Stanisław Grzesiuk
Verlag Prószyński i S-ka
„Fünf Jahre KZ“

Wie Stanislaw Grzesiuk die Lager überlebte

Wer sich an die Regeln der SS hält, stirbt, weil das der Plan ist: Die Erinnerungen des Warschauer Musikers und Volkssängers Stanislaw Grzesiuk an seine Jahre in den Konzentrationslagern Dachau, Mauthausen und Gusen sind der ebenso drastische wie trotz allem humorvolle Bericht eines Überlebenden.

„Wer nicht schrieb ‚Ich bin gesund und es geht mir gut‘, bekam fünfundzwanzig auf den Arsch und für mehrere Monate Schreibverbot“, erinnerte sich Stanislaw Grzesiuk an das Konzentrationslager Gusen. Zwölf Jahre nach der Befreiung bat ihn ein polnischer Verlag, seine Erinnerungen aufzuschreiben, 1958 war das Buch unter dem Titel „Fünf Jahre KZ“ in Polen erschienen. Das Echo war gewaltig. Nun liegt das Buch erstmals auf Deutsch vor. Es ist eine beispiellose Lektüre.

Grzesiuk war 22 Jahre alt, als er ins Konzentrationslager deportiert wurde. Aufgewachsen war er im rauen Warschauer Arbeiterviertel Czerniakow, er war gelernter Elektromechaniker, Autodidakt auf der Mandoline, ein fantastischer Geschichtenerzähler und in Warschauer Hinterhöfen berüchtigt für seine „Kopfstöße“, mit denen er jede Schlägerei gewann. Ins KZ kam er, nachdem er im polnischen Widerstand von den Deutschen aufgegriffen und in den Arbeitsdienst gezwungen worden war, aus dem er zu fliehen versucht hatte.

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Pass von Stanisław Grzesiuk
Verlag Prószyński i S-ka
Stanisław Grzesiuks Ausweis als Mitglied des Schriftstellerverbandes, ausgestellt 1960
Stanisław Grzesiuk
Verlag Prószyński i S-ka
Das Banjo tauschte Grzesiuk im KZ Gusen für 400 Zigaretten – „und das in Zeiten des Zigarettenmangels, als ein Brot vier Zigaretten kostete“
Brief von Stanisław Grzesiuk
Verlag Prószyński i S-ka
Grzesiuk schrieb seine Erinnerungen 1958 in einem Sanatorium auf, in dem er wegen seiner Tuberkulose war
Stanisław Grzesiuk
Verlag Prószyński i S-ka
Grzesiuk in jungen Jahren, als er sich einen Ruf als Schläger in Hinterhöfen gemacht hatte
Stanisław Grzesiuk
Stanisław Grzesiuk
Stanisław Grzesiuk verstarb an Tuberkulose, mit der er sich im KZ angesteckt hatte

Von Dachau nach Mauthausen

Hier, bei der Deportation nach Dachau, setzen die Aufzeichnungen ein. Grzesiuk schreibt über einen Mithäftling im Gefängnis, der ihm mit seinen Verteidigungsreden der Deutschen auf die Nerven geht: „Er beendete diesen Satz nicht mehr, weil er vom Schemel flog, von meiner Faust zwischen die Augen getroffen. Ich hatte ihm ordentlich eine gerumst, denn nach einigen Minuten konnte er kaum noch aus den Augen schauen, so waren sie zugeschwollen.“ Anderen, Schwächeren, hilft er ohne Zögern, auch wenn er sie zwischendurch als „Trottel“ beschimpft.

Buchcover „Fünf Jahre KZ“
New Academic Press
Stanislaw Grzesiuk: Fünf Jahre KZ. Übersetzt von Antje Ritter-Miller, erschienen in der Reihe Mauthausen-Erinnerungen. New Academic Press, 480 Seiten, 29,90 Euro.

Nach einigen brutalen Monaten in Dachau, wo er bereits Zeuge von Folterungen und Morden durch die SS vor allem an Juden wurde, schmuggelte er sich in einen Transport nach Mauthausen, in der Hoffnung, dass es dort nur besser sein kann, doch schon beim Marsch ins KZ starben Häftlinge an den Prügeln der SS. „Dachau, die freien Baracken – das war das Paradies gewesen. Hier würde es erst richtig lustig werden“, schreibt er mit bitterer Ironie.

Später kam Grzesiuk ins Lager Gusen, das zu diesem Zeitpunkt noch in Aufbau war. Hier blieb er bis zur Befreiung am 5. Mai 1945, und hier gelang es ihm, sich auch aufgrund seiner musikalischen Begabung eine Position zu verschaffen, in der er überleben konnte. Nach Gründung einer Lagerkapelle, die vor allem Warschauer Lieder spielte und für die Grzesiuk die Texte schrieb, wurden er und seine Bandkollegen im ganzen Lager berühmt.

Fast jeder zweite Satz in Grzesiuks Aufzeichnungen ist eine Pointe, dazwischen beschreibt er detailliert den Lageralltag. Er bezeugt die entsetzlichsten Folterungen und Morde durch Kapos und SS und berichtet fast beiläufig, wie Häftlinge von SS-Angehörigen zu inszenierten Selbstmorden oder zur „Flucht“ gezwungen und erschossen wurden, und auch, wie schnell er angesichts dieser Morde abstumpfte. Dabei ist die Erzählung anschaulich, mit enormer Farbigkeit und großem Detailreichtum, es ist keine mühevolle Lektüre, so bestürzend viele Passagen sind.

Humor und Grauen

Die Übersetzerin Antje Ritter-Miller, die sich über mehrere Monate mit den Aufzeichnungen auseinandergesetzt hat, sagt dazu: „Für mich ist es so, dass Grzesiuks Humor einem beim Lesen die Annahme der beschriebenen Gräueltaten erleichtert.“ Es gibt nur eine Stelle, über die Ritter-Miller schwer hinwegkommt, sagt sie im ORF.at-Gespräch: „Als er in Gusen bereits eine feste, bessere Position hatte und Mittel, um sich alles zu beschaffen, beschreibt er, wie er sich da ein Armband für seine Häftlingsnummer aus Menschenknochen anfertigen ließ.“

Trotzdem sei dieser Abschnitt sehr wichtig, „weil er klarmacht, dass, wer nie so lange unter solchen Umständen wie Grzesiuk gelebt hat, eben nicht wirklich verstehen wird, was das mit einem macht. Deswegen ist es besser, sich mit moralischen Bewertungen zurückzuhalten.“ Ritter-Miller übersetzte den Text auf Basis der polnischen Neuausgabe aus dem Jahr 2012. Dass es nicht schon vor Jahrzehnten eine deutsche Übersetzung gegeben hat, dürfte auch an Grzesiuk selbst gelegen sein, den die Sprache der Täter aus dem KZ „rasend machte“, wie sein Biograf im Vorwort schreibt.

„Was soll’s, er macht mir ja kein Kind“

Dass das Buch nun vorliegt, ist nicht nur literarisch, sondern auch für die historische Einordnung ein Glücksfall, sind Stanislaw Grzesiuks Aufzeichnungen doch einzigartig, besonders was intime Details betrifft, sagt der Historiker Gregor Holzinger von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen: „Im Jahr 1958 war es im Grunde skandalös, wie er auf Homosexualität im Lager eingeht und sich selbst auch nicht ausnimmt, obwohl er selbst einem heteronormativem, eher homophoben Milieu entstammt.“ Grzesiuk beschreibt da, wie auch ihm auf einmal junge Männer zu gefallen begannen.

„Er analysiert auch die Gründe für homosexuelle Beziehungen im Lager: Zum einen prostituieren sich jüngere Männer bei Kapos, um bessere Überlebenschancen zu haben. Und andere suchen eben Zärtlichkeit und Befriedigung. Dass Männer im Lager miteinander einvernehmlich Sex haben, das liest man sonst praktisch nirgends“, so Holzinger. „Was soll’s, er macht mir ja kein Kind“, zitiert Grzesiuk da einen Mithäftling.

Prinzip Vernichtung durch Arbeit

Zum anderen ist Grzesiuks Humor einzigartig und provoziert beim Lesen immer wieder Gelächter, etwa als er in Dachau ankommt und in der Strafkompanie mit den anderen schuften sollte, nachdem die Häftlinge sich selbst Zielscheiben auf Rücken und Brust der Häftlingskleidung nähen mussten. „Der Kapo trieb uns zur Arbeit an, indem er fast die ganze Zeit schrie: ‚Los, los! Schnell, schnell!‘ Ich blieb mit der Schubkarre neben ihm stehen und begann ihm zu erklären, dass ich auf Deutsch die Wörter ‚schnell‘ und ‚los‘ nicht verstehe, dass ich nur ‚langsam‘, ‚essen‘ und ‚schlafen‘ verstehe.“

Was witzig klingt, hat einen überlebenswichtigen Hintergrund: Wer sich im Konzentrationslager vornahm, alle Anweisungen zu befolgen, hatte keine Chance, denn das Prinzip war Vernichtung durch Arbeit, die „motivierenden“ SS-Sprüche am Lagereingang und an den Wänden waren purer Zynismus. „Grundlegend für das Leben im Lager war, nach meinem Verständnis, die maximale Vermeidung von Arbeit und die Beschaffung von Essen; im Prinzip lässt sich das in einem Satz zusammenfassen: Gegen alle Anordnungen der Lagerleitung vorzugehen, denn alle Anordnungen hatten das Ziel, die Häftlinge so schnell wie möglich auszulöschen.“

Überlebender und Bühnenstar

Nach der Befreiung, damals war er 27 Jahre alt, kehrte Grzesiuk nach Warschau zurück. Er dachte nicht daran, Künstler zu werden, trat nur gelegentlich mit Mandoline oder Banjo auf und sang alte Warschauer Gauner- und Gossenlieder wie „U cioci na imieninach“ („Bei der Tante zum Namenstag“), dasselbe, das er nach seiner Ankunft in Mauthausen in Baracke 14 auf der Mandoline eines anderen Häftlings gespielt hatte. Erst nachdem seine Erinnerungen 1958 erschienen und begeisterten, aber auch kritisch aufgenommen wurden – zu unverblümt beschrieb er die Brutalität auch der Häftlinge untereinander – wurde er zum Bühnenstar.

Es blieben ihm vier Lebensjahre, in denen er weitere Bücher und Erzählungen schrieb, Radiosendungen und Konzerte bestritt und mit seinen Interpretationen von Warschauer Liedern aus der Vorkriegszeit das ganze Land eroberte. Noch als er im Krankenhaus lag und mit Hilfe einer Sauerstoffflasche atmete, riss er Witze. 1963 starb er mit nur 44 Jahren – an den Folgen jener Lungentuberkulose, mit der er sich im KZ angesteckt hatte.

Grzesiuk schreibt über sich selbst, er sei ein „durchschnittlicher Häftling“ und ein „Schlitzohr“ gewesen, mit einer überdurchschnittlichen Begabung zum Überleben, einer, der alle um sich „Trottel“ nannte, aber wenn ein Stärkerer kommt, dann verteidigte er den Schwächeren bis aus Blut. Grzesiuk ist ein rabaukiger, Bud-Spencer-hafter Held, und dass er endlich auf Deutsch gelesen werden kann, war dringend fällig. „Ich bin mir darüber im Klaren, dass das keine Literatur im engsten Sinne dieses Wortes ist“, sagte er 1958 bei Erscheinen des Buches. „Ich habe die Wahrheit gezeigt, die brutale, ehrliche und ungenierte, das Leben im KZ verbildlichende Wahrheit. So war es.“