Ansichtskarte um 1900
Wien Museum/Wikidal Elke
19. Jahrhundert

Als Wien auf Venedig machte

Im Coronavirus-Sommer 2020 sind Reisen ins Ausland eingeschränkt. Manchmal muss man aber gar nicht nach Italien fahren, um in Venedig anzukommen – sondern nur bis in die Praterstraße. Dort erinnert der Dogenhof an ein wahnwitziges Projekt, mit dem Wien schon vor 125 Jahren jede Reiselogik ausgehebelt hat.

Der Markuslöwe hatte in Wien schon immer seinen Platz: Früher stand das geflügelte Wappentier Venedigs als zentnerschwere Sandsteinskulptur in der Halle des Südbahnhofs (und war dort beliebter Treffpunkt unter Reisenden), inzwischen hat man das Teil im Hauptbahnhof platziert. Aber auch in der Praterstraße kann man unter den Flügeln des Löwen einen gepflegten Amaro Montenegro trinken und sich wie in Venedig fühlen: Im Dogenhof unweit des Pratersterns, einem der vielleicht verblüffendsten Gebäude Wiens, ziert ein Relief mit Löwe und Doge das Portal und lenkt den Blick auf Säulen und Arkaden.

Schon seit Jahren betreiben die Retropioniere Florian Kaps und Matthias Zykan in dem bizarr schönen venezianischen Ambiente ein Geschäftslokal für Liebhaber der Analogkultur. Bei Supersense findet man Fotokameras, Druckerpressen und Vinyl. Seit Kurzem hat nun Simon Steiner unter demselben Dach das Restaurant „Dogenhof“ eröffnet. Wer hier sitzt und sich ungläubig die Augen reibt, träumt nicht – tatsächlich ist das denkmalgeschützte Haus aus dem Jahr 1895 dem Palazzo Ca‘ d’Oro in Venedig nachempfunden und versprüht einen Hauch von Canal Grande, mitten im Zweiten.

Fotostrecke mit 6 Bildern

Ansichtskarte 1895 – 1900
Wien Museum/Wikidal Elke
Venedig in Wien, Ansichtskarte, 1895–1900
Ansichtskarte um 1910
Wien Museum/Walter Nagel GmbH & Co. KG
Venedig in Wien, Ansichtskarte, um 1910
Ansichtskarte mit Wasserrutschbahn, 1899
Wien Museum/Wikidal Elke
Venedig in Wien, Wasserrutschbahn, Ansichtskarte, 1899
Bau des neuen Südbahnhofes, im Vordergrund der alte Südbahnhof mit Markuslöwen, 1954
Wien Museum/Birgit und Peter Kainz
Bau des neuen Südbahnhofs, im Vordergrund der alte Südbahnhof mit einem der Markuslöwen, 1954
Rechts: Ansichtskarte vom Dogenhof, Wien 1899; links: Dogenhof Außenansicht
Wien Museum/Birgit und Peter Kainz; Clarissa Stadler
Der Dogenhof links auf einer Ansichtskarte aus dem Jahr 1899 und rechts heute, mit einem Smartphone fotografiert
Kellner im Wiener Dogenhof
ORF/Clarissa Stadler
Der „Dogenhof“ in Zeiten des Coronavirus

Venezianische Gotik

Aber wie kommt die venezianische Gotik in die Leopoldstadt? Der Praterstraßenpalazzo wurde 1896-1898 erbaut und war ursprünglich ein Hotel. Gäste gab es damals genug, schließlich hatte ganz in der Nähe ein spektakulärer Vergnügungspark seine Tore geöffnet. „Venedig in Wien“, ein bis heute sagenhaftes Projekt der Wiener Kulturgeschichte, war ein Touristenmagnet und zog bereits in seinem ersten Jahr, 1895, zwei Millionen Besucher an.

Im ehemaligen Kaisergarten, etwa im heutigen Bereich zwischen Praterstern, Hauptallee, Ausstellungsstraße und dem Riesenrad, hatten findige Entrepreneure auf 50.000 Quadratmetern mit „Venedig in Wien“ eine perfekte Reiseillusion erschaffen. Nach den Entwürfen des Architekten Oskar Marmorek wurden mit gigantischem Aufwand originalgroße begehbare Nachbildungen venezianischer Bauten sowie ein Kanalsystem samt Brücken errichtet, das mit Gondeln befahrbar war.

Illusionismus ohne Grenzen

Nachbildungen der Porta del Arsenale, des Palazzo Priuli und des Palazzo Dario befanden sich im Eingangsbereich des Areals. Alle Gebäude waren begehbar und innenarchitektonisch bis ins letzte Details durchgestylt. So beschrieb der Ausstellungsführer damals: „Keine bloßen Bretterwände mit bemalter Leinwand täuschen nach Art von Theaterdecorationen ein Gaukelbild vor, sondern wirklich betretbare Häuser mit Mauern und Stuckwänden ragen empor, Gesimse, Rauchfänge, Balkone, Capitäle, (..) alles ist aus solidem Material greifbar plastisch hergestellt.“ „Atmosphäre“ war alles: Um den Wienern das Flair der Lagunenstadt möglichst authentisch näherzubringen, wurde sogar bunte Wäsche zum Trocknen aufgehängt.

Der Illusionismus kannte keine Grenzen: Den Markusplatz mit allen anliegenden Gebäuden konnte man in Form eines Panoramas betrachten. Vierzig venezianische Gondolieri in originaler Arbeitskleidung steuerten die fünfundzwanzig in Venedig angefertigten Gondeln durch das über einen Kilometer lange Kanalsystem. Man dachte groß und plante originalgetreu. So schrieb Architekt Marmorek: „Es ist keine Copie eines bestimmten Platzes, sondern gleichsam eine Paraphrase von Venedig. Dabei ist vermieden worden, Großes im Kleinen wiederzugeben, weil dieses nur kleinlich wirken würde. Aus all diesen Gründen wurde von der Nachbildung des Markusplatzes abgesehen (…)“

Kunst und Kommerz

„Venedig in Wien“ war ein kommerziell höchst erfolgreiches Projekt. Am kleinen Canal Grande kannte der Konsum keine Grenzen. Im Palazzo Dario war ein Post- und Telegraphenamt eingerichtet, von wo aus man begeistert Karten „aus Venedig in Wien“ in alle Welt schicken konnte. Es gab zwar noch kein Instagram, aber „Been there, done that“ war auch damals schon ein starker Impuls. In den einzelnen Palazzi waren italienische Geschäfte eingemietet, Marmor- und Keramikfirmen boten ihre Produkte an. Es gab Blumengeschäfte und Phonographenhändler, Lampenfirmen und Champagnerproduzenten und – clevere Idee: auch ein Reisebüro.

Trotzdem war „Venedig in Wien“ kein trashiger Themenpark, sondern ein „Vergnügungsetablissement“, gegründet von Figuren der Wiener Kulturszene, dem Theaterunternehmer Gabor Steiner, dem Schriftsteller Ignaz Schnitzer und umgesetzt vom renommierten Architekten Marmorek. Steiner wollte ein Sommeretablissement schaffen, schon damals waren während der Sommermonate die Theater geschlossen, der Kulturhunger der Wienerinnen und Wiener aber unersättlich. Und so fanden vor venezianischer Kulisse auf zahlreichen Bühnen Konzerte, Operetten, Revuen und Kabarett statt.

Vergnügungsviertel

Millionen Besucher kamen, flanierten durch die Kulissenstadt und kehrten in die zahlreichen Restaurants und Cafes ein. Die Operette florierte, und Filmvorführungen machten den Prater zu einem ersten Ort des Sommerkinos. Aber nach fünf Jahren war die Luft raus, die vergnügungssüchtigen Wiener wollten neue Attraktionen. Also wurden die Kanäle trockengelegt, die Palazzi abgerissen und durch neue Themenstädte ersetzt. Es folgten noch die „Internationale Stadt“, die „Blumenstadt“ und die „Elektrische Stadt“.

1897 errichtete der englische Ingenieur Walter B. Basset das Riesenrad – es überdauerte alle Spompanadeln und tut heute so, als wäre es in Wien erfunden worden. Dabei hatte es seinen Vorläufer in London, wie übrigens auch das Klein-Venedig, das es zuvor schon in London, Berlin, Brüssel und Hamburg gegeben hatte. Aber nirgends war es natürlich so gelungen wie im Wiener Prater. Wer wissen will, wie „Venedig in Wien“ aussah, kann sich ab sofort im Pratermuseum umsehen. Die Dependance des Wien Museums ist nach der Coronavirus-Schließzeit wieder geöffnet. Und wer den Palazzo Ca’ d’Oro vermisst, findet ihn auf der Praterstraße 70 als Dogenhof.