Nach einem zehnstündigen Spaziergang und einer fast ebenso langen Unterhaltung mit Eugene Quinn, dem Initiator des Festivals, ist sein Selbstverständnis nicht leicht zusammenzufassen. Vielleicht so: Er versucht zum Enthusiasmus und zum Verständnis in Sachen eigener Umgebung beizutragen und gleichzeitig das Gehen zu rehabilitieren. Einfach nur hier zu leben und von Jugend an gut österreichisch über dieselben (manchmal eingebildeten) Probleme zu jammern, als ob sich da draußen nie etwas ändern würde, als ob man Probleme nicht angehen könnte – das ist zu wenig. Das will er nicht durchgehen lassen.
„Rebellische Optimisten“ wollen er und das Team „Space and Place“ hinter der „Walking Week“ sein und in einer Woche auf gleich 14 unterschiedlichen Pfaden durch die Stadt führen. Sisi- und Schnitzel-Seligkeit wird man dabei vermissen. Nur ironisch küsst Quinn seine Vienna-Schneekugel, während er im Gastgarten eines lifestyligen Restaurants mitten im neuen WU-Viertel sitzt, umgeben von den atemberaubenden Bauten Zaha Hadids und ähnlicher Architekturkapazunder, gleich ums Eck von der Trabrennbahn Krieau samt alten Stallungen.
Eine Stadt als „Remix“
Es ist dieses Nebeneinander, das für ihn Wien ausmacht. Alt und neu, seit vielen Jahrzehnten ansässig und gerade eben eingewandert, all diese scheinbaren Gegensätze erinnern ihn an einen guten Hip-Hop-Song, der erst durch Samples und Remixes zu einem neuen Ganzen wird. Es sind nicht nur die Touristen, die in erster Linie recht eindimensional in k. u. k. Zeiten flüchten wollen, es sind auch viele Wienerinnen und Wiener, die längst kein zeitgemäßes Bild mehr von der Stadt haben, glaubt Quinn. Er verfügt als Ausländer (Quinn ist Brite) über einen Außenblick – nicht die schlechteste Voraussetzung, um daran etwas zu ändern.
Die Perspektive ist eine andere, wenn man nicht schon immer hier gelebt hat. Gerade, dass er nicht alle Spielregeln kennt – und sich nicht daran hält – mögen die Mitspazierenden bei seinen Touren, meint Quinn. Es sei, als würde man einen Spiegel hochhalten, in dem die Wiener dann die Stadt sehen. Vor allem auch deshalb, weil die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst aus Wien kommen und der Gruppe spannende Geschichten erzählen und Hintergrundinfos parat haben – die dann wiederum Quinn in künftige Touren integriert.
Worüber man nicht spricht
Quinn führt schon länger immer wieder einmal durch die Stadt, jetzt aber scheint der Zeitpunkt für ein Festival ideal, wo doch heuer viele im Sommer zu Hause bleiben. Eine Auswahl der Themen, die dabei durch Wien leiten: „Wasser“, „Smart“ (im Sinne von „Smart City“), „Neubau“ (über soziale und kulturelle Grenzen innerhalb der Stadt), „Italien“, „Favoriten“, „Tabus“ (worüber „spricht man nicht“ und wie manifestiert sich das in der Stadt?), dazu „Feminismus“, „Human Rights“ und noch einiges mehr.
Reisende sind natürlich auch willkommen, aber das Angebot richtet sich explizit an Einheimische. Fad dürfte einem dabei nicht werden, denn die Touren sind mit einer ordentlichen Prise Humor und vor allem viel Zeitgenossenschaft zusammengestellt. Wenn es etwa von den Otto-Wagner-Löwen am Beginn des Donaukanals bis weit hinunter, den Kanal mit seinen Graffitis und Lokalen entlang ums Wasser geht, sind es witzige Details, geografische und historische Zusammenhänge und aktuelle Entwicklungen, die Rückschlüsse auf die großen Themen der Zeit wie Nachhaltigkeit und Migration zulassen. Warum war es früher verschrien und gilt heute als cool, am Wasser zu leben und zu arbeiten?
Die Reste des „So-nicht-Geplanten“
Daneben interessieren Quinn im Vorbeigehen, aber nicht nur en passant, das So-nicht-Geplante, das Verborgene, das Vergessene und Verfallene. Wer weiß etwa, dass es in Favoriten eine nicht benutzte Abfahrt von der Südosttangente gibt, die geradewegs in eine grüne „Gstettn“ führt – und dass man von dort aus einen phänomenalen Blick auf die Stadt hat? Überhaupt kommt in Favoriten viel zusammen: das Sonnwendviertel als „Smart City“ im Sinn eines ökologisch, ökonomisch und sozial sinnvollen Miteinanders, heruntergekommene Neubauvierteln aus der Nachkriegszeit, Gründerzeithäuser, verkitschte Kleingartensiedlungen, Branntweiner, Kebabstandln, das „Hoffnungsgebiet“ rund um die ehemalige, riesige Siemens-Fabrik mit seiner originellen Zwischennutzung und der pittoresk-schicke Kunst-und-Kultur-Ort „Brotfabrik“ (in einer alten ebensolchen).
Und es ist dieselbe Stadt, in der man sich vor lauter Rosamunde-Pilcher-artiger, aristokratisch-pittoresker Schönheit die Augen reibt, wenn man durch die verborgenen Winkel der Freudenau zwischen Riesengolfplatz, jugendstilartiger Rennbahn und verwunschen verwucherten Pferdekoppeln dahinspaziert. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Universalität des Regionalen und genauso die Regionalität des Universellen – ihrer wird man an allen Ecken und Enden Wiens gewahr, und sie bieten Lehren für die Zukunft an, wenn man sie denn hören will. Quinn will, und er gibt sie gerne weiter.
Veranstaltungshinweis
Die Spaziergänge der „Vienna Walking Week“ finden von 22. bis 29. Juli zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt und starten von unterschiedlichen Orten – zu entnehmen der offiziellen Website. Die Spaziergänge kosten zehn Euro, ein Ticket für das gesamte Festival kostet fünfzig Euro.
Neben den Spaziergängen finden auch eine Party mit „Walking Songs“ und „Silly Walks Contest“ sowie ein „Walk-to-work-Day“ statt.
Je weiter weg, desto beliebter
Es geht also spannend, diskursiv und lustig zu bei den Touren. Drei Messages sind Quinn besonders wichtig in Bezug auf das Gehen, das er für eine schändlich vernachlässigte Fortbewegungsart hält. Erstens: Durchs Gehen verstehen wir uns selbst und unsere Umgebung besser – und es ist gesund. Zweitens: Gehen ist ökologisch sinnvoll und auch ökonomisch, die lokale Wirtschaft wird dadurch gestärkt. Drittens: Den Wienern könnten durchs Gehen die Komplexität und die Qualitäten ihrer Stadt besser bewusst werden.
Außenstehende wissen längst, dass Wien in all seiner Komplexität und trotz aller Probleme eine Stadt der Zukunft ist, abseits aller partei- und tagespolitischen Hickhacks (niemand kann sich Wiens Qualitäten alleine auf seine Fahnen heften). Über die Touren und Aktionen von Eugene Quinn haben nicht zuletzt die „New York Times“, der „Guardian“, die BBC, die „Zeit“, eine russische Fernsehstation und sogar schon Journalisten aus Myanmar berichtet. Je weiter weg, desto beliebter ist Wien, möchte man meinen. Denn gerade in Österreich, in den anderen acht Bundesländern, gilt die Stadt vielen als unsympathischer Moloch. Vielleicht möchten ja von dort manche an Quinns Wienwoche der besonderen Art teilnehmen.