Schatten eines Mannes hinter eine Chinaflagge
Reuters/Tyrone Siu
Neues Gesetz

Pekings Geheimpolizei „regiert“ Hongkong

Pekings neues Gesetz untergräbt effektiv das einst intakte Rechtssystem seiner Sonderverwaltungszone Hongkong. Viele Jahre funktionierte die ursprünglich von Großbritannien abgeleitete Justiz und ließ die Stadt zu einer weltweit bedeutenden liberalen Marktwirtschaft aufstreben. Doch seit einer Woche herrschen andere Regeln, das Sagen hat nun die chinesische Geheimpolizei.

Offiziell können durch das „Gesetz über die nationale Sicherheit“, wie China es nennt, oppositionelle Aktivitäten – darunter „Abspaltungen, ausländischer Einfluss, Terrorismus und alle aufständischen Aktivitäten, die den Sturz der Zentralregierung zum Ziel hätten“, unter Strafe gestellt werden. Trotz Prognosen des chinesischen Präsidenten Xi Jingping, die Volksrepublik sei erst im Herbst so weit, sein Gesetz für Hongkong durchzubringen, sorgte der Nationale Volkskongress Ende Mai für Beschleunigung, und die Maßnahmen traten bereits Ende Juni in Kraft.

Kern des Ganzen ist eine neue Vollzugsbehörde, eine Sicherheitskommission unter Aufsicht der Zentralregierung in Peking. Das bedeutet, dass chinesische Sicherheitsbeamtinnen und -beamte offiziell in Hongkong tätig sein werden. Zum Geschäft dieser Geheimpolizei gehört es, Verdächtige – etwa nicht chinatreue Personen – abzuhören, ihre Wohnungen ohne richterliche Erlaubnis zu durchsuchen und sie auch festzunehmen. Die bisherige Möglichkeit, gegen Kaution freizukommen, darf entfallen.

„Sicherheitsbüro“ eröffnet

Unter Verweis auf eine Gefährdung der nationalen Sicherheit dürfen außerdem Reisepässe abgenommen und Vermögen eingefroren werden, der Justizminister kann vor Gericht auch die Konfiszierung von Eigentum beantragen. Die Regierung in Hongkong erklärte zudem den Protestslogan der Bevölkerung „Befreit Hongkong! Das ist die Revolution unserer Zeit“ für rechtswidrig.

Journalisten vor dem neuen chinesischen Sicherheitsbüro in Hongkong
AP/Kin Cheung
Das neue „Sicherheitsbüro“ befindet sich in einem früheren Hotel

Dazu wurde am Mittwoch ein chinesisches „Sicherheitsbüro“ eröffnet. Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam sprach von einem „historischen Moment“ und einem „Meilenstein“. Das Büro werde dazu beitragen, in der Finanzmetropole „ein intaktes Rechtswesen“ aufzubauen und die „nationale Sicherheit“ zu schützen. Wie viele Mitarbeiter die Führung in Peking in dem neuen Büro beschäftigen wird, war zunächst unklar. Es ist im ehemaligen Metropark Hotel untergebracht, einem 33-stöckigen Gebäude mit 266 Zimmern im Einkaufs- und Geschäftsviertel Causeway Bay.

Als „Torwächter der nationalen Sicherheit“ würdigte Luo Huining, der Leiter des chinesischen Verbindungsbüros und damit oberster Vertreter der Pekinger Regierung in Hongkong, die neue Einrichtung. Diejenigen, die China und Hongkong liebten, würden das Büro begrüßen. Diejenigen, die gegen China seien und Hongkong zu destabilisieren suchten, hätten das Büro nicht nur stigmatisiert, sondern auch das Rechtssystem und die Gültigkeit der Gesetze des chinesischen Festlandes verwischt. So werde versucht, unnötige Sorgen und Ängste unter der Hongkonger Bevölkerung zu schüren.

Verdächtige können an China ausgeliefert werden

Unmittelbar nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes statuierten die Behörden ein Exempel an einem verhafteten Demonstranten. Ein Richter lehnte es ab, den 23-Jährigen gegen Kaution auf freien Fuß zu setzen. Als Begründung verwies er auf Artikel 42 des neuen Gesetzes, der einen solchen Schritt untersagt, wenn vom Angeklagten eine fortgesetzte Gefahr für die nationale Sicherheit ausgeht. Die Verhandlung soll am 6. Oktober beginnen. Ihm wird vorgeworfen, ein Motorrad in eine Gruppe von Polizisten gelenkt und dabei auf einem Transparent Freiheit für Hongkong gefordert zu haben.

Demonstrant auf einem Motorrad
AP/Cable TV Hong Kong
Ein Demonstrant, der mit einem Motorrad in eine Gruppe Polizisten gefahren sein soll, muss in Haft bleiben

Ihr Urteil können Richterinnen und Richter zudem nun unter Ausschluss der Öffentlichkeit fällen. Geschworene gibt es nicht mehr. Juristinnen und Juristen werden von einer Territorialverwaltung ernannt, diese wird direkt von China aus bestellt. Mutmaßlichen Täterinnen und Tätern muss zudem nicht unbedingt in Hongkong der Prozess gemacht, sie können auch am Festland vor Gericht gestellt werden.

Auf der Grundlage des neuen Gesetzes wurden bereits mindestens zehn Menschen festgenommen, darunter ein 15-Jähriger. Am Mittwoch verboten die Hongkonger Behörden Schülerinnen und Schülern, „Glory to Hongkong“ zu singen. Das Lied gilt als inoffizielle Hymne der Demokratiebewegung. Bildungsminister Kevin Yeung rief außerdem dazu auf, den Unterricht nicht zu boykottieren, keine Menschenketten zu bilden oder politische Slogans zu skandieren.

Lebenslange Haft droht bei Meinungsäußerung

Das chinesische Rechtssystem sieht als Bestrafungen prinzipiell Geldstrafen, Haft, Umerziehungs- sowie Arbeitslager und auch die Todesstrafe vor. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beruft sich jedoch zusätzlich auf Augenzeugenberichte, wenn sie von Folter in Chinas Gefängnissen spricht. Diese ist offiziell verboten. Das Strafausmaß reicht beim Hongkong-Gesetz bis zu lebenslanger Haft.

Dass in China harte Urteile bei offener Meinungsäußerung gesprochen werden, zeigen Aufzeichnungen von Amnesty International und auch Human Rights Watch (HRW). Nationale Sicherheitsgesetze seien wichtige Waffen in China, erklärte etwa Yaqiu Wang von der HRW: „Die Regierung hat die Gesetze missbraucht. Sie richtet sich mit Scheinanklagen gegen chinesische Dissidenten oder uigurische Aktivisten. Sie benutzen Separatismus oder Subversion, um die Redefreiheit zu kriminalisieren.“ In Hongkong werde es nicht anders sein, erwartet sie.

Firmen erwägen Rückzug

Nach Ansicht von Eric Cheung von der Universität Hongkong ist das Gesetz noch „viel schlimmer“ als vorhergesagt, wie das Magazin „Foreign Policy“ („FP“) berichtete. Er befürchte, dass „wirklich alle Ausländer und ausländische Investoren alarmiert werden und niemand sich mehr sicher fühlen kann“. Gerade der Punkt der ab nun verbotenen „Kollaboration mit ausländischen externen Kräften zur Gefährdung der nationalen Sicherheit“ könnte vielen in der Tat zu heikel werden, noch mit Investorinnen und Investoren aus dem Ausland zusammenzuarbeiten – und vice versa, denn das Hongkong-Gesetz gilt auch für Ausländerinnen und Ausländer.

Demontranten in Hongkong
Reuters/Tyrone Siu
Die Menschen in Hongkong demonstrieren weiter gegen das gegen Demokratie und Rechtsstaat gerichtete Gesetz Pekings

Große Internetkonzerne gehen bereits auf Distanz zur Sonderverwaltungszone. Das Gesetz sieht nämlich vor, dass Anbieter auf Anfrage „Identifikationsnachweise oder Hilfe bei der Entschlüsselung zur Verfügung stellen“ müssten. Außerdem ist es China nun erlaubt, Internetseiten zu zensieren. Die Videoplattform TikTok gab bekannt, sich ganz vom Hongkonger Markt zurückzuziehen „angesichts der jüngsten Ereignisse“. Microsoft, Zoom, Facebook, WhatsApp, Google, Twitter, Telegram und LinkedIn kündigten an, Anfragen von Hongkonger Behörden nach Daten von Nutzerinnen und Nutzern nicht zu beantworten und Menschenrechtsexpertinnen und -experten zu kontaktieren.

Lam verspricht „rigorose“ Umsetzung

Andrew Lo, Inhaber einer Hongkonger Auswanderungsagentur, berichtete der dpa indes von mehr als 200 Anfragen an seine Agentur pro Tag. So wollten die Menschen vor allem nach Kanada, Taiwan und Großbritannien auswandern. „Viele haben Angst und Panik“, so Lo zur dpa. Außerdem erwägen einige Staaten die Vergabe von Sondervisa an Bürgerinnen und Bürger Hongkongs. Der britische Premierminister Boris Johnson etwa hatte bis zu drei Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern Hongkongs eine Einbürgerung in Aussicht gestellt.

Auch Australiens Premierminister Scott Morrison stellte sich schützend vor die im Land lebenden Menschen aus Hongkong. Er teilte am Donnerstag mit, dass Australien sein Auslieferungsabkommen mit der chinesischen Sonderverwaltungszone aussetze. Auch würden die Arbeits- und Studentenvisa von rund 10.000 in Australien lebenden Hongkongern pauschal um fünf Jahre verlängert. Danach solle ihnen der Weg zu einem permanenten Aufenthaltsstatus eröffnet werden.

Das neue Gesetz hinterlässt sogar im Schulsystem seine Spuren. Das Bildungsamt der Finanzmetropole wies die Schulen an, kein Lesematerial bereitzustellen, das gegen die neuen Vorschriften verstößt. In einer E-Mail der Behörde an Reuters hieß es, Material zu dem Thema dürfe nur für einen „positiven Unterricht“ genutzt werden. Am Wochenende konnten Bücher einiger prominenter Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler nicht aus Hongkonger Bibliotheken ausgeliehen werden. Andere waren weiter zugänglich, wie eine Prüfung von Reuters ergab.

Regierungschefin Lam versuchte dennoch zu beruhigen und versicherte den Bürgerinnen und Bürgern, sie hätten nichts zu befürchten. Ihre „legitimen Rechte und Freiheiten“ seien gesichert, die richterliche Unabhängigkeit und das „hohe Maß an Autonomie“ der Stadt werde respektiert, und nur wenige Gesetzesbrecher würden von Peking ins Visier genommen. Angesichts dessen, dass es bereits jetzt zahlreiche Anklagen unter dem neuen Gesetz gibt, wirkt Lam auf viele unglaubwürdig. Nicht zuletzt kündigte sie gleichzeitig an, Chinas Gesetz „rigoros“ umzusetzen. Sie warnte „Radikale“ vor „sehr ernsthaften Konsequenzen“, sollten sie gegen das Gesetz verstoßen.

Früherer Regierungschef kündigt Kopfgeld an

Manche pekingfreundlichen Beamtinnen und Beamten sehen in dem Gesetz sogar eine Gelegenheit, Rache zu üben. Der frühere Regierungschef Leung Chun Ying etwa, der von der Regenbogenrevolution 2014 massiv zum Rücktritt gedrängt wurde, postete auf Facebook, ein Kopfgeld für Tipps zur Identifizierung derjenigen anzubieten, die gegen das Hongkong-Gesetz verstoßen.

Gerade weil es auch Zustimmung in Hongkong gibt, wieder enger an China gebunden zu werden, ist nicht damit zu rechnen, dass Peking seine Maßnahmen zurücknimmt oder abschwächt. Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua schreibt: „Peking wird seinen Kurs zur Beendigung von Chaos und Gewalt in Hongkong, zum Schutz der nationalen Sicherheit und zur Wahrung der heiligen territorialen Integrität und der souveränen Rechte des Landes allein aufgrund des Drucks der USA nicht ändern.“ Ein Einknicken Chinas bewerten Expertinnen und Experten nicht zuletzt deshalb als unwahrscheinlich.

Reaktion auf Demokratiebewegung

Seit der Rückgabe an China 1997 wurde die ehemals britische Kronkolonie nach dem Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“ als eigenes Territorium autonom regiert. Mit dem Gesetz und dem eigenmächtigen Einsatz der chinesischen Staatssicherheit in Hongkong werden die bisher gewährten Freiheiten und Rechte der sieben Millionen Hongkongerinnen und Hongkonger nach Einschätzung von unabhängigen Juristinnen und Juristen aber stark beschnitten.

Das Hongkong-Gesetz war als Reaktion auf die monatelangen und teilweise gewalttätigen Proteste der Demokratiebewegung im vergangenen Jahr von China verabschiedet worden. Die Gegenbewegung richtet sich gegen den wachsenden Einfluss Pekings in der früheren britischen Kronkolonie. Kritische Stimmen sprechen heute nur noch von „einem Land, einem System“.