Mädchen sitzt an einem Fenster
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Kinder im „Lock-down“

Psychische Folgen und Gewalt

Die Coronoavirus-Pandemie trifft Benachteiligte stärker. Zu jenen Gruppen, die besonders darunter leiden, gehören in Österreich Kinder aus ökonomisch schwächeren Familien. Das stellten am Dienstag Fachleute der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit fest. Die psychischen Auswirkungen der Pandemie würden sich mit Verzögerung zeigen. Schon im „Lock-down“ habe die Gewalt zugenommen.

Die durch die Pandemie hervorgerufenen psychischen Konstellationen würden erst in den nächsten Wochen und Monaten sichtbar werden, sagte Christian Kienbacher, Ärztlicher Leiter des Ambulatoriums für Kinder- und Jugendpsychiatrie des SOS-Kinderdorfs Wien. Aus Studien lasse sich ablesen, dass etwa ein Drittel der Kinder als Folge der Pandemie und der Selbstisolation Zeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung zeigen werde.

Wobei Kienbacher aus der „Lock-down“-Praxis als Kinderpsychiater sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat. Bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS habe sich das Homeschooling beispielsweise oft sehr positiv ausgewirkt: „Für sie hat es keinen sozialen Druck mehr gegeben.“ Ein betroffenes Kind habe gesagt: „Ich will nur mehr HomeSchooling machen.“ Auf der anderen Seite standen Patientinnen und Patienten oder ganze Familien, die sich in die völlige Selbstisolation begaben. „Patienten mit Angsterkrankung haben sich oft zu Hause verschanzt und mussten von dort ‚geborgen‘ werden“, so Kienbacher.

Kinder im Keller eingesperrt

Drastischer formulierte es der Psychologe Christoph Hackspiel. Der Präsident der Liga für Kinder- und Jugendgesundheit betonte – mit Hinweis auf kürzlich publizierte Studien –, dass während der Coronavirus-Zeit der Blick auf die Kinder vernachlässigt wurde. Insbesondere Kinder aus ökonomisch schwächeren Familien hätten nicht selten den Anschluss an die Schule verloren, und Jugendliche würden kaum noch Lehrstellen finden. „Die Gewalt in der Familie ist deutlich angestiegen, und fast alle medizinischen und therapeutischen Hilfestellungen für Kinder mit Beeinträchtigungen sind Monate nicht oder nur sehr schwer zugänglich gewesen.“

Auch die Kinderliga-Vizepräsidentin und klinische Psychologin Hedwig Wölfl schlug in dieselbe Kerbe und führte dazu Daten aus Studien sowie aus einem Europol-Bericht an. Europol hatte in den vergangenen Monaten einen signifikanten Anstieg von Fällen von Kindesmissbrauch und Austausch von kinderpornografischem Material registriert. „Rat auf Draht“ habe ein Drittel mehr Anrufe wegen Gewalt an Kindern gezählt. „Wir haben Fälle von Einsperren von Kindern im Keller gehabt“, sagte die Expertin. Für bereits ohne Coronvirus-Pandemie überlastete Eltern habe der „Lock-down“ zu noch mehr Stress geführt.

Europol warnte vor Kindesgefährdung im „Lock-down“

Laut einem Europol-Bericht von Mitte Juni sind während der Isolation Kinder stärker gefährdet als sonst, in einigen Ländern gebe es mehr Fälle von sexuellem Missbrauch. Täter hätten ihre Aktivitäten in Sozialen Netzwerken und auch im verborgenen Teil des Internets, dem Darknet, stark ausgeweitet. In den vergangenen Monaten gab es dem Bericht zufolge weltweit „eine Welle“ von Missbrauchsvideos und -bildern, die online angeboten und geteilt wurden. Während bei Europol sonst monatlich rund 100.000 Fälle von sexueller Ausbeutung gemeldet werden, schnellte die Zahl im März auf eine Million. Im Mai sei die Zahl wieder gesunken.

Europol warnte vor einer zunehmenden Gefährdung von Kindern durch die Pandemiemaßnahmen. „Während des Lock-down verlagerte sich das Leben von Kindern von der realen Welt zunehmend in die online-virtuelle Welt.“ Das nutzten Täter aus, um die Gruppe ihrer möglichen Opfer zu vergrößern. Europol befürchtet, dass der Missbrauch von Kindern „auf Bestellung“ und im Livestream zunehmen werde. Ermittler und Ermittlerinnen stellten fest, dass in Foren von Sextätern die Nachfrage nach Webcamvideos stark zugenommen habe. Dabei gehe es um selbst aufgenommenen Missbrauch – aber auch um Aufnahmen von Kindern selbst, die ohne ihr Wissen gehandelt würden.

Kinder dürfen nicht „vergessen“ werden

Wölfl forderte, dass Hilfsangebote für Kinder in Krisenzeiten nicht nur vorhanden bleiben sollen, sondern auch niederschwellig zugänglich sein müssen. „Die Angebote müssen in der Öffentlichkeit beworben werden“, sagte die Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation möwe. Während der Krise habe es zwar solche Angebote gegeben, aber viele Eltern hätten davon wenig bis gar nichts gewusst. Falls es zu einem zweiten „Lock-down“ kommt, müsse für Eltern, die nicht in systemrelevanten Berufen tätig sind, eine Notbetreuung sichergestellt werden, so Wölfl. Dadurch könnten belastende und gewalttätige Situationen in den eigenen vier Wänden vermieden werden.

Man dürfe die Kinder nicht „vergessen“, sagte Hackspiel mit Blick auf die Gesellschaft. 300.000 Kinder in Österreich seien von Armut bedroht oder lebten in Armut, so der Psychologe, der – auch anlässlich der Coronavirus-Krise – ein eigenes „Kinderministerium“ fordert. Caroline Culen, Geschäftsführerin der Kinderliga, betonte zwar, dass es in der Krise zu einer verstärkten Solidaritätsanstrengung gekommen sei. Aber Kinder und Jugendliche seien in der öffentliche Debatte nie angesprochen worden. Es sei über sie als mögliche „Superspreader“ gesprochen worden oder als „Belastung“. „Es wurde nie gefragt, wie es den Kindern in dieser Krisenzeit geht.“

Folgen auch nach dem „Lock-down“

Doch nicht nur der „Lock-down“ habe negative Folgen für manche Kinder gehabt. Auch die schnelle Aufhebung und die mangelnden Vorkehrungen für den Herbst bereiten den Fachleuten Sorge. Laut Cäcilia Karitnig-Weiß, Fachärztin für Pädiatrie und Allgemeinmedizinerin, fehlen in Österreich um die 80.000 kassenfinanzierte Therapieplätze für Kinder und Jugendliche. Zudem sei in Schulen eine Impfung weiterhin nicht erlaubt. Für die Impfungen seien nun ganz allein die Eltern verantwortlich.

„Hier orten wir eine große Verunsicherung der Eltern, ob Kinder während der Covid-19-Phase überhaupt geimpft werden sollen. Diese Unsicherheit der Eltern kann zusätzlich zu einer Verzögerung der Durchimpfung führen. Es ist für den Herbst noch kein Prozedere vorgeschlagen, um a) die Impfungen und Schuluntersuchungen wieder aufzunehmen und b) den Catchup zu organisieren“, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme von Karitnig-Weiß.

Zudem schreibt die Schulärztin, dass psychiatrisch vorbelastete Kinder und Jugendliche, bei denen das stabilisierend wirkende Umfeld der Schule plötzlich wegfiel, nur schwer in den Schulalltag zurückfinden. Das Hin und Her zwischen Schultagen und Betreuungstagen führe zu einer Destabilisierung. „Vor allem im Volksschulbereich beklagen auch Lehrer und Lehrerinnen, dass bei einem erheblichen Prozentsatz der Kinder die Fähigkeit zur Konzentration durch das instabile Lernumfeld deutlich leidet und man von einem Regelunterricht weit entfernt ist.“