Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel
AP/Kay Nietfeld
EU-Ratsvorsitz

Merkels Männer für heikle Fälle

Angela Merkel, deren Kanzlerschaft durch die Coronavirus-Pandemie noch einmal unerwarteten Schwung erhalten hat, übernimmt mit 1. Juli den EU-Ratsvorsitz. Dafür hat sich Merkel viel vorgenommen. Ihr Erfolg entscheidet über die Verfassung der Europäischen Union der nächsten Jahre. Zuarbeiten sollen ihr dabei im Hintergrund vor allem zwei – in der Öffentlichkeit kaum bekannte – Experten.

Zum einen ist das der langjährige enge Mitarbeiter und europapolitische Berater im Kanzleramt, Uwe Corsepius. Der Ökonom kam bereits unter Merkels Amtsvorgänger Helmut Kohl ins Kanzleramt. Unter Merkel, die seit November 2005 im Amt ist, stieg er zum Leiter der Europaabteilung auf. Bereits damals zählte er zu Merkels engsten Mitarbeitern, die sich, so die „Süddeutsche Zeitung“ in einem Porträt 2015, vor allem „durch Loyalität und Verschwiegenheit auszeichnen“.

Kaum ein anderer ist so gut vernetzt, so bekannt – und auch so berüchtigt. In Brüssel sei „der mächstigste Beamte Europas“ auch unter dem Spitznamen „Mr. No“ bekannt, so die Nachrichtenwebsite Politico. Ob es um Details im EU-Budget geht, die Erweiterung oder die Ausweitung der Kompetenzen der Kommission – Corsepius „ist bekannt dafür, kaltes Wasser auf Brüsseler Pläne zu gießen“, so das Magazin. Dabei kam es auch wiederholt zu einem deutsch-deutschen „Match“, da Corsepius’ Gegenüber in der Kommission der damalige Generalsekretär Martin Selmayr war, der aktuell EU-Botschafter in Österreich ist.

Martin Schulz, Uwe Corsepius und Matteo Renzi
Reuters/Yves Herman
Corsepius (Mitte) bei EU-Verhandlungen 2015 zwischen EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und Italiens Premier Matteo Renzi

Blindes Vertrauen, großes Netzwerk

Aufgrund seiner langjährigen Tätigkeit an Merkels Seite hat Corsepius nicht nur das blinde Vertrauen der Kanzlerin, sondern auch ein ungewöhnlich dichtes und weitverzweigtes Netzwerk an Kontakten. Dass mit Corsepius ein Ökonom und nicht, wie sonst üblich, jemand aus dem Außenministerium die Europaagenden des Kanzleramts leitet, sorgt immer wieder auch für Skepsis an seinem Einsatz für Europa.

Seite an Seite mit dem damaligen Finanzminister Werner Schäuble spielte Corsepius eine tragende Rolle in der EU-Reaktion auf die Euro-Zonen-Krise ab 2008. Er ließ alle Ersuchen von Griechenland und anderen vor allem südlichen EU-Staaten, Berlin solle durch gemeinsame Schuldenaufnahme stärker helfen, abprallen. Corsepius war laut „Politico“ an der kühlen Reaktion auf die von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 in einer Rede an der Sorbonne vorgetragenen Pläne für einen großen Umbau der EU in Richtung Bundesstaat federführend beteiligt.

„Corsepianische Wende“ bei Anleihen

Merkel gab ihre Antwort – wegen langwieriger Koalitionsverhandlungen mit monatelanger Verspätung – im Juni 2018. Darin bremste sie Macron und dessen ambitionierte Pläne recht abrupt ab, auch wenn sich, gemessen an ihrer Schritt-für-Schritt-Handlungsweise, darin sehr wohl Bewegung abzeichnete. Es ist kein Zufall, dass Merkel Macron als ersten Staatsgast seit Ausbruch der Pandemie, und unmittelbar vor Start des deutschen Ratsvorsitzes, begrüßte.

Diesmal allerdings unter anderen Vorzeichen: Berlin und Paris rückten seit Beginn der Pandemie bewusst zusammen – wobei Merkel dafür eine Kehrtwende machte, indem sie nun auch für die zumindest zeitlich befristete gemeinsame Schuldenaufnahme aller Euro-Zonen-Länder zur Finanzierung des Milliardenhilfspakets eintritt.

Das war zuvor für Deutschland und insbesondere Merkel und ihren Berater Corsepius ein mindestens ebenso großes Tabu, wie es das für jene vier Staaten (Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich) ist, die sich derzeit weiter dagegen wehren. Macron hatte das in seiner Sorbonner Rede mit der Forderung nach einem gemeinsamen Euro-Zonen-Budget de facto gefordert.

Wopke Hoekstra, Joerg Kukies, Pierre Gramegna und Nadia Calvino
APA/AFP/Francois Walschaerts
Der Ex-Banker Jörg Kukies (Zweiter von links) prägt die deutsche Europa-Politik stark mit

Wechsel in Finanzministerium als Auslöser

Die Kehrtwende in Sachen gemeinsamer Schuldenaufnahme ging genau genommen aber nicht von Corsepius und Merkel aus, sie nahm ihren Ausgang im SPD-geführten Finanzministerium. Dort hat Vizekanzler Olaf Scholz als Nachfolger von Wolfgang Schäuble die 180-Grad-Wende eingeleitet – und zwar gemeinsam mit dem ehemaligen Goldman-Sachs-Banker und aktuellen Staatssekretär Jörg Kukies.

Auch wenn Scholz nach außen die strikte Sparpolitik Schäubles zunächst fortführte, begann er im Hintergrund, sein mächtiges Ministerium mit der Amtsübernahme 2018 neu zu positionieren. So löste er vor eineinhalb Jahren auch den Chefökonomen im Ministerium ab: Ludger Schuknecht, der Schäubles Sparmantra vertrat, wurde durch Jakob von Weizsäcker ersetzt. Dieser hatte wenige Jahre zuvor einen Vorschlag für Eurobonds verfasst – und so wie Kukies in Paris studiert. Mit der Coronavirus-Pandemie war – so wie weltweit – auch in Deutschland das Spardiktat schlagartig passe. Und neue Möglichkeiten taten sich auf.

„Wir reden viel“

„Wir reden viel über die Europäische Souveränität, aber eine solche kann sich nicht entwickeln, solange die Fiskalunion unvollständig bleibt“, so Kukies im Juni in einem Interview mit der „Financial Times“. Kukies war laut der Zeitung auf deutscher Seite die treibende Kraft hinter dem deutsch-französischen Vorschlag für gemeinsame Schuldenanleihen über 500 Mrd. Euro. Der Plan sei für Kukies ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Fiskalunion. Auf diese Weise spielt er eine zentrale Rolle in Deutschlands Europapolitik – gerade auch im kommenden Halbjahr.

So vehement der Ex-Banker für die Fiskalunion kämpft, so sehr warnte er im „FT“-Interview freilich auch, dass die nötigen Voraussetzungen dafür gegeben sein müssten. Die Staaten müssten budgetäre Disziplin einhalten. Denn die Fiskalunion funktioniere nicht mit „maximaler Flexibilität“ der Staaten bei den Budgetvorgaben.

Eine Grafik zeigt die EU-Ratspräsidentschaften bis 2024
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Vorbereitung und Timing

Ähnliches sagte Merkel bei ihrem Treffen mit Macron in Meseberg nördlich von Berlin. Dort deutete sie einen möglichen Kompromiss mit der kritischen Ländergruppe an: Als „Brücke“ für diese Staaten „könnte der Vorschlag der EU-Kommission dienen“, dass man die Hilfen mit der nötigen Reformagenda und damit Budgetmaßnahmen in den EU-Staaten verbinde. Sie halte diesen Vorschlag für „sehr klug“, betonte Merkel gleich noch.

Corsepius, Kukies und viele andere – im Hintergrund arbeiten immer viele Fachleute, um Grundlinien wie Details auszuarbeiten. Und diese Vorarbeiten dauern oft Jahre, ohne dass Bewegung in die Sache zu kommen scheint. Die aktuellen Verhandlungen über das Pandemierettungspaket der EU gemeinsam mit dem nächsten EU-Budget unter deutschem Ratsvorsitz zeigen aber auch, wie entscheidend neben der Planung von langer Hand das richtige Timing und das Nützen des günstigen Moments gerade in der Europapolitik ist.