Mund-Nasen-Schutzmasken liegen auf Euro-Banknoten
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Drohungen und Taktik

Hohe Hürden in Poker um EU-Billionenpaket

Erstmals kommen Europas Staats- und Regierungsspitzen wieder persönlich in Brüssel zusammen. Auf dem Tisch liegen auch 1,8 Billionen Euro – das Paket umfasst den Hilfsfonds für die Coronavirus-Krise und den nächsten Siebenjahreshaushalt. Die Zeit drängt, und es gibt bei beiden Punkten große Gegenwehr, unter anderem aus Österreich.

„Eine Einigung ist unerlässlich“, schrieb EU-Ratspräsident Charles Michel in seinem Einladungsschreiben zum Gipfel. Doch alle Bemühungen, schon im Vorfeld des Gipfels am Freitag und Samstag den Weg zu einem Kompromiss zu ebnen, verliefen holprig. Zu groß sind die Meinungsunterschiede. Und jede der 27 Staats- und Regierungsspitzen kann theoretisch ein Veto einlegen.

Als Ziel für eine Einigung wurde „vor der Sommerpause“ genannt, denn die von der Viruskrise besonders hart getroffenen Länder wie Italien und Spanien drängen auf mehr Tempo. Vor allem beim EU-Mehrjahresbudget 2021 bis 2027 tickt die Uhr. Da für den Haushalt ab Jänner noch eine Reihe von Durchführungsverordnungen beschlossen werden müssten und auch das EU-Parlament mitentscheidet, könnte die Zeit für eine lückenlose Fortsetzung der EU-Programme knapp werden. Michel schlug dafür ein Volumen von 1.074 Mrd. Euro vor.

Niederlande führen Kritik an

Konflikte dürfte es vor allem beim Thema Wiederaufbaufonds nach der Coronavirus-Krise („Next Generation EU“) geben. Zwar könnten EU-Budget und Aufbaufonds auch getrennt verhandelt werden, beide zusammen gelten jedoch als ein großes Paket – „etwas Wuchtiges“, wie Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel sagte. Angesichts des dramatischen Wirtschaftseinbruchs, der den Zusammenhalt der EU gefährden könne, dürften die Hilfe „nicht verzwergt“ werden, so Merkel. Ihr kommt bei dem Gipfel nach der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Deutschland eine zentrale Vermittlerrolle zu.

Bundeskanzler Sebastian Kurz mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem niederländischen Premier Mark Rutte
Reuters/Toby Melville
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der niederländische Premier Mark Rutte, Merkel: Als EU-Vorsitzland arbeitet Deutschland an einer Einigung mit den kritischen Nettozahlern

Am stärksten kommt der Widerstand aus den vier Nettozahlerländern Österreich, Dänemark, Schweden und den Niederlanden. Sie stemmen sich dagegen, dass aus dem 750 Milliarden Euro schweren Hilfsfonds 500 Milliarden Euro als Zuschüsse fließen sollen. Sie wollen den Anteil der Zuschüsse senken und den der Kredite, die zurückzuzahlen sind, erhöhen.

Wenn es die Zuschüsse gebe, müsse das im Gegenzug an „grundlegende Reformen“ geknüpft werden, so der niederländische Premier Rutte, der im kommenden März eine Parlamentswahl bestreiten wird. Die angesprochenen Länder im Süden Europas fürchten dabei Zustände wie in der Finanzkrise, als eine Troika den Ländern strenge Sparauflagen diktierte.

Österreich könnte Budgetrabatt bekommen

Auch Bundeskanzler Kurz sieht die Zuschüsse als zu hoch an und stellte Bedingungen für seine Zustimmung. Die Mittel sollten allen voran in mehr Forschung und Entwicklung für eine gute digitale Infrastruktur fließen, auch in den technologischen Wandel, der für einen besseren Klimaschutz nötig ist. Außerdem verlangte er Reformauflagen wie etwa Bürokratieabbau und den Kampf gegen Steuerhinterziehung.

EU-Ratschef Michel kam den kritischen Nettzahlerländern bereits durch mögliche Budgetrabatte entgegen. So soll Österreich jährlich eine Pauschalsumme von 237 Millionen Euro von seinem EU-Beitrag erlassen bekommen. Österreichs EU-Abgeordnete von vier Delegationen richteten kurz vor dem Gipfel einen Aufruf an die EU-Staats- und -Regierungschefspitzen, sich zu einigen.

„Wer diese Chance des ersten persönlichen Treffens in Brüssel seit Beginn der Coronavirus-Krise verspielt, verschiebt auch die Chance auf einen raschen Wiederaufbau und verschärft die Krise, statt sie entschieden bekämpfen“, so der ÖVP-EU-Abgeordnete Othmar Karas bei einem Onlinepressegespräch mit den EU-Delegationsleitern Andreas Schieder von der SPÖ, Monika Vana von den Grünen und Claudia Gamon (NEOS). Auch Caritas-Präsident Michael Landau sah die kommenden Tage als „entscheidend“ für die „Zukunft Europas und den sozialen Zusammenhalt auf dem Kontinent“.

Orban droht Kippen des Gesamtpakets

Auf dem Weg zu einer Einigung steht allerdings eine weitere große Hürde: der Streit zwischen Polen und Ungarn und der Europäischen Union. Die beiden Länder gehören zu den größten Profiteuren der milliardenschweren EU-Fonds zur Regionalförderung. Sie standen aber wiederholt wegen der Untergrabung der Unabhängigkeit der Justiz und der Einschränkung von Grundfreiheiten in der Kritik. Nun liegt der Vorschlag auf dem Tisch, EU-Gelder bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit künftig zu kürzen.

Streit mit Ungarn und Polen

Das Europaparlament eröffnete 2018 ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Ungarn. Ein Jahr zuvor war ein solches Verfahren bereits gegen Polen eröffnet worden. Es kann bis zum Entzug von Stimmrechten auf EU-Ebene führen.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban läuft dagegen Sturm und droht mit einem Veto. So könnte er das gesamte Finanzpaket blockieren, das von den 27 Mitgliedsstaaten einstimmig beschlossen werden muss. Jeder Versuch, die Frage der Rechtsstaatlichkeit mit den EU-Finanzen zu verknüpfen, werde „unweigerlich zu einer politischen Auseinandersetzung führen“, so Orban. Die Zustimmung dazu macht er zudem davon abhängig, dass das Artikel-7-Verfahren gegen sein Land eingestellt wird.

Grafik zeigt Daten zum EU-Budget und Wiederaufbaufonds
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: EU

Appelle für Klimaschutz

Appelle kamen auch von Klimaaktivistinnen: Greta Thunberg und Luisa Neubauer riefen die EU zu klaren Maßnahmen gegen die drohende Klimakatastrophe auf. Die Europäische Union dürfe nicht länger so tun, als könne man die Klima- und Umweltkrise lösen, ohne sie als eigentliche Krise zu behandeln, hieß es in einem offenen Brief am Donnerstag. Das Schreiben hatten auch führende Klimaforscher sowie Prominente wie der Hollywood-Star Leonardo DiCaprio und die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai unterzeichnet. Wenn beim Wiederaufbau nach der Viruskrise die Klimakrise ebenso wie die Erkenntnisse der Wissenschaft weiterhin ignoriert würden, stelle das einen Betrug an allen künftigen Generationen dar – und das, obwohl das Investitionsprogramm als „Next Generation EU“ bezeichnet werde, so der Appell.

Angesichts der zahlreichen Stolpersteine auf dem Gipfel dämpften viele Teilnehmer die Erwartungen auf eine Durchbruch. Auch Merkel sprach zuletzt von einem „ersten Versuch“. Sollte es also an diesem Wochenende noch nicht zu einer Einigung kommen, könnten sich die EU-27 Ende Juli neuerlich zu einem Sondergipfel treffen.