Deutsches Polizeiauto
AP/Martin Meissner
Missbrauch in NRW

Polizei spricht von 30.000 Spuren

Der Kindesmissbrauchskomplex „Bergisch Gladbach“ im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) ist laut jüngsten Ermittlungsergebnissen viel größer als gedacht. Die Behörden sind auf 30.000 Spuren gestoßen, die zu Verdächtigen führen könnten. Dabei geht es nicht nur um die Verbreitung und den Besitz von Kinderpornografie, sondern auch um schweren Kindesmissbrauch.

Es handle sich um internationale pädokriminelle Netzwerke mit Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum, teilte NRW-Justizminister Peter Biesenbach in Düsseldorf mit. In Gruppenchats mit Tausenden Nutzern bzw. Nutzerinnen und in Messengerdiensten gingen die Täter bzw. Täterinnen wie selbstverständlich mit ihren Missbrauchstaten um, heizten sich an und gaben einander Tipps, etwa, welche Beruhigungsmittel man Kindern am besten verabreiche, um sie sexuell zu misshandeln.

„Wer zögert, wird von den anderen ermutigt und bedrängt, seine Absichten in die Tat umzusetzen“, berichtete Biesenbach. In diesen Chats würden auch Verabredungen zum Missbrauch an einem Kind getroffen. Es handle sich um eine „neue Dimension des Tatgeschehens“, sagte der Justizminister und bekannte: Ihm sei „speiübel geworden“. „Wir müssen erkennen, dass Kindesmissbrauch im Netz weiter verbreitet ist, als wir bisher angenommen haben.“

„Zutiefst verstörend“

Die Selbstverständlichkeit der Kommunikation über die Taten sei „in höchstem Maße irritierend“ und „zutiefst verstörend“, so Biesenbach weiter. Es sei zu befürchten, dass in einer solchen Atmosphäre die Hemmschwellen sänken und auch solche Männer Missbrauchstaten begingen, die ohne entsprechendes Umfeld davor zurückgeschreckt wären. „Chatgruppen mit mehreren hundert, teils mehreren tausend Nutzern entstehen nicht von heute auf morgen.“

Eine eigene Taskforce von Ermittlern und -ermittlerinnen (Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime, ZAC) werde am Mittwoch die Arbeit aufnehmen. Sechs Staatsanwälte würden sich dann unter großem Zeitdruck zuerst um die Fälle bemühen, bei denen davon auszugehen ist, dass der Missbrauch von Kindern fortgesetzt werde. Grundsätzlich solle ZAC immer dann eingeschaltet werden, wenn die Auswertung von Beweismitteln in Kindesmissbrauchsfällen im Netz nötig sei.

Psychisch belastende Ermittlungen

Während die Behörden am Vormittag zunächst von 30.000 Tatverdächtigen sprachen, korrigierten sie später diese Angaben: Es gehe um 30.000 Spuren. Es könne dabei Dubletten geben: Nutze eine verdächtige Person zum Beispiel mehrere Internetzugänge oder diverse Decknamen, könne sie mehrfach auftauchen.

In dem Komplex Bergisch Gladbach waren bisher in Deutschland 72 Verdächtige namentlich identifiziert worden. Zehn waren zuletzt in Untersuchungshaft. Es wurden sieben Anklagen gegen acht Personen erhoben. Der Fall war im Oktober 2019 mit der ersten Durchsuchung bei einem der Hauptverdächtigen in Bergisch Gladbach bei Köln ins Rollen gekommen. Auf dem Handy des Verdächtigen fand die Polizei Chatgruppen mit Hunderten Mitgliedern. Anfang des Jahres gab die Polizei bekannt, dass es auch in Österreich einen Beschuldigten gibt.

Die Verdächtigen sollen teilweise ihre eigenen Kinder missbraucht und Bilder der Taten getauscht haben. Seit Monaten werden riesige Datenmengen ausgewertet. Die Ermittlungen erstrecken sich längst auf sämtliche 16 deutsche Bundesländer. Hunderte Ermittler waren zuletzt mit der Aufarbeitung beschäftigt. Die Arbeit in der seit Herbst 2019 bestehenden Ermittlungsgruppe „Berg“ sei psychisch sehr belastend. Insbesondere die Sichtung des Videomaterials bringe jeden Ermittler und jede Ermittlerinnen an die Grenze der Belastbarkeit.

Ein Täter bereits verurteilt

Im Mai war ein erster Täter – ein 27 Jahre alter Soldat – zu zehn Jahren Haft verurteilt und auf unbestimmte Zeit in der Psychiatrie untergebracht worden. Die Staatsanwaltschaft hatte ihm mehr als 30 Straftaten an insgesamt vier Kindern zur Last gelegt. Der Mann missbrauchte unter anderem seinen fünfjährigen Stiefsohn und seine zweijährige Tochter. Von besonders schweren Taten machte er Videos und Bilder, die er dann in Chatgruppen verschickte.

Nach einer Anzeige durch das Jugendamt durfte der Mann die Kinder zwar nicht mehr sehen, die Staatsanwaltschaft wurde aber nicht weiter tätig. Daraufhin missbrauchte der Mann seine Nichte. Anfang 2019 war der jahrelange Missbrauch auf einem Campingplatz ebenfalls in Nordrhein-Westfalen aufgedeckt worden. Einige der Gewalttaten wurden ebenfalls gefilmt, Dutzende Kinder wurden missbraucht. Zwei Männer wurden in dem Fall zu hohen Freiheitsstrafen mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.