Person in Schutzbekleidung auf einer Intensivstation
APA/AFP/Mauro Pimentel
Dexamethason

WHO sieht „lebensrettenden Durchbruch“

Nach einer ermutigenden Studie setzt Großbritannien das entzündungshemmende Medikament Dexamethason bereits zur Behandlung schwer kranker Covid-19-Patienten ein. In der Nacht auf Mittwoch äußerte sich nun auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beinahe euphorisch. Es handle sich um einen „lebensrettenden wissenschaftlichen Durchbruch“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf. Zugleich warnen andere Mediziner vor einem Hype und sehen noch viele Fragen offen.

Dexamethason sei die erste Behandlungsform, welche die Todesrate bei an Beatmungsmaschinen angeschlossenen Covid-19-Patientinnen und -Patienten nachgewiesenermaßen senke. Tedros sprach von „großartigen Neuigkeiten“ und gratulierte der britischen Regierung. Die WHO will nun auch ihre Richtlinien für die Behandlung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten aktualisieren.

Auch wenn die Ergebnisse mit Dexamethason noch nicht von anderen Expertinnen und Experten überprüft wurden, erklärten die Studienleiter der Universität Oxford, dass diese nahelegten, dass das Medikament sofort die Standardbehandlung für schwer erkrankte Patienten werden solle. Eine Forschungsgruppe unter Leitung eines Teams der Universität Oxford hatte als Teil einer von der Regierung mitfinanzierten Recovery-Studie das weithin verfügbare Medikament zehn Tage lang mehr als 2.000 mit dem Coronavirus infizierten Patientinnen und Patienten verabreicht.

Laut der Studie reduzierte Dexamethason die Sterblichkeit der von Beatmungsgeräten abhängigen Menschen um 35 Prozent. Bei Erkrankten, die lediglich Sauerstoff verabreicht bekamen, wurde die Sterblichkeit um ein Fünftel gesenkt. Bei Patientinnen und Patienten mit milderem Krankheitsverlauf zeigte Dexamethason hingegen keinerlei Wirkung. Zur Kontrolle untersuchten die Forscher 4.000 weitere Patienten, die nicht mit Dexamethason behandelt wurden. Detaillierte Überprüfungen des klinischen Versuchs wurden bisher allerdings noch nicht veröffentlicht.

Weit verbreitet und günstig

Dexamethason ist ein weit verbreitetes synthetisches Glucocorticoid (Nebennierenrindenhormon), das bei einer Reihe von Krankheiten zur Hemmung von Entzündungen eingesetzt wird. Es ist in einer Vielzahl von entzündungshemmenden Medikamenten enthalten. Es wird zur Behandlung von allergischen Reaktionen, rheumatoider Arthritis und Asthma angewendet. Nach Angaben der britischen Forscher könnten tägliche Dosen jeden achten Tod bei schwerstkranken Covid-19-Patienten verhindern.

„Das Ergebnis der Studie zeigt, dass Dexamethason bei Covid-19-Patienten, die beatmet werden oder Sauerstoff erhalten, Leben rettet, und das zu bemerkenswert niedrigen Kosten“, sagte der Wissenschaftler Martin Landray von der Universität Oxford. „Es wird für jedes Medikament sehr schwierig sein, das wirklich zu ersetzen, da man für weniger als 50 Pfund (rund 55,60 Euro) acht Patienten behandeln und ein Leben retten kann“, sagte er in einem Onlinebriefing zu Journalisten. Dexamethason sei kostengünstig, liege im Regal bereit und könne sofort verwendet werden.

Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock sagte, Großbritannien habe sich nach ersten Anzeichen des Potenzials von Dexamethason seit März mit dem Mittel bevorratet. Noch am Dienstag setzte die Regierung das Mittel auf die Liste der Standardverfahren des Nationalen Gesundheitsdienstes (NHS) gegen Covid-19.

„Niedrig dosierte Kortisontherapie“

Der österreichische Intensivmediziner Walter Haslibeder warnte am Mittwoch allerdings vor einem vorschnellen Hype. Bei der in der Studie beschriebenen Behandlung – die noch gar nicht in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlicht wurde – handelt es sich laut dem zukünftigen Präsidenten der österreichischen Fachgesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) um eine „niedrig dosierte Kortisontherapie“.

An sich sei unter dieser Dosierung ein derart großer Effekt mit dem Medikament eher nicht zu erwarten. „Diese Steroidtherapie bei verschiedenen sehr schweren Infektionen wurde immer wieder versucht“, sagte Hasibeder. Längst nicht immer seien damit Erfolge erzielt worden. Man habe diese Strategie auch immer wieder verlassen.

Gebremste Immunantwort

Dexamethason wirkt nicht gegen das Virus selbst. Bei Intensivpatienten mit schwerem Lungenversagen erhoffen sich Medizinerinnen und Mediziner aber die Dämpfung einer überbordenden Entzündungsreaktion, wie sie beispielsweise auch im Rahmen eines septischen Schocks auftritt. Hier könne die Gabe von Kortison einen positiven Effekt haben, sagte Hasibeder. Die Wirkung dürfte aber auch in diesen Fällen quasi über einen Umweg zum Tragen kommen. Zur Aufrechterhaltung des Blutdrucks bekommen diese Patienten oft hoch dosiert adrenalinartige Medikamente. Kortison kann hier einem Wirkungsverlust dieser Arzneimittel gegensteuern helfen.

Kortison in höherer Dosierung dämpft allerdings auch die Immunabwehr. „Das ist ein zweischneidiges Schwert“, sagte Hasibeder. Eine gebremste Immunantwort könnte dazu führen, dass das Virus langsamer eliminiert wird, sagte dazu Bernd Salzberger, Bereichsleiter Infektiologie am Universitätsklinikum Regensburg und Präsident der deutschen Gesellschaft für Infektiologie.

Gefahr von Superinfektionen

Laut dem Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin an der München Klinik Schwabing, Clemens Wendtner, muss auch noch geprüft werden, inwieweit die Erfolge von Steroiden wie Dexamethason mit schweren Infektionen anderer Art – Superinfektionen – erkauft werden müssen. Der Hintergrund: Viele Patientinnen und Patienten, die mit einer Covid-19-Erkrankung auf der Intensivstation betreut werden, haben überdies mit bakteriellen Infektionen zu kämpfen. Ein gedämpftes Immunsystem kann zusätzlichen Erregern weniger entgegensetzen. Und für Menschen mit bakteriellen Superinfektionen könnte das Hinunterfahren des Immunsystems mehr Schaden als Nutzen haben.

Spannend werde sein, ob andere Interventionen gegen ein überschießendes Immunsystem wie der Einsatz von teuren Interleukin-1- oder Interleukin-6-Rezeptor-Blockern vergleichbare Effekte haben, so Wendtner weiter. „Angesichts des insgesamt nur kleinen, wenn auch signifikanten Herabsetzens der Sterblichkeitsrate durch Steroide bleibt die beste Medizin die Verhinderung der Covid-19-Erkrankung durch einen effizienten Impfstoff.“

Weltweite Suche nach Impfstoff

Ein solcher Impfstoff ist aber noch Zukunftsmusik. Wenngleich sich zuletzt die Meldungen über vielversprechende erste Ergebnisse mehrten. Am Dienstag berichteten Wissenschaftler der China National Biotec Group über Erfolge mit einem Impfstoffkandidaten in einer klinischen Studie. Nun sollten weitere späte klinische Studien auch im Ausland mit dem Impfstoff gestartet werden. China erprobt fünf SARS-CoV-2-Impfstoffkandidaten in klinischen Studien am Menschen, mehr als jedes andere Land.

Aber auch in vielen anderen Ländern wird mit Hochdruck an einem Impfstoff geforscht. Vorne mit dabei ist der US-Biotech-Konzern Moderna, der mit seiner klinischen Studie Mitte März begann. Moderna hat sich wie Biontech und CureVac auf Impfstoffe auf Basis der Boten-RNA (mRNA) spezialisiert. Sie soll den menschlichen Zellen die Information zur Produktion von Proteinen und damit zur Bekämpfung der Krankheitserreger vermitteln. Ein Impfstoff auf dieser Basis kann möglicherweise schneller entwickelt und hergestellt werden als herkömmliche. Bisher steckten sich nach den offiziellen Zahlen weltweit über acht Millionen Menschen mit dem Virus an. Es forderte bisher über 436.200 Menschenleben.