Verhaftung eines Tatverdächtigen in Linz
APA/Matthias Lauber
Ukraine-Connection

Mord an Tschetschenen als Politthriller

Die Spekulationen über die Hintergründe des Mordanschlags auf den tschetschenischstämmigen Mamichan U. alias Martin B. am Samstag in Gerasdorf klingen immer stärker nach einem internationalen Politthriller. Während Behörden und auch die Politik sich mit Informationen zurückhalten, mehren sich die Spuren zu Tschetscheniens Machthaber Ramsan Kadyrow. Mamichan U. hatte nicht nur in Videos gegen Kadyrow gewettert, sondern auch über ein Attentatskomplott in der Ukraine ausgepackt.

Der ehemalige Polizist aus Tschetschenien flüchtete 2005 nach Österreich, wurde im September 2007 als Konventionsflüchtling anerkannt und nahm den Namen Martin B. an. Er brüstete sich damit, schon bald in Österreich gute Kontakte zu Geheimdiensten gehabt zu haben. Ein Anknüpfungspunkt dabei war wohl die Ermordung des Asylwerbers Umar Israilow im Jänner 2009 in Wien, nach der er als Zeuge befragt wurde.

B. kannte das Opfer, das in der Leibgarde Kadyrows gedient hatte und drohte, gegen das Regime eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzubringen. Aber auch zu den Tätern soll er Kontakte gehabt haben. In einem der APA vorliegenden Aktenvermerk aus dem November 2009 führte das Wiener Landesamt für Verfassungsschutz ihn als „gefährdete Person der tschetschenischen Diaspora“. Personenschutz hatte er zuletzt ausdrücklich abgelehnt, seine Wohnung war observiert worden.

Tiraden in YouTube-Videos

Allerdings stand ihm nach drei gerichtlichen Vorstrafen – darunter wegen Schlepperei und Vortäuschung einer mit Strafe bedrohten Handlung – die Aberkennung des Asylstatus bevor. Ein entsprechendes Verfahren war im Laufen. Er hatte gegen die erstinstanzliche Entscheidung, die seine Abschiebung bedeutet hätte, Rechtsmittel eingelegt.

Spekuliert wird nun, ob das mit der Eskalation der Ereignisse zu tun haben könnte. Im April hatte er unter dem Namen „Anzor“ begonnen, auf seinem eigenen YouTube-Kanal Videos zu veröffentlichen – das letzte wenige Tage vor seiner Ermordung. B. wetterte darin gegen das tschetschenische Regime und Kadryow selbst. Mehr als 500.000 Zugriffe haben einige der Clips. Dass diese Kritik allein ihm das Leben gekostet hat, gilt als unwahrscheinlich. Aussagen von Martin B. zuvor bei einem ukrainischen Online-TV-Kanal vom Februar wiegen wohl viel schwerer.

Enthüllungsinterview über Auftragsmorde

Darin behauptet er, er sei 2014 bzw. 2015 mit drei Morden in der Ukraine beauftragt worden. Die Ziele seien einerseits Adam Osmajew und dessen Frau Amina Okujew gewesen, ein Ehepaar, das im Ukraine-Konflikt eine Kampfgruppe von Tschetschenen angeführt hatte, das gegen prorussische Verbände kämpfte. Andererseits sei Ihor Mossijtschuk, ein nationalistischer Abgeordneter und eine führende Figur in der rechtsextremen Politszene in der Ukraine, ihm als Zielperson genannt worden.

B. beschreibt detailliert die Kommunikation mit den angeblichen Auftraggebern – und auch, dass er den Auftrag nicht ausführte, sondern die Pläne an den ukrainischen Geheimdienst SBU – und angeblich auch den österreichischen Behörden – verriet. Laut dem Journalisten Christo Grosew der Investigativplattform Bellingcat plante man, einen der Morde vorzutäuschen, um so an die Hintermänner zu gelangen. Das scheiterte jedoch.

Auf das Ehepaar Osmajew und Okujew wurden dann 2017 tatsächlich zwei Anschläge verübt. Ein als Journalist getarnter Attentäter scheiterte. Es soll sich laut Medienberichten um Artur Denisultanow alias Kurmakajew alias „Dingo“ gehandelt haben, der auch am Israilow-Mord in Wien beteiligt gewesen sein soll. Wenige Monate später geriet das Paar in einen Hinterhalt, Okujew starb, ihr Mann überlebte verletzt. Nur wenige Tage zuvor hatte Mossijtschuk einen Sprengstoffanschlag überlebt. Sein Leibwächter und ein Passant starben. Denisultanow wurde nach zweieinhalb Jahren Haft in der Ukraine Ende 2019 im Zuge eines Gefangenenaustauschs an die prorussischen Separatisten übergaben.

Schwere Vorwürfe gegen Kadyrow und dessen Cousin

Mossijtschuk und B. blieben verbunden. Im Vorjahr trafen sich die beiden laut Grosew in der ukrainischen Botschaft in Wien. Dabei habe B. seine Vorwürfe offiziell zu Protokoll gegeben und vor allem zwei Männer belastet: Ramsan Kadyrow und dessen Cousin und engen Vertrauten Adam Delimchanow. Er sitzt seit 2007 im russischen Parlament – als Abgeordneter der Partei Geeintes Russland von Präsident Wladimir Putin. Delimchanow wird in Dubai in Zusammenhang mit der Ermordung des tschetschenischen Rebellenführers Sulim Jamadajew von 2009 gesucht.

Doch beim ukrainischen Geheimdienst SBU fand B. dann im Vorjahr laut „Spiegel“ kein Gehör mehr – nach dem Machtwechsel war der Geheimdienst auch politisch umgebaut worden.

Ukrainischer Nationalist sieht Verbindungen nach Russland

Mossijtschuk trat nun auch nach dem Attentat wieder auf den Plan: B. habe ihn Mitte Juni um Hilfe bei der Beschaffung einer kugelsicheren Weste ersucht, berichtete er der APA. In Sozialen Netzwerken berichtete er über seine letzten Chats mit B. Der habe ihm berichtet, dass er und seine Familie von einer ukrainischen Anwältin eingeschüchtert worden seien.

Der nationalistische Publizist und mittlerweile Ex-Politiker vermutet eine Verbindung der Frau zum russischen Geheimdienst. Und B. habe ihm berichtet, dass ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt sei. Berichte über ein angebliches Kopfgeld mehrten sich bereits in den vergangenen Tagen, Summen von fünf bis 20 Millionen US-Dollar für den Tod B.s werden kolportiert.

Von 20 Millionen spricht etwa der in Schweden lebende Exiltschetschene Tumso Abdurachmanow. Der Regimekritiker und Blogger war im Februar selbst Ziel eines Überfalls, er konnte den Angreifer, der mit einem Hammer in seine Wohnung eindrang, aber überwältigen. Gegenüber dem Portal Kavkaz.Realii sagte er, dass über den Mord an B. „niemand überrascht war“. Kadyrow habe schon für weniger getötet als für die beleidigenden Aussagen, die B. in seinen Videos geäußert habe.

Dritter Mord in Europa binnen weniger Monate

B. ist der dritte Exiltschetschene, der binnen weniger Monate auf mysteriöse Weise ermordet wurde: Im August 2019 wurde ein 40 Jahre alter Tschetschene mit georgischer Staatsangehörigkeit in Berlin von einem Fahrrad aus mit Schüssen in Kopf und Rücken niedergestreckt. Das Opfer kämpfte im zweiten Tschetschenien-Krieg gegen Russland. Ein tatverdächtiger Russe wurde noch am Tag des Attentats gefasst. Die deutsche Justiz vermutet einen russischen Auftragsmord, die Hintergründe sind aber nach wie vor rätselhaft. Heuer im Februar wurde in einem Hotel in der französischen Stadt Lille der tschetschenische Blogger Imran Alijew tot aufgefunden. Der in Belgien lebende Mann wies 135 Messerstiche auf.

Nehammer vermutet Hintermänner

Heimische Behörden und Politik halten sich – wohl auch ob der möglicherweise heiklen Verwicklungen – bedeckt. Die beiden verhafteten Tatverdächtigen, ebenfalls Exiltschetschenen, schweigen. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) geht davon aus, dass es bei der Bluttat in Gerasdorf Hintermänner geben könnte. Die Ermittlungen – insbesondere zum Motiv – „laufen derzeit auf Hochtouren“, so Nehammer. „Es braucht volle Aufklärung, denn viel zu oft werden ausländische Konflikte nach Österreich hineingetragen. Dafür habe ich null Toleranz.“ Gewaltbereite oder radikale Gruppen, die – egal aus welchem Motiv – den Rechtsstaat mit Füßen treten, müssten entschieden in die Schranken gewiesen werden – mehr dazu in noe.ORF.at.

Verdächtiger als Waffenschmuggler vorbestraft

Indes wurden auch weitere Details zum mutmaßlichen Schützen bekannt. Er dürfte nach APA-Recherchen eine kriminelle Vorgeschichte in der Ukraine haben. Eine Person mit dem Namen und dem Geburtsdatum des 47-Jährigen wurde wegen Waffenschmuggels 2013 in der Westukraine zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.

Laut ukrainischem Gerichtsurteil war Sar-Ali A. Ende Februar 2013 während der Fahrt von Österreich nach Russland an einem Grenzübergang im Westen der Ukraine verhaftet worden. Im Benzintank seines Volkswagens hatten die Grenzbeamten 1.000 Patronen des Kalibers .45 ACP gefunden. Es folgte eine Anklage wegen Schmuggels und illegalen Waffenbesitzes, die im August 2013 zu einer Verurteilung führte.

Zeitpunkt der Entlassung unklar

Gegenüber den ukrainischen Behörden gab er sich als ehemaliger Polizist und Kriegsveteran aus. Er sprach von Plänen, permanent nach Tschetschenien zurückzukehren, um in der Heimat seine persönliche Sicherheit sowie die Sicherheit seiner Familie sicherzustellen. Die beschlagnahmten Patronen seien ein Gelegenheitskauf bei einem Bekannten gewesen, sagte er. Mossijtschuk sagte am Dienstag gegenüber der APA, A. habe seine Haftstrafe in der Nähe von Charkiw verbüßt. Hinweise im Facebook-Profil des Mannes stützen diese Aussage.