TikTok-App
ORF.at/Viviane Koth
Aktivismus auf TikTok

Politik in der Seifenblasenwelt

Tanzende Jugendliche und Karaoke: Die App TikTok soll nach dem Willen ihrer chinesischen Eigentümer vor allem unterhalten. Doch je größer die Plattform wird, desto mehr politische Inhalte sickern ein. Der Klimastreik, die „Black Lives Matter“-Proteste und auch die Angriffe türkisch-nationalistischer Gruppen auf prokurdische Demonstrierende in Wien – sie alle finden ihren Widerhall.

Für viele Aktivistinnen und Aktivisten ist TikTok zum Tool geworden, um ihre Botschaften zu verbreiten, sich zu vernetzen und Proteste zu organisieren. Genau jene Eigenschaften, die TikTok groß gemacht haben, lassen sich auch in politischem Kontext nutzen. „Wenn wir uns anschauen, wie junge Menschen heute Inhalte rezipieren, dann passen TikTok und die kurzen, sehr emotionalen Inhalte wie die Faust aufs Auge“, sagt Matthias Rohrer vom Institut für Jugendkulturforschung gegenüber ORF.at.

Wer auf der Plattform auffallen will, muss kreativ sein. Die Länge der Videos ist auf 60 Sekunden beschränkt. Zu wenig Zeit für vertiefende Abhandlungen – aber genug, auf kreative Art und Weise Aufmerksamkeit für ein Anliegen zu schaffen oder seine Reaktion auf Geschehnisse zu zeigen. Das klassische Erzählmodell – „Anfang, Mitte, Schluss“ – hat laut Rohrer auf TikTok ausgedient. Im Vordergrund stehe die Zuspitzung auf „Höhepunkte“.

TikTok ist die beliebteste chinesische App der Welt und hat mittlerweile die Marke von zwei Milliarden Downloads geknackt. In China selbst ist TikTok nicht verfügbar, dafür die beinahe identische App Douyin. Zwei Drittel der TikTok-Userinnen und -User sind unter 25 Jahre alt, zeigt eine Auswertung aus dem Vorjahr. Sie finden sich zurecht im endlosen Fluss an kurzen Videos, in dem Erwachsene schon einmal untergehen.

„Intimes“ Soziales Netzwerk

Trotz seiner Größe sei TikTok „universeller zugänglich“ und fühle sich für die Nutzerinnen und Nutzer „intimer“ als andere Soziale Netzwerke an, sagt die Journalistin Emily Zens, die sich für das Jugendmagazin „Biber“ mit den digitalen Welten junger Menschen beschäftigt, gegenüber ORF.at. „Auch wenn man kein eigenes Zimmer in der elterlichen Wohnung hat, kann man sich vor sein Bett stellen und etwas machen. Bei Instagram hätten solche Videos keine Chance“, so Zens. Wenig überraschend hat die App in vielen Ländern während der coronavirusbedingten Ausgangssperren an Popularität gewonnen.

@laralazansky

die demo war CRAZY, es waren so so viele leute da 🤩 danke an jeden einzelnen der das sieht !! ich bin wirklich stolz auf uns alle ❤️ #blm #vienna

♬ Stand Up (from Harriet) - Cynthia Erivo

Und: „TikTok empfiehlt einem nur Profile von Dingen, die einen auch selbst interessieren“, so Zens. Der Algorithmus schafft so ein Gefühl der Intimität und des Miteinanders. „Man ist in seiner Blase, und dadurch fühlt man sich sicher. Man fühlt sich anderen viel näher, weil man von Menschen umgeben ist, die ähnlich denken und handeln, gerade auch politisch.“ Manche Inhalte schaffen den Sprung über die Grenze der eigenen Sphäre. Es sei wie bei „Seifenblasen“, sagt Zens: „Die kleinen Blasen bleiben unter sich, aber haben Überschneidungen mit anderen. Und breiten sich dadurch aus.“

Verbot in Indien, halber Rückzug aus Hongkong

Um sein Angebot passgenau auf die einzelnen Nutzerinnen und Nutzer zuzuschneiden, braucht TikTok Unmengen an Daten. Der Umgang mit ihnen hat dem Mutterkonzern ByteDance viel Kritik eingebracht. Datenschutzorganisationen äußerten den Verdacht, das Unternehmen gebe die Daten an Chinas Regierung weiter. Indien hat die App wegen Bedenken über die „nationale Sicherheit“ bereits verboten, die USA erwägen einen ähnlichen Schritt.

In Hongkong nahm ByteDance die App vom Markt, als Reaktion auf ein neues Gesetz, das der Polizei weitreichende Befugnisse bei Überwachung von Bürgerinnen und Bürgern einräumt. Zuvor hatte die Firma erklärt, Zensurgesuche und Datenanfragen der Behörden abzulehnen. Das gilt allerdings nicht für das chinesische TikTok-Pendant Douyin, das sich Pekings Regeln unterwirft und in Hongkong nach wie vor verfügbar ist.

Unterhaltsame Aufklärung

In den USA ist TikTok unterdessen zu einem wichtigen Medium der „Black Lives Matter“-Bewegung geworden. Tausende Nutzerinnen und Nutzer quer durch die Vereinigten Staaten haben die Massenproteste gegen Rassismus und Polizeigewalt auf Video festgehalten und kommentiert. Das sei „eine reine, organische Form des Journalismus, von Menschen, die dabei sind und das Geschehen direkt erleben“, sagt die Journalistin und Aktivistin Imoan Kinshasa, Mitorganisatorin der „Black Lives Matter“-Kundgebungen in Wien, bei denen im Juni Zehntausende überwiegend junge Menschen auf die Straße gingen.

Aktivistinnen und Aktivisten wiederum hätten auf TikTok die Möglichkeit, Standpunkte und Statements in Form von unterhaltsamen, aufklärenden Videos zu verbreiten, so Kinshasa im Gespräch mit ORF.at. Für die Generation nach den Millennials sei die Plattform zudem ein „relevantes Medium, um sich zu politisieren“, so die Aktivistin. Allerdings sollte TikTok „nur der Initiator und nicht das Ende sein. Man muss sich schon über die Plattform hinaus mit den Dingen beschäftigen.“

Graue „Welpen“ in Wien-Favoriten

Potenzial, Jugendliche über das Netzwerk zu erreichen und Aufmerksamkeit für den Klimaschutz zu schaffen, sieht auch die „Fridays For Future“-Bewegung. „Trends entstehen sehr schnell (auf TikTok; Anm.) und wachsen exponentiell. Wenn zwischen Challenges und Tanzvideos auch mal realpolitisches Geschehen wie die Klimakrise zum Kontext wird, freut uns das natürlich sehr“, heißt es in einem Statement von „FFF Austria“ gegenüber ORF.at. Mit ihren eigenen Videos will die Bewegung auf TikTok „polarisieren“ und „zum Meinungsaustausch anregen“.

Ebenfalls auf TikTok widergespiegelt haben sich die Angriffe türkisch-nationalistischer Gruppen auf prokurdische Demonstrationen von linken Aktivistinnen und Aktivisten in Wien-Favoriten. Auf TikTok kursieren zahlreiche Videos, die den Angriff von Mitgliedern der rechtsextremen Grauen Wölfe auf das Ernst-Kirchweger-Haus dokumentieren.

Auf anderen sind junge Nationalisten zu sehen, die den verbotenen Wolfsgruß zeigen, „Allahu akbar“ („Gott ist der Größte“) und den Namen des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan brüllen. Unter den Angreifern auf die linke Kundgebung gegen Gewalt an Frauen seien auffallend viele junge Menschen gewesen, die sich teilweise auf TikTok organisiert hätten, berichtete der freie Journalist Michael Bonvalot.

Hypehouses im US-Wahlkampf

Österreichs Politikerinnen und Politiker sind bisher kaum auf TikTok vertreten. Die direkte Interaktion mit einer teils sehr jungen Zielgruppe ist schwierig. Der Versuch, die Sprache und Codes der Jugendlichen zu imitieren, kann schnell nach hinten losgehen. Ein Video von FPÖ-Chef Norbert Hofer, das ihn mit Hundeohren und -Schnauze zeigte, wurde von Userinnen und Usern mit Spott bedacht. Mittlerweile ist es von der Plattform verschwunden. Im April tauchten auf TikTok Videos und gefälschte Profile mit Namen wie „bastishort“ oder „bastishorty“ auf, in denen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) angehimmelt wurde. Bei der Volkspartei könne man sich den Hype nicht erklären, berichteten mehrere Medien. Kurz selbst ist nicht auf TikTok.

In den USA wirft die Präsidentschaftswahl im November ihren Schatten voraus. Auf TikTok haben sich Jugendliche zu „Hype Houses“ zusammengeschlossen, einem virtuellen Ort, an dem sich Gleichgesinnte vernetzen und ihre Inhalte verbreiten können. „Hype Houses“ gibt es sowohl auf republikanischer als auch auf demokratischer Seite. Und es gibt sogar solche, auf denen sich Anhängerinnen und Anhänger beider Parteien zum Meinungsaustausch treffen.

Aktionen gegen Trump

Wie mächtig eine von TikTok ausgehende Bewegung sein kann, erfuhr US-Präsident Donald Trump am eigenen Leib. TikTok-Nutzerinnen und -Nutzer sollen eine Wahlkampfveranstaltung Trumps in Tulsa, Oklahoma, sabotiert haben. Zu Tausenden buchten sie die Gratistickets, die für die Veranstaltung ausgegeben wurden, und sorgten so dafür, dass der Auftritt Trumps vor halb leeren Rängen über die Bühne ging.

Es blieb nicht bei dieser einen Aktion: Mittlerweile haben TikTok-Nutzerinnen und -Nutzer auch den Onlineshop Trumps ins Visier genommen. Dort legten sie Waren in den Einkaufskorb, ohne zu bezahlen – was dazu führte, dass viele Artikel als ausverkauft angezeigt wurden.