Kundgebung von Exil-Tschetschenen vor russischer Botschaft in Wien
APA/Hans Punz
Schwierige Integration

Rund 35.000 Tschetschenen in Österreich

Etwa 35.000 Tschetschenen dürften in Österreich leben, mehrheitlich sind sie vor eineinhalb Jahrzehnten als Flüchtlinge ins Land gekommen. In Ermangelung von Sprachkenntnissen sowie angesichts kriegsbedingter Bildungsdefizite blieb die Integration schwierig. Vereinzelte Bluttaten erinnern die Diaspora zudem an einen langen Arm des brutalen Regimes von Ramsan Kadyrow in der Heimat am Kaukasus.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte es Anfang der 90er Jahre fast so ausgesehen, dass es 140 Jahre nach der militärischen Niederlage gegen das Russische Imperium wieder so etwas wie eine Eigenstaatlichkeit der Tschetschenen geben könnte. Doch abgesehen vom schwierigen Aufbau eines Staatswesens wollte die Russische Föderation eine Abspaltung nicht akzeptieren: 1994 schickte Präsident Boris Jelzin auf Zuruf von Hardlinern Truppen zur „Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung“.

Im August 1996 und nach geschätzt 25.000 Toten endete dieser erste Tschetschenien-Erieg mit der temporären Akzeptanz eines quasi-unabhängigen Itschkerien – so die Eigenbezeichnung – durch Moskau. Innenpolitisch schwächten die Folgen dieses Krieges jedoch die säkulare Nationalbewegung, und islamistische Kräfte erstarkten. Letztere zündelten in der Nachbarschaft.

Aufstieg von Ramsan Kadyrow

Nach einer militärischen Intervention von Islamisten im benachbarten Dagestan startete Moskau im August 1999 eine „antiterroristische Operation“. Dieser zweite Tschetschenien-Krieg sorgte nicht nur für einen Blitzstart der großen politischen Karriere des damaligen Premierministers Wladimir Putin, sondern auch für weitere 10.000 bis 20.000 Tote und ein Ende eigenstaatlicher Ambitionen. Unter dem zu den „Föderalen“, den Russlandtreuen, übergelaufenen Ex-Mufti Achmat Kadyrow entstand die wahrscheinlich am autoritärsten regierte Teilrepublik der Russischen Föderation. Kadyrow starb 2004 bei einem Terroranschlag, damit begann der Aufstieg seines Sohnes Ramsan Kadyrows.

Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadryow
Reuters/Sputnik
Kadyrow herrscht mit eisener Hand

Putin machte den erst 27-Jährigen zum tschetschenischen Vizepremier. Im März 2006 wurde er Regierungschef. Weil die tschetschenische Verfassung für das höchste Amt in der Teilrepublik ein Mindestalter von 30 Jahren vorsieht, wurde Ramsan Kadyrow erst 2007 auf Vorschlag Putins und ohne Gegenkandidaten zum Präsidenten „gewählt“.

Kadyrow junior bedankte sich gebührlich: Bei der Wahl der russischen Staatsduma im Dezember 2007 lieferte er der Putin-Partei Geeintes Russland das beste Ergebnis in ganz Russland: 99,36 Prozent der Stimmen der Tschetschenen bei einer Wahlbeteiligung von 99 Prozent. Auch bei der Parlamentswahl 2016 votierten nach offiziellen Angaben 98 Prozent der Tschetschenen für Putins Partei.

Konzentration auf wenige Fluchtländer

Vor dem Hintergrund einer teils berechtigten Angst vor politischer Verfolgung trafen nach dieser russischen Machtübernahme Tausende Tschetschenen die Entscheidung zur Flucht. Andere Regionen Russlands waren für viele nach den Erfahrungen mit der russischen Armee keine Option, und es zog sie zunächst nach Belgien, Frankreich und Österreich, wo angesichts manifester Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien jeweils viele Tausende Asyl bekamen.

Später avancierten Deutschland und Norwegen zu weiteren wichtigen Zielländern. Hintergrund dieser beschränkten Länderauswahl dürften größere Gruppen von Flüchtlingen gewesen sein, zu denen sich dann jeweils weitere Landsleute gesellten, um einander helfen zu können.

Zentrale Rolle Österreichs

Österreich spielte und spielt für die tschetschenische Diaspora eine zentrale Rolle: Bis 2006 waren geschätzte zwei Prozent der gesamten Bevölkerung der nunmehrigen russischen Teilrepublik ins Land gekommen, heute könnten fast drei Prozent aller Tschetschenen in Österreich leben. Auch das Spektrum des tschetschenischen Widerstands gegen Russland ist hier vertreten: Neben eher älteren Proponenten eines unabhängigen säkularen Staates Itschkerien, darunter der nunmehrige Exilpolitiker Khuseyn Iskhanov in Wien, immigrierten auch jüngere, eher verdeckt agierende radikale Islamisten. Letztere wurden zwischenzeitlich in Österreich vom 2017 in Georgien getöteten Terrorverdächtigen Achmed Tschatajew angeführt.

Islamistische Propaganda spielte aber auch in einer heißen Phase des syrische Bürgerkrieges um 2012/13 eine problematisch Rolle: Mehrere hundert junge Tschetschenen in Europa, die vielfach kriegsbedingt in ihrer früheren Kindheit kaum Schulen besucht hatten, ließen sich manipulieren und zogen zum Entsetzen ihrer Eltern in den Dschihad nach Syrien.

Mit Straßenschlachten in Dijon in den Schlagzeilen

Die überwiegende Mehrheit der europäischen Tschetschenen zeigt indes weder an Itschkerien noch am radikalen Islamismus Interesse und verhält sich politisch passiv. Sie zeichnen sich aber oft durch ein zugespitztes Empfinden für Gerechtigkeit aus, das auch kollektiv zum Ausdruck gebracht werden kann: Nachdem kürzlich im ostfranzösischen Dijon Drogendealer einen Jugendlichen aus der Community verprügelt hatten, gingen 150 Tschetschenen zum Gegenangriff über. Laut Medienberichten waren Angehörige der Volksgruppe nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus Belgien, Deutschland und Österreich dafür angereist.

International gut vernetzt

Nach außen ist die patriarchalisch geprägte Volksgruppe eher verschlossen, untereinander ist man aber auch in der Emigration äußerst gut vernetzt. Dieser Informationsfluss hat sich in den letzten Jahren dank Instant-Messaging-Diensten deutlich beschleunigt. Zu beobachten war das auch beim aktuellen Tötungsdelikt mit Tschetschenien-Bezug in Gerasdorf bei Wien: Noch bevor Namen zu österreichischen Journalisten durchsickerten, machten die Identität des Opfers sowie der mutmaßlichen Täter bereits die Runde in der tschetschenischen Community.

Das Internet und seine Möglichkeiten führten auch dazu, dass einerseits Informationen aus der Heimat ohne Verzögerung verfügbar waren und andererseits die Diaspora in Tschetschenien selbst deutlich sichtbarer wurde.

Kadyrow brachte Angst, aber auch Stabilität

Letzteres verstört den autoritär regierenden Potentaten Ramsan Kadyrow: Abgesehen davon, dass Tausende emigrierte Tschetschenen kraft ihrer Biografie automatisch an eine problematische Vorgeschichte seines Regimes erinnern, bereitet ihm unzensurierte Kritik wenig Freude. Manche Handlungen von Kadyrow und seinem Umfeld erinnern dabei an jene des jungen sowjetischen Staates, der seinerzeit Teile der westeuropäischen Emigration zur Rückkehr aufforderte. Gleichzeitig ließen Lenin und Co. aber auch erbitterte Gegner der Bolschewiken vom Geheimdienst exekutieren oder entführen.

Die Situation für Menschenrechtsaktivisten in Tschetschenien sei dramatisch, berichtete der Russland-Experte von Amnesty International, Peter Franck, 2019. „Sie leben jeden Tag mit der Gefahr, überfallen, festgenommen, gefoltert oder getötet zu werden.“ Menschenrechtsarbeit sei so kaum noch möglich. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial wirft Kadyrow vor, ein „totalitäres“ Regime errichtet zu haben.

Allerdings: Kadyrow habe den Tschetschenen eine bis dahin unbekannte Stabilität gebracht, betonte Boris Dieckow von der deutschen Hilfsorganisation Cap Anamur. Tatsächlich ging der Wiederaufbau im ganzen Land, das etwa so groß ist wie die Steiermark, mit finanzieller Hilfe aus Moskau rasch vonstatten.

Schwierige Integration

Im Unterschied zu gebildeten und vielsprachigen Emigranten aus der früheren Sowjetunion fehlt den heutigen tschetschenischen Flüchtlingen oft ein derartiges soziales Kapital, das sich auch auf dem Arbeitsmarkt verwenden ließe. Der soziale und wirtschaftliche Aufstieg im Exil fällt schwer, traditionell kinderreiche Familien sind in vielen Fällen zudem von Sozialhilfe abhängig. Das führt dazu, dass der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft stark erschwert wird.

Als der damalige FPÖ-Innenminister Herbert Kickl 2018 in Moskau über schnellere Abschiebungen nach Russland verhandelte, kursierte unter österreichischen Tschetschenen daher auch eine gewisse Angst, einen langjährigen Asylstatus zu verlieren und in die Russische Föderation deportiert zu werden.

Für Aufsehen hatte im Februar 2012 der Besuch einer FPÖ-Delegation bei Kadyrow gesorgt. Unter ihnen war der damalige Wiener Klubobmann Johann Gudenus. Offizieller Grund für den Besuch war die Rückführung von rund 40.000 tschetschenischen Flüchtlingen aus Österreich. Kadyrow hatte den Freiheitlichen nach deren Angaben zugesagt, jedem Rückkehrer eine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Eine größere Rückkehraktion fand jedoch bisher nicht statt.