Polilzei-Absperrband am Tatort
AP/Ronald Zak
Toter Tschetschene

Hinweise auf Auftragsmord verdichten sich

Beim gewaltsamen Tod des 43-jährigen Tschetschenen Mamichan U. alias Martin B. am Wochenende in Gerasdorf schließt die Polizei weiterhin weder einen Auftragsmord noch einen eskalierten Streit aus. Exiltschetschenen und Bekannte gehen allerdings von Anfang an von einer gezielten Tötung aus. Und sie verweisen auf weitere Liquidationen von Tschetschenen in den vergangenen Monaten – wie auch auf den Fall Israilow in Wien 2009.

Dass B. in den vergangenen Monaten in Videos den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow und seine Familie beschimpft hatte, wurde schon kurz nach der Tat als Motiv vermutet. Zudem tischte B. heuer gegenüber einem ukrainischen Online-TV-Sender eine spektakuläre Geschichte über ein Auftragsmordkomplott in der Ukraine auf – mit Kadyrow als einem der Drahtzieher. Viele Indizien sprechen dafür, dass an seiner Geschichte etwas dran sein könnte.

Die beiden unmittelbar nach der Tat gefassten Verdächtigen schweigen laut Polizei. Dass es sich bei beiden nicht unbedingt um klassische Auftragskiller handelt, passt für Beobachter durchaus in ein Muster: Schon bei der Ermordung von Umar Israilow sei es ähnlich gelaufen.

Mit Kopfgeld Familien versorgt?

Ihor Mossijtschuk, ultrarechter ukrainischer Ex-Politiker und Vertrauter von B., nennt in einem langen Interview mit dem Portal Kavkaz.Realii die Verdächtigen „Torpedos“: Ihnen sei klar gewesen, dass sie zu 99 Prozent gefasst werden und dass ihnen lebenslange Haft drohte: „Aber sie wussten, dass das Geld an ihre Verwandten gegeben würde.“ Damit seien ihre Familien ein Leben lang versorgt. Kolportiert wurden Summen von fünf bis zu 20 Millionen US-Dollar für die Tat. Dass das Kopfgeld tatsächlich so hoch war, wird aber stark bezweifelt. Gegen beide Verdächtige lief ein Verfahren zur Aberkennung des Flüchtlingsstatus.

Erinnerung an Ermordung Israilows

Mossijtschuk verweist auch auf den Fall Israilow: Dieser hatte gegen Kadyrow ein Verfahren wegen Foltervorwürfen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) betrieben. Die Tätergruppe wollte ihn eigentlich entführen und nach Tschetschenien bringen, doch die Aktion misslang, Israilow wurde auf offener Straße erschossen.

Im Zuge der Ermittlungen fiel seinerzeit selten das Wort Kopfgeld, zumindest zwei der drei Männer, die in dem Mordfall zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, fielen aber in eine ähnliche Kategorie wie der derzeitige Hauptverdächtige: vorbestraft und ohne große Perspektiven für die Zukunft. Einer vor ihnen war sogar erklärter politischer Gegner Kadyrows.

Der als Haupttäter verurteilte Otto K. hatte damals wiederum beste Kontakte zum tschetschenischen Machthaber selbst. Und dem mutmaßlichen Todesschützen Letscha B. gelang es, sich nach der Tat nach Tschetschenien abzusetzen, wo er später einen hohen Sicherheitsposten bekleidete. Sein Name taucht später im Magnitsky Act auf, jenem US-Gesetz, das alle Beteiligten am Tod des russischen Steuerberaters Sergej Magnizki sanktionierte.

Staatsanwaltschaft und Ermittler gingen damals auch davon aus, dass Kadyrow den Auftrag für die Tat erteilt habe. Die geforderte Einvernahme des tschetschenischen Präsidenten wurde im Prozess „wegen Undurchführbarkeit“ abgewiesen.

Blogger will B. gewarnt haben

Der im schwedischen Exil lebende populäre tschetschenische Videoblogger Tumso Abdurachmanow glaubt indes, dass der Mörder von B. ausschließlich ökonomisch motiviert war, ein ideologisches Motiv schließt er aus. „Ich habe gehört, dass Tschetschenen in Österreich ihn für einen Kadyrow-Anhänger erachteten, der für russische Dienste arbeitet und dem man nicht vertrauen kann“, sagte der Blogger gegenüber der APA. Er gibt an, dass er Martin B. am 18. Mai explizit gewarnt habe. „Zu diesem Zeitpunkt war die Rede davon, das seine Liquidation eine beschlossene Sache ist und sie einen Weg suchen, wie der Killer nach der Tat hinausgebracht werden kann“, sagte er.

Abdurachmanow war im Februar selbst Opfer eines versuchten Anschlags: Ein Mann attackierte ihn in seiner eigenen Wohnung mit einem Hammer, dem Blogger gelang es jedoch, den Angreifer zu überwältigen. Beim Attentäter handelt es sich um Ruslan M., einen unbescholtenen jungen Mann aus Kasachstan, der in Russland lebte. Laut BBC kämpfte er mit Geldschulden. Kurze Zeit vor dem Attentat reiste er laut Bellingcat-Recherchen zweimal in die tschetschenische Hauptstadt Grosny, bevor er nach Kopenhagen flog und zwei Tage später an der geheimen Adresse des Bloggers auftauchte. Familienangehörige und Freunde können sich laut BBC die Tat nicht erklären.

Morde in Lille und Berlin

Abdurachmanow gilt als einer der schärfsten Kritiker Kadyrows, zudem hatte er kurz vor dem Überfall den mutmaßlichen Mörder eines weiteren tschetschenischen Bloggers geoutet. In der französischen Stadt Lille war Anfang Februar der in Belgien lebende Imran Alijew in einem Hotel erstochen aufgefunden worden. Abdurachmanow trug Indizien zusammen, die den Tschetschenen Usman M. belasten. Er soll wiederum für Adam Delimchanow arbeiten, Abgeordneter der Partei Geeintes Russland von Präsident Wladimir Putin im Parlament und ein Cousin und enger Vertrauter Kadyrows.

Abdurachmanow verweist auch auf den Mord an dem 40-jährigen Tschetschenen mit georgischer Staatsangehörigkeit in Berlin im August 2019. Der Täter hatte ihn von einem Fahrrad aus mit Schüssen in Kopf und Rücken niedergestreckt. Das Opfer kämpfte im zweiten Tschetschenien-Krieg gegen Russland. Ein tatverdächtiger Russe wurde dank Zeugen noch am Tag des Attentats gefasst.

Medienrecherchen legen nahe, dass es sich um Vadik K. handelt, Mitglied einer Spezialeinheit des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, der auch mit einem Mord in Moskau in Zusammenhang gebracht wird. Alle diese Morde verbinde, dass auf die eine oder andere Weise Russland dahinterstecke, erklärte Abdurachmanow gegenüber der APA. Auch Kadyrow sei schließlich ein russischer Amtsträger.

Interview zu Mordaufträgen

Und genau in dieses Wespennest rund um kolportierte Auftragsmorde stach offenbar Martin B. mit seinem Interview im Februar: Darin behauptete er, er sei 2014 bzw. 2015 mit drei Morden in der Ukraine beauftragt worden. Die Ziele seien einerseits der Politiker Mossijtschuk und andererseits Adam Osmajew und dessen Frau Amina Okujew gewesen, ein Ehepaar, das im Ukraine-Konflikt eine Kampfgruppe von Tschetschenen angeführt hatte, das gegen prorussische Verbände kämpfte.

B. beschreibt detailliert die Kommunikation mit den angeblichen Auftraggebern – und auch, dass er den Auftrag nicht ausführte, sondern die Pläne an den ukrainischen Geheimdienst SBU – und angeblich auch die österreichischen Behörden – verriet.

Attentatsversuch in der Ukraine

Auf das Ehepaar Osmajew und Okujew wurden dann 2017 tatsächlich zwei Anschläge verübt. Ein als Journalist getarnter Attentäter scheiterte: Artur Denisultanow alias Kurmakajew alias „Dingo“, der laut Ermittlungsakten auch am Israilow-Mord in Wien beteiligt war, wurde bei dem Attentat verletzt. B. sollte offenbar als Kronzeuge im Prozess auftreten, dazu kam es aber nie. Nach dem politischen Machtwechsel in der Ukraine erhielt er laut eigenen Angaben kein Visum.

Denisultanow wurde nach zweieinhalb Jahren Haft in der Ukraine Ende 2019 im Zuge eines Gefangenenaustauschs an die prorussischen Separatisten übergeben. Laut Berichten hielt er sich zwei Tage später schon in Grosny auf. Das Ehepaar Osmajew und Okujew geriet im Oktober 2017 in einen Hinterhalt, sie starb, ihr Mann überlebte verletzt. Nur wenige Tage zuvor hatte Mossijtschuk einen Sprengstoffanschlag überlebt. Sein Leibwächter und ein Passant starben.

Kadyrow und Kreml weisen Verwicklung zurück

Indes wiesen Kadyrow selbst und auch der Kreml jegliche Verwicklung in den Mordfall in Gerasdorf zurück: Kadyrow beklagte in einer verklausulierten Botschaft eine Instrumentalisierung tschetschenischer Exilblogger durch westliche Geheimdienste, die gegen Russland und ihn arbeiten würden.

Er verwies auf eine tschetschenische Tradition, laut der man für Gesagtes zur Verantwortung gezogen werde. Doch aufgrund eines „Paradoxons“ sei es dazu gar nicht gekommen: „Bevor diese Hunde in Schande für jedes Wort zur Verantwortung gezogen werden können, werden sie von Mördern gerettet, die von (westlichen, Anm.) Geheimdiensten bezahlt werden.“ Die Stellungnahme endet mit einer Formulierung, die auch durchaus als Drohung gelesen werden kann: „Werdet keine Marionetten, kümmert Euch um Eure Familien. Sonst erwartet auch Euch ebenso dieses Schicksal. Beschuldigen wird man dann erneut Kadyrow und seine Mannschaft.“

Kritik an „Spekulationen“

Auch die Stellungnahme des Kremls lässt Fragen offen: Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte, es sei unlogisch, den Mord an dem Tschetschenen in Österreich Kadyrow anzulasten. „Das hat nichts mit Logik zu tun. Der ermordete österreichische Staatsbürger und Ramsan Kadyrow? Wenn er Kadyrow kritisiert hat und wenn es ein tschetschenischer Bürger wäre, dann müsste es Kadyrow sein. Sind Sie auch der Meinung, dass das nicht logisch ist?“, sagte Peskow.

Auch das Außenministerium in Moskau äußerte sich: Ministeriumssprecherin Marija Sacharowa übte dabei insbesondere deutliche Kritik an Spekulationen, laut denen Kadyrow in das Verbrechen verwickelt sein könnte. „Wir weisen diese Anspielungen äußerst kategorisch zurück und denken, dass diese Spekulationen unangebracht sind und eine objektive Aufklärung stören“. Sie betonte, dass die russische Botschaft in Wien in der Causa aktiv mit den zuständigen österreichischen Behörden zusammenarbeite.

Treffen mit russischem Botschafter in Wien

Mittlerweile beschäftigt das Thema auch die Diplomatie: Das Bundeskanzleramt bestätigte am Freitag ein Treffen von Generalsekretär Bernd Brünner mit dem russischen Botschafter Dmitri Ljubinski. „Österreich verurteilt die Tötung zutiefst“, sagte ein Sprecher zur APA. „Derartige Gewaltexzesse haben in Österreich nichts zu suchen. Eine rasche Aufklärung der Gewalttat ist höchste Priorität der österreichischen Behörden“, hieß es in der Stellungnahme des Bundeskanzleramts.

Die Grünen hatten eine offizielle Reaktion Österreichs gefordert, sollte sich bestätigen, dass Russland hinter der Tat stecke. „Wenn sich der Verdacht in Richtung Russland erhärtet, darf Österreich nicht schweigen“, sagte die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, der „Presse“ (Freitag-Ausgabe).

Das Treffen zwischen Ljubinski und Brünner fand am Donnerstag statt. Es handelte sich um einen „Antrittsbesuch, der anlässlich des Spatenstichs zur Schoah-Namensmauer vereinbart wurde“, erklärte das Bundeskanzleramt. Botschafter Ljubinski erklärte auf Facebook, „äußerst froh“ über die „direkten Kontakte“ zu sein. Er betonte außerdem, dass auf russische Initiative Vertreter der russischen und österreichischen Strafverfolgungsbehörden und Dienste in Kontakt getreten seien, und bestätigte „die Bereitwilligkeit zu einem engen Zusammenwirken“.