Ein Kind im Kindergarten schnäuzt sich
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Schwierige CoV-Regeln

„Besser mit Schnupfen in den Kindergarten“

Die Sommerferien haben zwar gerade erst begonnen, doch die Ungewissheit, wie der Alltag in Kindergärten und Schulen im Herbst weitergeht, hängt wie ein Damoklesschwert über vielen Eltern. Denn zum einen können Kindergruppen schnell von heute auf morgen geschlossen werden, wenn ein CoV-Verdachtsfall vorliegt. Zum anderen verlangen einige Kindergartenbetreiber selbst bei leichten Verkühlungen eine Abklärung beim Kinderarzt.

Kranke Kinder müssen zu Hause bleiben. Aber bei Erkältungen und Fieber von (kleinen) Kindern gibt es großen Interpretationsspielraum. Die Entscheidung, ob es sich um eine Erkältung oder um einen CoV-Verdachtsfall handle, sei ein „Balanceakt“ für Eltern wie für Kindergärten, so die Wiener Kinderfreunde, Betreiber von rund 140 Kindergärten: „Jeder Verdachtsfall muss abgeklärt werden, das liegt in der Verantwortung der Betreiber“, heißt es gegenüber ORF.at. Erkältungssymptome seien genauso ernst zu nehmen.

Für die Abklärung raten Kindergartenbetreiber Eltern entweder einen Anruf bei der Hotline 1450 an oder – in den meisten Fällen – zuvor eine Untersuchung beim Kinderarzt. Es seien in den vergangenen Wochen viele Kinder „mit banalen Symptomen von Kindergärten geschickt worden, um auf das Coronavirus untersucht zu werden“, erzählt der Wiener Kinderarzt Peter Voitl aus seiner Praxis: „Das ist furchtbar. Das legt das ganze System lahm.“ Für die chronisch kranken Kinder bliebe in den Praxen zu wenig Zeit. Es werde auch für die Eltern schwierig, denn jedes Kind habe im Schnitt acht bis zehn Verkühlungen im Herbst und Winter.

Über Herbst „will ich gar nicht nachdenken“

Kinderärztin Marlies Haslinger beobachtete in den vergangenen Wochen ebenfalls eine Häufung von Nachfragen aufgrund von Schnupfen, Husten und Fieber. Über den Herbst, wenn diese Infektionen wieder mehr werden, „will sie gar nicht nachdenken“, so Haslinger im ORF.at-Interview. „Es wird hier von den Kinderärzten und Kinderärztinnen der Ausschluss einer SARS-CoV-2-Infektion und eine entsprechende schriftliche Bestätigung erwartet, der klinisch aber nicht möglich ist. Es bedarf hier immer eines Tests“, sagte auch der Tiroler Kinderarzt Klaus Kapelari gegenüber ORF.at.

Eine Kinderärztin macht bei einem Mädchen in einer Arztpraxis einen Rachenabstrich
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Schnupfen oder CoV-Infektion? Kindergärten verweisen Eltern für die Abklärung dieser Frage meist an die Kinderärzte

„Auch Schnupfenkinder müssen in den Kindergarten gehen können“, lautet daher der Appell Voitls. Denn die Großeltern zählten zur Risikogruppe, und wenn ein Elternteil die Betreuung für mehrere Kinder übernehme, breite sich das Virus unkontrolliert aus. Voitl: „Es ist also besser, mit Schnupfen in den Kindergarten zu gehen.“ Zumal Kinder keine Superspreader seien. Auch die Empfehlungen des Gesundheitsministeriums zu Schutzmaßnahmen in Kindergärten zählen Schnupfen nicht zu den Symptomen, die einen CoV-Verdacht mit sich bringen.

Kinder als CoV-„Bremsklötze“

Dass Kinder kein Treiber für die Ausbreitung des Virus sind, zeigt auch eine aktuelle Studie aus dem deutschen Bundesland Sachsen. Bei einer Untersuchung von 1.500 Schülern und 500 Lehrern zwischen Mai und Juli wurden dabei nur bei zwölf Personen SARS-CoV-2-Antikörper festgestellt – obwohl auch an Schulen mit CoV-Fällen getestet wurde. „Kinder sind vielleicht sogar Bremsklötze bei der Infektion“, sagte der Studienautor Reinhard Berner von der Uniklinik Dresden. Aus der Studie könne man ableiten, dass es in einer Region mit geringen Infektionszahlen keine explosionsartige Ausbreitung in Schulen gebe.

Ähnliche Beobachtungen machten Kindergartenbetreiber. An den 91 KIWI-Standorten in Wien wurden seit Mitte März 150 CoV-Tests durchgeführt. Drei davon waren positiv: zwei Eltern, ein Mitarbeiter und kein Kind. Ähnlich sieht die bisherige Bilanz der Wiener Kinderfreunde aus. Von 200 Tests in rund 50 Kindergärten wurden zwei Kinder und eine Mitarbeiterin positiv getestet. In Salzburg wurden aufgrund von Betroffenen im Familienverband 300 unter Sechsjährige getestet: Drei Prozent von ihnen waren mit dem Coronavirus infiziert.

Schließung bei CoV-Verdacht

Die Tests haben aber aufgrund der Vorgaben der Behörden Schließungen von Gruppen oder ganzen Kindergärten zur Folge gehabt – so lange, bis die jeweiligen Testergebnisse vorlagen. Und das kann derzeit auch mehrere Tage in Anspruch nehmen. Das zerrt am Nervenkostüm aller Beteiligten: Bei Eltern, die keinen Urlaub und Pflegeurlaub mehr haben. Bei den Kindern, die einmal in den Kindergarten dürfen, dann wieder nicht. Bei den Kindergartenbetreibern, die sich aufgrund der Konsequenzen bei einem konkreten CoV-Verdacht so gut wie möglich absichern wollen und daher in manchen Fällen schon bei leichten Symptomen eine Abklärung beim Kinderarzt wollen.

Sobald der Kindergarten über einen CoV-Test eines Kindes informiert wird, muss diese Gruppe nach den derzeitigen behördlichen Vorgaben geschlossen werden, bis das Testergebnis vorliegt. Kinderärztin Haslinger sieht in der Praxis, dass viele Eltern lieber einen CoV-Test wegen Schnupfen machen lassen, um sich abzusichern, und „damit sie nicht zu Hause bleiben müssen“.

Für KIWI-Geschäftsführer Thomas Gerold-Siegl ist das ein „Graubereich“, für den er sich eine „liberalere Lösung“ wünschen würde: „Denn sobald ein Test gemeldet wird, muss die Gruppe geschlossen werden.“ In Niederösterreich etwa entscheiden die Gesundheitsbehörden im Fall eines CoV-Tests im Kindergarten basierend auf den Ergebnissen des Contact-Tracing, ob eine Gruppe sofort oder nach Vorliegen des Tests geschlossen wird, heißt es vom Amt der niederösterreichischen Landesregierung.

Urlaub und Pflegefreistellung aufgebraucht

Der KIWI-Geschäftsführer in Wien plädiert dafür, auch andere Kriterien wie etwa eine Erkältungswelle im Umfeld für eine Entscheidung zur Schließung einer Gruppe heranzuziehen. Entscheidend sei aber, dass Eltern mehr Sicherheit bekommen, so Gerold-Siegl, und das Recht auf Homeoffice bei behördlicher Schließung oder – wenn das nicht möglich sei – Sonderurlaub.

Bei vielen Eltern sind Urlaub und Pflegefreistellung bereits aufgebraucht. So mancher Arbeitgeber verweist auf die Option unbezahlten Urlaubs, wenn es wieder eine spontane Gruppenschließung im Kindergarten gibt. Inzwischen gibt es auch eine Petition „Familien in der Krise“, die fordert, dass der Kindergarten bis zum Vorliegen des Testergebnisses offen bleiben müsse. Zudem brauche es schnellere Testergebnisse. Bis Mittwochabend unterzeichneten über 2.700 Menschen die Petition.

Arbeit an Regelwerk

So mancher der Beteiligten – Kinderärzte, Eltern, Kindergärten – fühlt sich mit den Problemen alleingelassen. Der Ruf nach klaren Vorgaben der Gesundheitsbehörden und schnelleren Testergebnissen ist laut. Auch SPÖ-Bildungssprecherin Sonja Hammerschmid fordert bundesweite Regeln zumindest für Schulen. Klassen- oder Schulschließungen dürften nicht wahllos und flächendeckend erfolgen, sondern nur evidenzbasiert, verbunden mit einer umfassenden Teststrategie.

Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde spricht sich für einen Regelbetrieb an Schulen im Herbst aus. Eine Schließung berge die Gefahr stärkerer Ungleichheiten insbesondere für Kinder aus benachteiligten Familien. Im Austausch mit Gesundheits-, Bildungsministerium und Gesundheitsbehörden wird derzeit an Richtlinien gearbeitet, die für das neue Schuljahr gelten sollen, hieß es gegenüber ORF.at. Zugleich wird auch auf Länderebene an Lösungen für die nächsten Wochen und den Herbst gewerkt.

Der Wiener Kinderarzt Peter Voitl
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Kinderarzt Voitl entwickelt mit der Wiener Landessanitätsdirektion Empfehlungen für den Herbst

In Wien wird an einem Konzept für Bildungseinrichtungen für den Herbst gearbeitet. Und Kinderarzt Voitl entwickelt mit Experten der Ärztekammer und der Landessanitätsdirektion Wien Richtlinien, die sich an Eltern, Kindergärten und Kinderärzte richten. Sie sollen so bald wie möglich veröffentlicht werden. Eltern sollten etwa Gegenstände, die häufig angegriffen werden, wie etwa Handys und Türschnallen, regelmäßig desinfizieren, so Voitl, „aber nicht die Kinder zu Hause einsperren“. An die Kindergärten richtet der Kinderarzt die Botschaft: „Nicht jeder Schnupfen braucht einen Coronavirus-Test.“ Und es müsse sorgsam mit den limitierten ärztlichen Ressourcen umgegangen werden.

Herausforderung Grippewelle

Denn im Herbst und Winter ist wieder eine Grippewelle zu erwarten – mit ähnlichen Symptomen wie bei einer Covid-19-Erkrankung. Entsprechend bereiten sich auch andere Bundesländer auf diese Herausforderungen im Herbst vor. In Tirol arbeiten etwa Experten des Landes mit Vertretern der Ärztekammer daran, dass Ärzte ausreichend Schutzmaterialien haben und dass Testergebnisse rascher vorliegen.

Auf großflächige Kindergarten- und Schulschließungen, wie es zuletzt in Oberösterreich der Fall war, will Salzburg auch in Zukunft verzichten, so NEOS-Familienlandesrätin Andrea Klambauer gegenüber ORF.at. Bis ein Testergebnis vorliegt, sollen nur einzelne Gruppen bei einem Verdachtsfall geschlossen werden. In Abstimmung mit der Landessanitätsdirektion will Klambauer bis zum Herbst bei Tests von Pädagogen innerhalb von einem Tag ein vorliegendes Ergebnis erreichen.

Tests nur Momentaufnahme

Der Forderung von NEOS in Wien, zumindest in den ersten drei Wochen des neuen Schul- und Kindergartenjahres die Kinder im Pflichtschul- und Kindergartenalter flächendeckend zu testen, können weder Ärztevertreter noch Kindergärten viel abgewinnen. Das sei eine Momentaufnahme. Voitl: „Wenn dann müsste man den ganzen Winter durchtesten.“ Aber ständig testen sei nicht realistisch, ist auch Kindergartenbetreiber Gerold-Siegl überzeugt.