Brigitte Bierlein (ehemalige VfGH-Präsidentin und Bundeskanzlerin) im ORF.at-Interview
ORF.at/Christian Öser
Brigitte Bierlein

„So eine Frage kommt nur einmal im Leben“

Brigitte Bierlein ist 2003 zur ersten Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) bestellt worden, 2018 zur ersten Präsidentin und 2019 zur ersten Bundeskanzlerin. Weder das eine noch das andere sei erwartbar gewesen, sagt die ehemalige Höchstrichterin im Gespräch mit ORF.at. Ein Anruf an einem Sonntag im Oktober 2002 führte erst zur Bewerbung.

ORF.at: Wenn Sie auf 17 Jahre Verfassungsgerichtshof zurückblicken, was verbinden Sie mit dem Höchstgericht?

Brigitte Bierlein: Ich habe den Gerichtshof als besonders qualifiziertes Gericht mit sehr hohem Verantwortungsgefühl und einer ausgeprägten Expertise der Mitglieder erlebt. Es gibt ein Zusammengehörigkeitsgefühlt unter den Mitgliedern, das schwer zu beschreiben ist, das man aber relativ bald innehat. Die 14 Richterinnen und Richter sowie die sechs Ersatzmitglieder sind eine Gemeinschaft, die sehr wertschätzend und respektvoll miteinander umgeht.

Die Zahl der Fälle ist über die Jahre hinweg enorm gestiegen. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass inzwischen über 50 Prozent der neu anfallenden Beschwerden das Asyl- und Fremdenrecht betreffen. Der Gerichtshof hat ungefähr 5.000 Fälle und mehr pro Jahr zu bearbeiten, die durchschnittliche Erledigungsdauer beträgt nur rund vier Monate. Das ist auch international gesehen eine beachtlich kurze Zeitspanne.

Auch haben wir in dieser Zeit die internationalen Kontakte intensiviert, insbesondere zu den Verfassungsgerichten der Nachbarstaaten, aber auch zu den beiden Europäischen Gerichtshöfen, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Union. Der österreichische Verfassungsgerichtshof war weltweit der erste, dem eine konzentrierte Zuständigkeit in Bezug auf Normenprüfungen zukam. Dieses sogenannte österreichische System wurde Vorbild für zahlreiche Verfassungsgerichte innerhalb und außerhalb von Europa.

Hinweis

Aus Gründen der Lesbarkeit wurden die transkribierten Interviewpassagen leicht geglättet, ohne jedoch ihren Sinngehalt zu verändern. Es kann zu kleinen Unterschieden im geschriebenen Text und Videoausschnitt kommen.

In den 17 Jahren meiner Tätigkeit hat sich auch arbeitstechnisch einiges verändert. Der Verfassungsgerichtshof war das erste Gericht in Österreich, das den elektronischen Akt von Beginn des Verfahrens durch Einbringung von Schriftsätzen bis zur Ausfertigung der Entscheidung eingeführt hat. Während meiner Funktion fand aufgrund altersbedingten Ausscheidens fast aller Mitglieder ein großer Wechsel im Richtergremium statt.

ORF.at: Verändert sich der Gerichtshof, wenn neue Richter und Richterinnen ernannt werden?

Bierlein: Eine neue Generation von Richtern und Richterinnen agiert mitunter im persönlichen Umgang etwas anders als ihre Vorgängerinnen und Vorgänger. Als ich den Gerichtshof verlassen habe, war beispielsweise der Gebrauch des Du-Wortes weitgehend üblich. Das war zu der Zeit, als ich Vizepräsidentin wurde, zumindest bei neu ernannten Mitgliedern, eher die Ausnahme.

Höflichkeit: „Üblich, das Sie zu verwenden“

Die ehemalige VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein erzählt, dass es in der Zeit, als sie Richterin war, üblich gewesen sei, dass man sich siezte. Das habe sich allerdings im Laufe der Zeit verändert.

Es war damals durchaus üblich, dass Richterinnen und Richter, selbst wenn sie lange Zeit dem Gerichtshof angehörten, das Sie verwendet haben. Ich erinnere mich, dass mir der frühere Präsident Karl Korinek nach etwa drei Jahren gemeinsamer Tätigkeit bei einer Veranstaltung das Du-Wort mit dem Hinweis angeboten hat, er hoffe, dass ich dies nicht als unangemessen empfinde.

Denn er sei es nicht gewohnt, einer Dame das Du-Wort anzutragen. Ich habe selbstverständlich mit Freude angenommen, hätte ich es doch das Ergreifen der Initiative von meiner Seite aus auf Grund der höheren Funktion und des höheren Lebensalters des Präsidenten für unangebracht gehalten.

ORF.at: Sie waren schon vor dem Verfassungsgerichtshof als Richterin, Staatsanwältin und Generalanwältin tätig. Hatten Sie gegenüber anderen Mitgliedern einen Vorteil?

Bierlein: Das kann ich schwer beurteilen. Es ist sicher kein Nachteil, wenn man eine richterliche Ausbildung und damit die Unabhängigkeit schon seit Berufseintritt als selbstverständlich gelebt hat. Ich bin aber überzeugt, dass alle Richterinnen und Richter nicht nur über höchste fachliche Expertise verfügen – ist doch in der Verfassung eine mindestens zehnjährige qualifizierte juristische Berufspraxis festgeschrieben –, sondern auch völlig unabhängig arbeiten.

Brigitte Bierlein (ehemalige VfGH-Präsidentin und Bundeskanzlerin) im ORF.at-Interview
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Obwohl Bierlein lange Zeit Richterin war, musste sie das Handwerk am VfGH „erlernen“, wie sie sagt

Sobald ein Richter oder eine Richterin ernannt ist, wird die richterliche Unabhängigkeit vollwirksam. Die vorschlagenden Gremien würden vermutlich mitunter staunen, wenn sie sähen oder miterleben könnten, wie sich das vorgeschlagene Mitglied bei Abstimmungen bzw. in Diskussionen verhält.

Sie wissen wahrscheinlich: Präsident, Vizepräsident und sechs Mitglieder werden von der Bundesregierung vorgeschlagen, je drei von Bundesrat und Nationalrat. Wenn jemand neu in den Gerichtshof berufen wird, wird das Mitglied in gewisser Weise sozialisiert und erlebt die Art der Diskussion bzw. die Herangehensweise an die einzelnen Fälle. Ich musste quasi erlernen, wie man einen Entscheidungsentwurf am Verfassungsgerichtshof ausarbeitet und dann in der Beratung präsentiert.

Zur Person

Bierlein wurde 1949 in Wien geboren. Seit 1975 war sie in mehreren Positionen im Justizbereich tätig, darunter Generalanwältin in der Generalprokuratur. 2003 wurde sie Vizepräsidentin, 2018 Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs und 2019 Bundeskanzlerin.

ORF.at: Wie wurden Sie eigentlich darüber informiert, dass Sie von der damaligen Regierung als Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs vorgeschlagen werden?

Bierlein: Ich wurde im Vorfeld nicht informiert. Ich habe auch nicht im Traum an diese hohe Funktion gedacht. Mir war bekannt, dass die Stelle des Präsidenten vakant ist und die des Vizepräsidenten vakant wird, wenn – was absehbar war – der damalige Vizepräsident Karl Korinek zum Präsidenten aufsteigt. Es war ein Sonntag im Oktober 2002, ich war eben von einem Urlaub aus Griechenland zurückgekehrt und habe meinen Koffer am Flughafen vom Förderband genommen. In dieser Situation erhielt ich völlig überraschend einen Anruf mit der Frage, ob ich mir vorstellen könnte, mich für das Amt der Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs zu bewerben.

Ich fiel zunächst aus allen Wolken. Dann wollte ich wissen, wann die Bewerbungsfrist endet. Am Montag, wurde mir beschieden. Eine lange Überlegungszeit hatte ich somit nicht. Ich war zu dieser Zeit auch Präsidentin der Vereinigung der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Es stand eine große Reform des strafprozessualen Vorverfahrens mit einem herausfordernden Rollenwechsel der Staatsanwälte an.

Ich hatte durchaus ein etwas schlechtes Gewissen gegenüber den Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, den Stand in dieser schwierigen Situation gleichsam im Stich zu lassen. Auf der anderen Seite habe ich gewusst: So eine Frage kommt nur einmal im Leben. Wenn ich es nicht versucht hätte, hätte ich mir wahrscheinlich doch Vorwürfe gemacht.

ORF.at: Und dann haben Sie sich beworben.

Bierlein: Ja, ich habe mich dann am Montag beworben. Das Gesuch habe ich noch am Sonntag auf meinem PC in der Generalprokuratur, in der ich damals tätig war, geschrieben. Aber zuerst musste ich mit Mühen die „Wiener Zeitung“ mit der Ausschreibung finden. Am nächsten Tag bin ich mit dem DIN-A4-Blatt meiner Bewerbung ins Bundeskanzleramt gegangen.

Wie so üblich, wurde Stillschweigen vereinbart, was mir schwerfällt, weil ich ein offener Mensch bin. Dann habe ich längere Zeit nichts gehört, hielt weiterhin meine Vorträge für die Staatsanwälte und habe mein Referat in der Generalprokuratur weitergeführt. Im November 2002 entnahm ich dem Mittagsjournal, dass ich vorgeschlagen wurde und der Bundespräsident mich voraussichtlich mit Jänner 2003 ernennen werde. Die Staatsanwälte haben nicht nur Verständnis gehabt, sondern waren sehr erfreut, dass jemand aus ihrem Stand diese hohe und bedeutsame Funktion bekleiden wird.

ORF.at: Wie war die erste Session als neues Mitglied?

Bierlein: Man fiebert der ersten Session entgegen. Ich habe zunächst noch keine eigenen Akten bearbeitet und kein Referat gehabt. Das hat sich erst etwas später ergeben. Die Beratungen finden an einem durchaus kommunikationsfördernden runden Tisch – eine „Erfindung“ des früheren Präsidenten Ludwig Adamovich – im Beratungsraum statt. Gemäß der internen Sitzordnung war mein Platz rechts neben Präsident Korinek, die Plätze der übrigen Mitglieder ergeben sich aus dem Lebensalter.

Brigitte Bierlein (ehemalige VfGH-Präsidentin und Bundeskanzlerin) im ORF.at-Interview
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Die ehemalige VfGH-Präsidentin erzählt, dass das Du-Wort im Höchstgericht unüblich war

Es war für mich äußerst spannend und herausfordernd, weil ich bis dahin weder die Diskussionskultur kannte noch den genauen Ablauf der Beratungen. In einer Session werden zwischen 50 und 70 Plenarfälle in der Vollbesetzung aller 14 Mitglieder diskutiert und entschieden. Es wird ein Fall nach dem anderen abgearbeitet. Ein Fall kann sich über Tage hinziehen. Mitunter kann erst in der nächsten Session weiterberaten werden, wenn noch Fragen offen bleiben oder der Beratungsentwurf nach dem Ergebnis der Abstimmung umgearbeitet werden muss. Manche Fälle werden relativ rasch entschieden, mache eben nicht.

Später als Referentin, also als ein Mitglied, das ein Referat leitet und Entscheidungsentwürfe ausarbeitet, habe ich mir manchmal länger überlegt, in welche Richtung ich den Vorschlag ausarbeite. Ich hätte mitunter unterschiedliche Standpunkte, die dann auch von den Kollegen in der Beratung vertreten wurden, schriftlich begründen können. Es ist nicht immer alles „schwarz“ oder „weiß“. Es gibt verschiedene Schattierungen, gerade im Grundrechtsbereich, wo die Verhältnismäßigkeit, die Balance widerstreitender Grundrechte, durchaus verschieden gesehen werden kann. Durch die ausführliche Diskussion und den Austausch aller Argumente ist man am Ende aber sicher, dass eine Entscheidung, wenn sie einmal gefallen ist, sehr durchdacht ist.

ORF.at: Präsident Gerhart Holzinger hat im ORF.at-Gespräch gesagt, dass die Beratungen teils sehr emotional geführt werden.

Bierlein: An sich ist die Diskussionskultur eine sehr hohe, höflich und respektvoll. Nachdem ein Entwurf vom Referenten oder der Referentin verlesen wurde, melden sich die Mitglieder per Handzeichen. Der bzw. die Vorsitzende erteilt in der Reihenfolge der Meldung das Wort. Dann wird sehr eingehend, mitunter auch durchaus emotional, über den Fall diskutiert.

Natürlich, wenn man drei Wochen zum Teil von halb neun Uhr morgens bis sieben Uhr am Abend, manchmal auch an Samstagen, zusammensitzt und über wichtige Entscheidungen spricht, kann es schon emotional und hitzig werden. Es prallen verschiedene Meinungen aufeinander und jeder Referent und jede Referentin ist letztlich von der Richtigkeit des Vorschlags, den er oder sie nach reiflicher Überlegung ausgearbeitet hat, überzeugt und verteidigt den Entwurf oft mit großer Leidenschaft. Auch Verfassungsrichterinnen und -richter sind Menschen mit Gefühlen und keine Maschinen.

Die Beratungen in engem Zeitkorsett sind schon sehr anspannend, vor allem in der dritten Sessionswoche. Oft muss man auch in den Nachtstunden arbeiten, um die mitunter erst kurz vor der Beratung vorbereiteten Entscheidungsentwürfe zu studieren, oder weil ein abgestimmter Entscheidungsentwurf möglichst rasch, aber mit höchster Qualität im Sinne der Beratung umgearbeitet werden muss. Als Referentin versucht man schon, die vorbereiteten Fälle möglichst in derselben Session zu finalisieren. Manchmal gelingt das nicht, aber wenn es bei dringenden Fällen nötig ist, muss zum Teil auch die Nachtzeit aufgewendet werden. Das gehört einfach dazu.

ORF.at: Wenn immer wieder etwas am Entscheidungsentwurf geändert wird, ärgert sich der Referent bzw. die Referentin nicht?

Bierlein: Je mehr Meinungen oder je mehr Abrundungen des Bildes eingebracht werden, desto besser. Manchmal kommt es vor, dass im Zuge längerer Diskussion plötzlich ein Einwand kommt, an den davor niemand gedacht hat. Plötzlich bekommt die Diskussion eine ganz andere Richtung. Der bzw. die Vorsitzende lässt abstimmen, wenn der Fall so weit beraten wurde, dass keine Fragen offenbleiben.

Häufig werden zunächst prozessuale Fragen geklärt und abgestimmt, ehe über den materiellen Teil des Entwurfes beraten wird. Oft wird auch über einzelne Passagen oder Sätze abgestimmt. Die Richterinnen und Richter sprechen sich manchmal gegen eine bestimmte Formulierung aus, weil diese unter Umständen für spätere Fälle eine Richtung vorgeben könnte.

Manchmal wird sogar über einzelne Worte abgestimmt, auch das gibt es. Die Referentin, der Referent nimmt alles in den dann in überarbeiteter Form wieder vorgelegten Entwurf mit, der nochmals beraten wird. Wenn ein Entwurf keine Mehrheit findet, und die Referentin, der Referent den vom Vorschlag abweichenden Standpunkt nicht ausarbeiten möchte, wird vom Vorsitzenden ein die Mehrheitsmeinung vertretendes Mitglied zum Koreferenten bestimmt. Das kommt aber eher selten vor.

ORF.at: Der Verfassungsgerichtshof ist schon seit seiner Gründung – und schon davor das Reichsgericht – überwiegend männlich. Wie ist das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in den Beratungen?

Bierlein: Keine Frage, es sind weniger Frauen als Männer. Erst 1994 wurde erstmals eine Frau Mitglied des Verfassungsgerichtshofs (Lisbeth Lass, Anm.), zuvor war sie ein Jahr Ersatzmitglied. Ich war dann die vierte Frau, die erste Vizepräsidentin. Warum es noch immer keine Balance gibt, liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Richterinnen und Richter erst mit 70 Jahren aus dem Amt ausscheiden. Es muss eine Stelle frei sein, um sie nachbesetzen zu können. Ich freue mich jedenfalls sehr, dass zuletzt wieder eine Frau zur Vizepräsidentin ernannt wurde.

Männlich dominiert: „Eine Frage der Zeit“

Der VfGH ist seit jeher von Richtern dominiert, Richterinnen gab und gibt es weniger. Für die ehemalige VfGH-Präsidentin ist eine Frage der Zeit, bis sich die Geschlechterverteilgung „noch mehr“ ändert.

Ich kann nicht sagen, dass es Unterschiede in der Diskussionskultur gibt. Es gibt unterschiedliche Temperamente, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Frauen neigen vielleicht, wenn ich das so sagen kann, eher dazu, sich etwas mehr zurückzuhalten, auch mitunter kürzer in den Wortmeldungen zu sein. Aber das kann man auch nicht generalisieren. Das ist von Fall zu Fall verschieden.

ORF.at: Der Umkehrschluss könnte ja sein, dass sich die männlichen Kollegen vielleicht mehr in den Vordergrund drängen.

Bierlein: Also das würde ich nicht sagen. Es gibt auch unter den Herren große Unterschiede, zurückhaltende Charaktere und solche, die eben forscher sind.

ORF.at: Sie selbst wurden unter einer ÖVP-FPÖ-Regierung zum VfGH-Mitglied ernannt, unter einer ÖVP-FPÖ-Regierung zur Präsidentin.

Bierlein: Es sind der Verfassungsgerichtshof und alle Verfassungsgerichte, und nur diese, Grenzorgane zwischen Politik und Recht. Es ist die einzige Institution, die Gesetze prüfen und gegebenenfalls aufheben kann. Es ist bei allen Verfassungsgerichten so, dass die Politik ein Mitspracherecht bei der Bestellung hat. Ich sehe da kein Problem, solange die Unabhängigkeit ab der Ernennung uneingeschränkt gewahrt bleibt. Ich wüsste eigentlich auch kein besseres System.

ORF.at: Es ist nicht unüblich, dass Politiker und Politikerinnen die Bestellung eines bestimmten Richters oder einer bestimmten Richterin wegen einer möglichen Parteinähe kritisieren.

Bierlein: Es ist ein Verfassungsgericht, bei dem die Mitglieder eben von politischen Gremien vorgeschlagen werden. Man kann sich dem nicht entziehen, auch wenn man nie einer politischen Partei angehört hat. Lange Zeit haben nur SPÖ und ÖVP die Richterinnen und Richter nominiert. In der Zwischenzeit haben auch die Grünen ein Vorschlagsrecht, davor hatte es auch die FPÖ. Das ist eben ein Ausfluss des Wahlausgangs.

Aber noch einmal: Egal, von welcher Partei ein Mitglied nominiert wurde, man merkt das im Gerichtshof nicht. Im Gegenteil: Es sind manchmal von einer als konservativ eingestuften Partei nominierte Richter und Richterinnen fortschrittlicher und umgekehrt. Es wird nicht entlang von parteipolitischen Linien abgestimmt oder gearbeitet, sondern streng nach rechtlichen Kriterien.

ORF.at: Gibt es Entscheidungen, die für Sie besonders einschneidend waren?

Bierlein: Besonders hervorstechend war wohl die Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl im Jahr 2016. Es wurde erstmals eine bundesweite Wahl aufgehoben. Diese Entscheidung hat weltweit Echo gefunden. Einschneidend war auch das Erkenntnis aus 2007 über die Aufhebung der Erbschaftssteuer, die in der Folge bis heute nicht wieder eingeführt wurde.

Auch Diskriminierungsfälle, insbesondere gleichgeschlechtliche Paare betreffend, müssen hervorgehoben werden. Etwa die Entscheidung, mit der das Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Paare im Jahr 2015 für unsachlich erklärt wurde. Ebenso die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare im Jahr 2017.

Datenschutz spielt eine immer größere Rolle, es handelt sich um ein relativ junges Grundrecht. Die Entscheidung über die Vorratsdatenspeicherung, mit der eine diesbezügliche Regelung 2012 als überschießend und damit verfassungswidrig beurteilt und aufgehoben wurde, war wegweisend. Auch kann ich mich noch erinnern, dass wir im Jahr 2013 die Fragestellungen der Volksbefragung zur Wehrpflicht zu prüfen hatten. Das Vorbringen lautete: zu unpräzise. Allerdings hat der Gerichtshof entschieden, die Fragestellung war in Ordnung.

ORF.at: „Ehe für alle“, Adoptionen, Datenschutz: Hat sich Ihrer Meinung nach die Spruchpraxis des Richtergremiums in den vergangenen Jahren geändert?

Bierlein: Der Verfassungsgerichtshof ist per se ein durchaus fortschrittlicher Gerichtshof, der sich allerdings schon immer einer gewissen Selbstbeschränkung unterzogen hat. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers wird nach wie vor sehr ernst genommen. Nicht alles, was nicht nachvollziehbar, überflüssig oder unvernünftig ist, ist deshalb schon verfassungswidrig.

Brigitte Bierlein (ehemalige VfGH-Präsidentin und Bundeskanzlerin) im ORF.at-Interview
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Als ein einschneidendes Erkenntnis bezeichnete die Bierlein die Aufhebung des Adoptionsverbots für gleichgeschlechtliche Paare

Die Entscheidung über die Öffnung der Ehe wäre vor 20 Jahren in dieser Form wohl noch nicht möglich gewesen. Es ist immer auch ein gesellschaftspolitisches Abwägen der jeweiligen Grundrechte und jeweiligen Positionen anhand der Verfassungslage, vor allem vor dem Hintergrund des Gleichheitsgrundsatzes. Die Entscheidungen sind bis zu einem gewissen Grad ein Spiegelbild der Gesellschaft und gehen mit neuen Entwicklungen einher.

ORF.at: Hat der Verfassungsgerichtshof eine Abneigung gegenüber dem Verfassungsgesetzgeber?

Bierlein: Wenn das Parlament eine Verfassungsmehrheit hat, dann war es in der Vergangenheit leider durchaus üblich, dass Bestimmungen in den Verfassungsrang gehoben wurden, die nicht unbedingt mit der Verfassung, in der die Grundpfeiler und Säulen der demokratischen Gesellschaft normiert sein sollen, zu tun haben. In den 1980er Jahren betraf das etwa die Vergabe von Taxikonzessionen.

Gesetze im Verfassungsrang, um sie zu „immunisieren“

Um mögliche Gesetzesaufhebungen durch den VfGH zu umgehen, wurden in der Vergangenheit Gesetze in Verfassungsrang gehoben. „Ich halte das für eine Unsitte, wenn ich das so salopp sagen darf“, so die Ex-VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein.

Es kam immer wieder vor – derzeit ist das nicht der Fall –, dass der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz als verfassungswidrig erkannt hat und der Gesetzgeber mit Verfassungsmehrheit eine ähnliche oder gleichartige Bestimmung nochmals als Verfassungsgesetz beschlossen hat, um das Gesetz vor dem Verfassungsgerichtshof zu immunisieren. Ich halte das – salopp gesagt – für eine Unsitte.

ORF.at: 2018 sind Sie Präsidentin geworden. War die Nominierung überraschend, oder hat sich diese für Sie schon abgezeichnet?

Bierlein: Klar war es keinesfalls. Es war eine große Ehre für mich, die Krönung meiner juristischen Laufbahn. Ich habe immer versucht, mein Bestes zu geben und mit vollem Einsatz zu arbeiten. Ich hatte den Vorteil, dass ich schon relativ lange im Gerichtshof war, also die „Spielregeln“ und alle Richterinnen und Richter sowie die unterstützenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kannte. Ich wäre nicht mehr lange Präsidentin gewesen, weil die Altersgrenze nicht allzu ferne lag.

Für die Unabhängigkeit ist aus meiner Sicht von essenzieller Bedeutung, dass die Altersgrenze bei 70 Jahren liegt. Dass man, egal, wann man in den Gerichtshof kommt, in der Regel eine sehr lange Funktionsperiode vor sich hat. Ich halte es für sehr wesentlich, dass sich die Mitglieder keine Sorgen um die berufliche Zukunft machen müssen; das wäre anders, wenn man früher – vor Erreichen des Pensionsalters – aus dem Gerichtshof ausscheiden müsste.

ORF.at: Sie waren oft die erste Frau in einer höheren beruflichen Position. Sehen Sie sich selbst als Vorbild?

Bierlein: Ich glaube, es hat für junge Frauen eine Signalwirkung, wenn man beweist, dass Frauen auch Spitzenpositionen erreichen können. In meiner Jugend waren Frauen an der Spitze eine Rarität. Das hat sich inzwischen überall geändert.

ORF.at: Sie tauschten dann im Frühsommer 2019 ihr Präsidentinnenamt mit der Kanzlerinnenschaft. Ist es Ihnen schwergefallen?

Bierlein: Jein, es war ja eine sehr rasche Entscheidung notwendig, als mich der Herr Bundespräsident nach dem berüchtigten Video zu sich gebeten hat. Nach dem Misstrauensantrag gegen die gesamte frühere Bundesregierung habe ich mir schon gedacht, dass der Bundespräsident mit mir wahrscheinlich keine Verfassungsfrage erörtern wird, dazu hat er seinen hochqualifizierten Berater, den früheren Präsidenten Adamovich.

Als ich die Hofburg zu diesem Vieraugengespräch aufgesucht habe, habe ich mir zunächst gedacht: Wenn, dann könnte das Justizressort im Gespräch sein, weil ich sehr lange in der Justiz in allen Instanzen gearbeitet habe. Aber der Herr Bundespräsident hat mir gleich eröffnet: Es geht um die Kanzlerschaft. Das war für mich schon sehr frappierend. Zuerst sagte ich: Um Gottes Willen, das kann ich nicht. Ich habe noch nie politisch gearbeitet. Ich war nie in einer politischen Funktion.

Erster Gedanke zur Kanzlerschaft: „Ich kann das nicht“

Bevor die ehemalige VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein Bundeskanzlerin wurde, zweifelte sie daran, ob sie das Amt bekleiden soll. Sie sei noch nie in einer politischen Funktion tätig gewesen, so Bierlein. „Um Gottes willen, das kann ich nicht.“

Der Bundespräsident hat sinngemäß gemeint: Ja, das ist typisch Frau. Ich soll es mir zumindest überlegen. Das habe ich getan, aber gleichzeitig betont, dass ich den Verfassungsgerichtshof als besonders wichtige Säule unseres Rechtsstaates nicht ohne Gewissheit über die Leitung verlassen könne und daher den Vizepräsidenten erreichen muss. Dieser müsste gemäß Gesetz die Leitung interimistisch übernehmen. Aber ob das ad hoc geht? Es müsste nahtlos sein. Das hat der Bundespräsident eingesehen.

ORF.at: Sie haben also nicht sofort zugesagt?

Bierlein: Nein, ich bin nach dem Gespräch mit dem Bundespräsidenten zurück in den Verfassungsgerichtshof und habe Vizepräsident Christoph Grabenwarter, der inzwischen Präsident ist, erreicht. Er hat mir seine volle Unterstützung zugesichert und ebenso, dass er den Gerichtshof sofort übernehmen kann. Das war für mich einmal eine große Beruhigung.

Brigitte Bierlein (ehemalige VfGH-Präsidentin und Bundeskanzlerin) im ORF.at-Interview
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2019 übernahm Bierlein die Kanzlerschaft, obwohl sie im ersten Augenblick gar nicht wollte

Das habe ich dem Herrn Bundespräsidenten telefonisch eröffnet. Der Bundespräsident meinte sinngemäß: Na bitte, dann sind wir uns ja einig. Ich habe dann noch erbeten, eine Nacht „drüber zu schlafen“. Am nächsten Tag habe ich dem Bundespräsidenten meine Bereitschaft erklärt. Und unsere Verfassung ist da, so wie es der Bundespräsident trefflich ausgedrückt hat, „elegant“, indem sie dem Bundespräsidenten die Kompetenz zur Ernennung eines Bundeskanzlers oder einer Bundeskanzlerin auch in einer außergewöhnlichen Situation einräumt.

Mir war wichtig, dass ich dem Bundespräsidenten Expertinnen und Experten mit hoher Reputation als Regierungsmitglieder vorschlage und dass die Hälfte Frauen sind. Das ist gelungen. Unser Ziel war, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und aller hier lebenden Menschen in die Politik und in ihre rechtsstaatlichen Institutionen wiederherzustellen. Das Vertrauen hat durch die vorangegangene Geschichte doch gelitten. Wenn es uns in diesem mehr als halben Jahr gelungen ist, die Sicherheit zu geben, dass Österreich eine funktionsfähige, sachlich und unaufgeregt agierende Regierung, eine hervorragende Verwaltung hat und dass wieder Ruhe herrscht, dann ist es das größte Geschenk an unsere Regierung.

ORF.at: Bevor Sie gefragt wurden, hatten sich die Parlamentsparteien quasi um den Kanzlerposten gestritten. Haben Sie davon was mitbekommen?

Bierlein: Nein. Der Herr Bundespräsident hat Andeutungen in diese Richtung gemacht, aber ich habe das überhaupt nicht mitbekommen. Ich habe mich darum auch gar nicht gekümmert, ich war am Verfassungsgerichtshof glückliche Präsidentin und habe mich damals auf die nächste Session vorbereitet. Es war in der Tat ein Sprung ins kalte Wasser.

ORF.at: Würden Sie rückblickend als Kanzlerin etwas anders machen?

Bierlein: Ich glaube nicht. Ich bin weder auf Facebook noch auf Twitter, ich kenne die Kommentare in den Sozialen Medien nicht. Auf der Straße sind Menschen auf mich und meine Kolleginnen und Kollegen zugegangen mit den Worten: Wir sind so dankbar, dass Sie das machen. Es ist so ruhig geworden. Bis heute sprechen mich Menschen im positiven Sinn an. Das ist schon wohltuend.