Ludwig Adamovich, ehemaliger Verfassungsgerichtshofpräsident, im ORF.at-Interview
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Wenn die Politik Erkenntnisse des Höchstgericht kritisiert, kann der VfGH nicht auf dieselbe Art und Weise reagieren, so Adamovich

Es sind auch andere Rechtsfragen aufgeworfen worden, die eine Rolle gespielt haben. Das geht schon ein wenig in das Technische hinein. Es ist jedenfalls bis 2011 keine Ruh gewesen, als man gehofft hat, durch Verfassungsbestimmungen die Sache zu applanieren. Natürlich waren da auch nicht alle damit einverstanden.

ORF.at: Durch diesen Streit wurde der VfGH in einer bis dahin nicht gekannten Form ins Zentrum einer öffentlichen Debatte gebracht. Die Eskalationsspirale reichte bis zu einer Prüfung, ob ein Amtsenthebungsverfahren gegen Sie notwendig ist.

Adamovich: Also, das habe ich initiiert. Und zwar deswegen, weil ich Haider ausdrücklich herausgefordert habe, er soll mir den Tatbestand des VfGH-Gesetzes nennen, der gegen mich anzuwenden wäre. Und er hat den Tatbestand „seines Amtes unwürdig“ genannt. Ich bin also an den damaligen Vizepräsidenten (Karl Korinek, Anm.) herangetreten, der ein Verfahren einleiten sollte, wo es ausschließlich darum geht, ob ein Disziplinarverfahren gegen mich einzuleiten ist.

In diesem Verfahren ist der Generalprokurator zu hören, der Staatsanwalt der Republik, der beim Obersten Gerichtshof angesiedelt ist. Und der hat sich so eindeutig geäußert, dass man sein Gutachten einfach in die Entscheidung übernehmen konnte. Das war das, was ich mir gewünscht habe. Die Entscheidung fiel ganz klar gegen ein Verfahren aus.

ORF.at: Wann haben Sie mit dem Streit abgeschlossen?

Adamovich: Mit der Novelle 2011 kann man sagen. Die hat doch trotz Gegenstimmen einen weitgehenden Konsens gefunden. Aber es gibt auch heute noch Stimmen, die mit der Umsetzung des Erkenntnisses nicht einverstanden sind. Bestimmte Volksgruppenverbände, aber auch auf dem deutschnationalen Gebiet, werden Sie sicher welche finden, die die Lösung noch heute heftig kritisieren.

ORF.at: Kritik am VfGH gab es immer wieder, auch von Heinz Fischer, den Sie später in der Hofburg beraten haben. Er kritisierte etwa ein Erkenntnis zur Familienbesteuerung.

Adamovich: Das ist sehr lehrreich in verschiedener Hinsicht, vor allem deswegen, weil wäre man nach der Papierform gegangen, hätte es bei der damaligen Besetzung des VfGH dieses Erkenntnis niemals geben können. Das konnte man sich ausrechnen. Aber es hat es gegeben.

Ludwig Adamovich, ehemaliger Verfassungsgerichtshofpräsident, im ORF.at-Interview
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Vor seiner Zeit am Verfassungsgerichtshof war Adamovich Leiter des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramts

Die SPÖ war ziemlich empört, weil hinter der Regelung schon ein politischer Gedanke gestanden ist. Aus folgendem Grund: Es ging um die steuerliche Berücksichtigung von Unterhaltsleistungen für Kinder. Mit anderen Worten: Der, der viel verdient, muss für das Kind mehr zahlen als der, der wenig verdient. Daher hat es ein wenig was mit Umverteilung zu tun.

Dagegen wurde eingewendet, dass es sich um eine rein politische Frage handelt. Aber das ist sehr wohl eine juristische Frage, weil Menschen, die keine Kinder haben, steuerlich besser behandelt wurden als jene, die Kinder und eine Unterhaltsverpflichtung haben. Eltern wurden schlichtweg diskriminiert.

ORF.at: Wie haben Sie als VfGH-Präsident auf Kritik reagiert?

Adamovich: Kritik ist unvermeidlich. Gegen die Kritik als solche kann man nichts sagen, sondern nur gegebenenfalls gegen die Art und Weise, wie die Kritik ausgeübt wird. Da gibt es natürlich schon einen Unterschied zwischen sachlicher und polemischer Kritik.

Wenn ein Politiker angegriffen wird, dann wird er in der Regel mit denselben Mitteln zurückschlagen, mit denen er angegriffen wurde. Ein Gericht kann das nicht. Es ist wie ein Duell zwischen nassen Fetzen und Florett. Der VfGH kann schon reagieren, aber er muss wissen, wo seine Grenzen sind – und die sind andere, als die eines Politikers.

ORF.at: Sie haben öfters das Prozedere der politischen Besetzung im VfGH beklagt. Sind Sie auch heute noch dagegen?

Adamovich: Die bestehende Regelung geht zurück auf die Verfassungsnovelle 1929, die nicht von allen sehr geschätzt wird. Die ideale Möglichkeit der Besetzung gibt es nicht. Es wird immer etwas geben, woran man etwas aussetzen kann.

Wenn Sie mich fragen, die beste Lösung, die ich jedenfalls kenne, ist die italienische. Dort ist es so: Der Gerichtshof hat 15 Mitglieder, fünf ernennt der Staatspräsident ohne Vorschlag, fünf werden vom Parlament bestellt und die weiteren fünf von den anderen obersten Gerichten.

„Beste Lösung ist die italienische“

Für den früheren Verfassungsgerichtshof-Präsidenten Ludwig Adamovich ist italienische Form der Richterbestellung die „beste Lösung“.

Das ist eine gute Mischung, wobei insbesondere der Staatspräsident sich bisher immer bemüht hat, ausgleichend zu wirken. So ist sogar ein Kommunist ein halbes Jahr lang Präsident des Verfassungsgerichts gewesen. Das italienische Verfassungsgericht wählt seinen Präsidenten selbst, das auf drei Jahre. Natürlich ist man daran interessiert, dass möglichst viele zum Zug kommen.

ORF.at: Sie sagten mal, dass man mit der Politik gut sein muss, um VfGH-Richter zu werden.

Adamovich: Es ist so, dass es sowas wie einen politischen Hintergrund gibt. Aber der kann schon einmal sehr unterschiedlich sein. Wenn einmal einer bestellt ist, dann ist er nicht der Sklave der politischen Partei. Siehe etwa das Erkenntnis zur Familienbesteuerung.

Aber es ist das gute Recht eines jeden Richters, seine persönlichen Überzeugungen einzubringen. Er muss dann natürlich mit Widerstand rechnen. Aber dass die Entscheidungen gewissermaßen vorfabriziert werden, kann man sicherlich nicht sagen.

ORF.at: Es gibt auch einen Fall, wo ein ehemaliger Minister VfGH-Richter wurde. Sind Sie für Cooling-off-Phasen?

Adamovich: Ja, also für den Präsidenten und Vizepräsidenten besteht die vierjährige Pause ja. Es wäre wohl gut, es auch für die anderen Mitglieder so zu machen.