Niederlandes Regierungschef Mark Rutte
Reuters/Francisco Seco
EU-Gipfel

Rutte erhöht Einsatz im Billionen-Poker

Im Streit über das historische 1,8-Billionen-Euro schwere Hilfspaket und den Finanzrahmen hat der niederländische Regierungschef Mark Rutte den Einsatz beim EU-Gipfel in Brüssel noch erhöht. Die deutsche Kanzlerin und Ratsvorsitzende, Angela Merkel, dämpfte ihrerseits die Erwartungen. Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) gab sich dagegen zuversichtlich.

Rutte verlangte, dass Empfängerländer von milliardenschweren Konjunkturhilfen vor der Auszahlung der EU-Hilfen Reformen nicht nur zusagen, sondern bereits umgesetzt haben. „Wenn Kredite bis zu einem gewissen Grad in Zuschüsse umgewandelt werden müssen, dann sind Reformen umso wichtiger und die absolute Garantie, dass sie wirklich stattgefunden haben“, sagte Rutte.

Darüber hinaus nannte er als Knackpunkte in den Verhandlungen die Höhe des nächsten mittelfristigen EU-Budgets, die Höhe der Rabatte für Nettobeitragszahler und die Aufteilung der Hilfen in der Coronavirus-Krise in Kredite und Zuschüsse.

Ellbogenbegrüßung zwischen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel
AP/Francois Lenoir
Statt Küsschen gibt es auf dem ersten „echten“ Gipfel seit Beginn der Pandemie den Ellbogengruß

Verhandlungen kurzzeitig unterbrochen

Die Verhandlungen begannen am Nachmittag laut EU-Kreisen gleich mit den schwierigsten Punkten, wie der Frage der Rabatte, des Umfang des Finanzplans und die Bedingungen für die Krisenhilfen gegangen. Merkel und die übrigen Staats- und Regierungschefs berieten darüber beim Mittagessen. EU-Ratschef Charles Michel habe darum gebeten, die schwierigsten Themen zuerst zu beraten, hieß es. Alles andere komme später.

Am späten Nachmittag wurde der Gipfel für etwa zwei Stunden unterbrochen. Michel beriet in dieser Zeit mit Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kommissionschefin Ursula von der Leyen. Zuvor hatte er auch Rutte getroffen. Gegen 21.00 Uhr wurden die Gespräche in großer Runde fortgesetzt.

Kurz: Nichts unüberwindbar

Kanzler Kurz, der Österreich im Finanzstreit in eine Interessenallianz mit den drei Nettozahlerländern Niederlande, Dänemark und Schweden führte, sprach von großen Differenzen. Aber er gab sich kompromissbereiter als Rutte: „Ich glaube, es ist nichts unüberwindbar. Wenn man möchte, ist das möglich, eine Lösung zu finden.“ Die Dinge hätten sich für Österreich zuletzt in die richtige Richtung bewegt.

Inhaltlich forderte Kurz „noch ein bisschen mehr“ bei den Rabatten für die Nettozahler. Nach dem aktuellen Entwurf soll Österreich jährlich einen Rabatt von 237 Millionen Euro auf seinen EU-Beitrag bekommen. Beim EU-Aufbaufonds müssten zukunftsorientierte Projekte finanziert werden, forderte Kurz. Er nannte hier wieder die Bereiche Ökologisierung und Digitalisierung. Außerdem wolle Österreich eine „Redimensionierung“ beim Volumen von derzeit 750 Milliarden Euro, insbesondere bei den Zuschüssen, die derzeit 500 Milliarden Euro schwer wären.

EU-Sondergipfel zu Budget und CoV-Hilfsfonds

Bei einem Sondergipfel haben die EU-Staats- und Regierungsspitzen in Brüssel die Verhandlungen über einen Milliardenplan gegen die CoV-Krise mit den schwierigsten Punkten begonnen.

Michel selbst sorgte mit seinen Zahlen allerdings auch für Verwirrung. Wie das Magazin „Politico“ am Freitag schrieb, nannte Michel einen Gesamtbetrag von 1.750 Milliarden Euro für den Recovery-Fonds „Next Generation EU“ und für das Mehrjahresbudget von 2021 bis 2027. Tatsächlich hatte Michel vergangenen Freitag aber eine Summe von 1.824 Milliarden Euro vorgeschlagen, davon 750 Milliarden Euro für den Wiederaufbaufonds und 1.074 Milliarden Euro für den EU-Finanzrahmen. Die Diskrepanz führte zu Spekulationen über einen neuen Kompromissentwurf.

Riesiger Erwartungsdruck

Angesichts der schwierigen Ausgangslage dämpfte die deutsche Kanzlerin die Erwartungen auf eine Einigung bereits bei diesem Treffen, das auf zwei Tage anberaumt ist und im Falle überraschend großer Fortschritte auf Sonntag verlängert werden könnte. Merkel betonte, die Unterschiede der 27 Länder seien „noch sehr, sehr groß“ und es sei unklar, ob schon ein Ergebnis möglich sei. Der Erwartungsdruck ist dennoch enorm, die größte Krise in der Geschichte der Europäischen Union gemeinsam zu bekämpfen.

Peter Fritz (ORF) über den EU-Sondergipfel

ORF-Korrespondent Peter Fritz berichtet über den ersten Verhandlungstag auf dem Sondergipfel in Brüssel.

Frankreichs Präsident Macron sprach vom Moment der Wahrheit und forderte Solidarität und Engagement. „Die nächsten Stunden werden absolut entscheidend sein“, sagte Macron.

Starker Konjunktureinbruch erwartet

Befürchtet wird für 2020 ein Einbruch der EU-Wirtschaft um 8,3 Prozent – eine beispiellose Rezession. EU-Kommissionschefin von der Leyen warnte, die Menschen in Europa hätten Angst um ihre Arbeitsplätze und vor dem Virus. „Die ganze Welt beobachtet Europa – ob wir in der Lage sind, gemeinsam aufzustehen und diese coronabedingte Wirtschaftskrise zu überwinden.“

Bei dem Sondergipfel in Brüssel geht es um den Vorschlag der EU-Kommission, 750 Milliarden Euro an den Finanzmärkten aufzunehmen und das Geld dann in ein Konjunktur- und Investitionsprogramm zur Bewältigung der Wirtschaftskrise zu stecken. Davon sollen 500 Milliarden Euro als Zuschüsse an Krisenstaaten fließen und 250 Milliarden als Kredite. Verhandelt wird das im Paket mit dem nächsten siebenjährigen EU-Finanzrahmen.

Italien drängt

Die von der Pandemie besonders hart getroffenen Länder wie Italien und Spanien würden am meisten profitieren. Sie drängen auf eine rasche Einigung. Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte sagte, ein Kompromiss sei nicht nur im Interesse der Italiener, „die viel gelitten haben und leiden, sondern im Interesse aller europäischen Bürger“. Sein spanischer Kollege Pedro Sanchez sprach von einem historischen Gipfel.

Die neuen Bedingungen seines niederländischen Amtskollegen Rutte wies Conte scharf zurück. Der Vorschlag sei „inkompatibel mit den Verträgen und politisch nicht praktikabel“, sagte Conte. Umstritten sind nicht nur die Summen, sondern auch das Prinzip der Zuschüsse, die Maßstäbe zur Verteilung und die Kontrolle der Verwendung. Bedenken haben vor allem die vier Nettozahlerländer Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande.

Grafik zeigt Daten zum EU-Budget und Wiederaufbaufonds
Grafik: APA/ORF.at; Quelle: EU

Viele Einzelwünsche

Neben den vier Nettozahlerländern, die gegen eine gemeinsame Schuldenaufnahme sind, haben aber auch andere Länder Vorbehalte und Forderungen. So verlangte der tschechische Ministerpräsident Andrej Babis, auch die Autoindustrie beim Wiederaufbau zu fördern. Er forderte zudem einen anderen Verteilungsschlüssel, etwa den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im jeweiligen Land.

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki lehnte den Vorschlag ab, EU-Gelder mit Klimazielen oder Auflagen zur Rechtsstaatlichkeit zu verknüpfen. Gegen die Koppelung an Rechtsstaatlichkeit wendet sich auch Ungarn.

EU-Parlamentspräsident sieht Ende des Wachstums

Unzufrieden mit dem vorgeschlagenen Budget zeigte sich auch EU-Parlamentspräsident David Sassoli. Er forderte eine Weichenstellung für künftiges Wachstum, denn die „Vorstellung eines unendlichen Wachstums ist nun endgültig überholt“. Er sprach sich zudem für eine Abschaffung der Rabatte für Mitgliedsstaaten aus, sie seien „ungerecht und damit kaum zu rechtfertigen“.

Das EU-Parlament verlangt die Verknüpfung der Mittel an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit, demokratische Kontrolle bei der Bewilligung von nationalen Aufbauplänen und ein Mitspracherecht des EU-Parlaments. Als rote Linien gelten Kürzungen bei Forschung, Innovation, Bildung, Klimaschutz, Digitalisierung und Sicherheit.

Merkel forderte „wirklich große Kompromissbereitschaft aller, damit wir etwas hinbekommen, was für Europa gut ist“. Ihr kommt in den Verhandlungen eine Vermittlerrolle zu, denn Deutschland führt seit dem 1. Juli den Vorsitz der 27 EU-Länder. Den Gipfel leitet jedoch Michel, der ebenfalls appellierte: „Obwohl es schwierig ist, bin ich davon überzeugt, dass es mit politischem Mut möglich ist, eine Einigung zu erreichen.“

Zwei Geburtstage und eine vorverlegte Hochzeit

Aufgelockert wurde die erste Zusammenkunft der EU-Staats- und -Regierungsspitzen seit fast einem halben Jahr durch spontane Geburtstagsfeiern. So bekam die deutsche Kanzlerin Merkel Geschenke zu ihrem 66. Geburtstag, unter anderem mehrere Flaschen Weißwein vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Auch der portugiesische Premier Antonio Costa nahm Glückwünsche zu seinem 59. Geburtstag entgegen.

Angela Merkel und Boyko Borissow
AP/Stephanie Lecocq
Der Mund-Nasen-Schutz soll Mund und Nase bedecken: Merkel rüffelte den bulgarischen Premier Borissow

Frisch vermählt reiste die dänische Regierungschefin Mette Fredriksen nach Brüssel. Sie hatte ihre eigentlich für Freitag geplante Hochzeit auf Mittwoch vorverlegt. Fast alle EU-Spitzen hielten sich bei dem Treffen, das im größten Saal des Ratsgebäudes mit reduzierten Delegationen stattfand, an die CoV-Regeln. Der bulgarische Premier Bojko Borissow wurde aber von Merkel gerüffelt, weil seine Nase aus der Maske hervorlugte.