Bundesheersoldat am Heldenplatz in Wien
ORF.at/Christian Öser
Totalumbau des Bundesheers

Landesverteidigung soll reduziert werden

Das Bundesheer steht vor einer tiefgreifenden Umstrukturierung. Die Ressortführung plant, die militärische Landesverteidigung auf ein Minimum zu reduzieren. Das Militär werde auf Cyberdefence und Katastrophenschutz ausgerichtet, hieß es in einem Hintergrundgespräch vonseiten der Ministeriumsführung.

Auch laut „Standard“ ist das die „Grundüberlegung“, mit der das Kabinett von Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) „die größte Reorganisation in der Geschichte der österreichischen Landesverteidigung einleitet“, wie die Zeitung es formulierte. Laut der Zeitung sollen noch diese Woche die „höchsten Offiziere des Landes“ über die Neuausrichtung informiert werden. Laut „Standard“ firmiert das Konzept unter dem Arbeitstitel „Unser Heer“.

Die bei der letzten Bestandsaufnahme vor nicht einmal einem Jahr gezeichneten Bedrohungsszenarien und Forderungen von zig Mrd. Euro sind offenbar nicht mehr aktuell. Die von Übergangsminister Thomas Starlinger geforderten 16 Mrd. Euro seien „nicht realistisch“ und die Bedrohungsszenarien übertrieben, hieß es in dem Hintergrundgespräch.

Verteidigungsministerin Klaudia Tanner
APA/Helmut Fohringer
Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) bei einer Rede

Von Naturkatastrophen und Pandemien bis zu Migration

Die Regierung habe im Verteidigungskapitel ihres Programms auf „eintrittswahrscheinliche Bedrohungen abgestellt“, und diese sähen keine konventionellen Angriffe auf die Republik vor und auch keinen systemischen Terrorismus, der im Bericht Starlingers beschrieben werde. Als wahrscheinliche Herausforderungen werden dagegen Naturkatastrophen, Migration, Pandemien, Cyberbedrohungen, ein großer Stromausfall und einzelne Terrorangriffe gesehen.

Die militärische Landesverteidigung werde für unwahrscheinlich erachtet. Diese Fähigkeit wolle man behalten, aber nicht den Umfang. Man wolle sich darauf konzentrieren, der Bevölkerung zu nutzen, militärische Landesverteidigung sei kein Schwerpunkt mehr.

„Spürbare Personalreduktion“

Die Truppenstruktur soll im Wesentlichen erhalten bleiben, es werde jedoch eine weitere Reduktion der schweren Waffen erfolgen und „spürbare Personalreduktionen“, die durch natürliche Abgänge bewerkstelligt werden sollen. Der Personalabbau sei notwendig, um die Kosten zu senken. Gleichzeitig soll in den Schwerpunktbereichen wie Cyberdefence zusätzliches Personal rekrutiert werden. Bei den Unteroffizieren gebe es besonderen Bedarf. Zumindest ein Bataillon pro Waffengattung soll bestehen bleiben. Bataillone würden aber nicht aufgelöst, sondern zu Jägerbrigaden umstrukturiert. Nicht ausgeschlossen seien Kasernenschließungen, hieß es.

Bundesheersoldaten bei einer Übung
Bundesheer/Dragan Tatic
Soldaten bei der Ausbildung

Milizsystem soll attraktiver werden

Als Schwerpunkt wird die Wiederherstellung des Milizsystems definiert. Die Führung strebe eine stärkere Ausrichtung des Bundesheeres auf die Miliz an als jetzt. Derzeit sei es so, dass das Bundesheer Grundwehrdiener ausbilde und ein bisschen bewerbe, sich für die Miliz zu melden. Die coronavirusbedingte Teilmobilmachung der Miliz habe die Schwachstellen aufgezeigt. Es brauche eine Attraktivierung. Jeder Milizsoldat soll seinen Helm zu Hause haben. Die Verpflichtung zu Milizübungen soll durch merkbare finanzielle Anreize gesteigert werden.

Im Ausland sei man jetzt schon mit 50 Prozent Milizsoldaten gut unterwegs, es fehle aber die Stärkung im Inland. Dass das möglich sei, zeige die Tatsache, dass 30 Prozent der beorderten und mittlerweile wieder entlassenen Milizsoldaten im Coronavirus-Einsatz freiwillig länger geblieben seien und nun im Grenzeinsatz dienten, hieß es vonseiten des Heeres. Einsätze im In- und Ausland sollen durch Milizsoldaten wesentlich verstärkt werden, dadurch sollen Grundwehrdiener ausreichend (für zukünftige Milizfunktionen) ausgebildet werden.

Grafik zum Bundesheer
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: Bundesheer

Neue Führungsstruktur angedacht

Änderungen soll es auch in der Führungsstruktur geben. Hier seien die Pläne aber noch nicht ganz ausgereift. Ziel sei es, schneller zu werden und Abläufe zu verkürzen. Die neun Militärkommanden werden als unverzichtbar definiert und gewinnen an Bedeutung. Wie die Führungsstruktur genau aussehen wird, ist noch offen. Die Zentralstelle und die Kommanden der oberen Führung sollen „zusammengeschoben“ werden. „Die Brigade-Führungsfähigkeit soll in die Militärkommanden integriert werden“, hieß es vom Heer.

Angedacht ist weiters eine Definition von „Schutz-und-Hilfe-Zonen“, die mit Einsatzorganisationen stärker verschränkt werden. Diese „Schutz-und-Hilfe-Zonen“ sollen mehrere politische Bezirke, denen ein Bataillon als „Schutz-und-Hilfe-Zonenkommando“ zugeordnet wird, zusammenfassen.

Generalstab prüft Konzept

All diese Pläne befinden sich zur Beurteilung im Generalstab, dieser prüft die Realisierung und die Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit des Bundesheeres. Die Umsetzung soll in einem breiten Prozess unter Einbindung der Militärkommandanten, Brigadekommandanten, Bataillonskommandanten, Kompaniekommandanten und der Miliz umgesetzt werden. Der Zeithorizont dafür ist die Legislaturperiode. Die Beitragsleistung für eine mögliche EU-Verteidigung bleibt erhalten. An der Anzahl der Auslandseinsätze soll sich nichts Wesentliches ändern.

Opposition ortet Ablenkung wegen Kanzlerbefragung

„Entsetzt“ zeigte sich SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch in einer Aussendung. „Der ÖVP ist offenbar jedes Mittel recht, um von Skandalen in den eigenen Reihen abzulenken. Dass sie dafür aber sogar die Sicherheit und die Neutralität Österreichs aufs Spiel setzt“, schlage dem Fass den Boden aus und sei an Unverantwortlichkeit nicht zu übertreffen, so Deutsch.

„Es ist sicher kein Zufall, dass diese Absichten zum sicherheitspolitischen Kahlschlag gerade heute bekanntgeworden sind", wo Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im „Ibiza“-Untersuchungsausschuss geladen ist, so Deutsch am Mittwoch weiter. Anders sei es nicht zu erklären, dass sich die ÖVP immer wieder als „Sicherheitspartei“ inszeniere, nun aber das Bundesheer zulasten der Sicherheit der Bevölkerung zusammenstutze und die Neutralität aufgebe.

Der Burgenländische Landeshauptmann und Ex-Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ) gab sich abwartend. Er wolle „keine vorschnellen Schlüsse ziehen“ und warte auf ein detailliertes Konzept. Prinzipiell orte er aber ein „Abdriften in Richtung eines Schweizer Modells der Miliz“. Außerdem werde es wohl eine Reduktion im Bereich der Brigaden geben. „Das alles kann man aber erst beurteilen, wenn alle Fakten am Tisch liegen“, so Doskozil.

FPÖ und NEOS empört

Die FPÖ reagierte ebenfalls entsetzt und forderte den Abgang von Verteidigungsministerin Tanner. Es sei „ungeheuerlich“, dass die ÖVP „unserem Bundesheer nun endgültig den Todesstoß versetzen will“, so Generalsekretär Michael Schnedlitz in einer Aussendung. Laut FPÖ-Wehrsprecher Reinhard Bösch stellen die Pläne „einen massiven Verfassungsbruch“ dar, da die in der Verfassung garantierte umfassende Landesverteidigung nicht einmal ansatzweise aufrechterhalten werden könne. Die FPÖ vermutet, dass die ÖVP mit der Veröffentlichung ihrer Reformplänen vom Auftritt von Kurz am Mittwoch vor dem U-Ausschuss ablenken will.

Empört reagierte auch NEOS-Verteidigungssprecher Douglas Hoyos: „Die ÖVP schreckt offenbar vor nichts zurück, um von der Kanzlerbefragung im Untersuchungsausschuss abzulenken“, so Hoyos. Die Verteidigungsministerin solle das Land verteidigen und nicht den ÖVP-Chef und seine Netzwerke. „Mit diesem verzweifelten Versuch einer Nebelgranate“ zeige die Verteidigungsministerin, dass ihr das Wohl ihres Parteichefs und Bundeskanzlers wichtiger sei als die Sicherheit Österreichs. „Die ÖVP beweist mit dem Versuch, das Bundesheer zu zerstören, einmal mehr, dass sie als staatstragende Partei ausgedient hat“, so Hoyos.

Tanner: Im völligen Einklang mit Bundesverfassung

Tanner trat am Mittwoch der Kritik an ihren Plänen entgegen – und relativierte die Aussage der Ressortführung im Hintergrundgespräch, die militärische Landesverteidigung sei kein Schwerpunkt mehr. Die militärische Verteidigung bleibe „im völligen Einklang mit der Bundesverfassung“ Kernaufgabe. Aber man werde andere Aufgaben daneben in den Mittelpunkt stellen.

„Das Bundesheer wird stärker als je zuvor“, so Tanner in einer Aussendung und verwies auf eine zehnprozentige Budgetsteigerung. Es werde keine einzige Garnison geschlossen, die Truppe werde gestärkt, und „wie auch im Regierungsprogramm ersichtlich ist“, sei die Struktur der Militärkommanden und Brigaden als Träger der Landesverteidigung sicherzustellen.

Der „zukünftigen Landesverteidigung“ widmen

„Der Schutz der Bevölkerung ist unsere Hauptaufgabe, der wir uns widmen“, betonte Tanner, dass die militärische Verteidigung „ureigenste Aufgabe des Bundesheeres ist und bleibt. Zukünftig werden wir uns aber neben der klassischen Landesverteidigung auch der zukünftigen Landesverteidigung widmen.“

Denn wer die falschen Schwerpunkte setze und das Heer nicht ins 21. Jahrhundert führe, „schwächt das Heer und gefährdet die Bevölkerung“. Deshalb werde modernes Gerät angeschafft, um „neben unseren Grenzen auch die Server der Republik“ zu schützen und der Bevölkerung bei Katastrophen beizustehen.

Grüne wollen Vorschläge „sehr genau ansehen“

Die Grünen werden sich die Vorschläge „sehr genau anschauen und mit Blick auf unsere Neutralität prüfen“. Die präsentierte Umstrukturierung sei „tiefgreifend“ und würde das Bundesheer maßgeblich verändern, stellte Wehrsprecher David Stögmüller fest.

Er werde in den nächsten Tagen Gespräche mit der vom Koalitionspartner gestellten Ministerin führen. Vorerst sagte er zu ihren Plänen: Das Bundesheer hat laut Verfassung die Verantwortung für die Landesverteidigung. „Das bedeutet nicht nur, dass es bei Katastrophen wie der Covid-19-Krise einsatzbereit ist, sondern auch, dass es zum Beispiel unseren Luftraum überwacht, bei Cyberattacken unterstützen kann und unseren europäischen Partnern bei Auslandseinsätzen zur Seite steht.“

Ein modernes Heer müsse natürlich kosteneffizient geführt werden. Aber eine effizientere Verwaltung dürfe nicht auf Kosten der Handlungsfähigkeit passieren, so Stögmüller.