Tabletten
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Opioide

US-Krise in der Pandemie noch verschärft

In den USA könnte eine Epidemie eine andere befeuern: Während das Tagesgeschehen vom Coronavirus geprägt ist, begünstigen die dadurch entstandenen Rahmenbedingungen, etwa Arbeitslosigkeit und Isolation, auch die Ausbreitung der Opioidkrise. Erst vor Kurzem wurden verheerende Zahlen für das Vorjahr veröffentlicht. Fachleute sind überzeugt, dass sich der Trend nun noch deutlich verschlimmert – erste Anzeichen gibt es bereits.

Nachdem die Zahl der Menschen, die an einer Überdosis Drogen oder Schmerzmitteln starben, 2018 erstmals seit einem Vierteljahrhundert zurückging, erreichte sie im Vorjahr einen neuen Rekordwert, wie die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) letzte Woche bekanntgaben. Insgesamt starben damit knapp 72.000 Amerikanerinnen und Amerikaner – noch bevor die Coronavirus-Krise überhaupt Thema war.

Und, wie die „New York Times“ („NYT“) schreibt: 2020 könnte den Rekord erneut übertreffen. Das Blatt bezieht sich auf Zahlen von regionalen Behörden, die bereits jetzt einen Anstieg der Drogentode von 13 Prozent aufweisen. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, dann wäre das der stärkste Anstieg seit 2016. Damals hätten sich das starke Schmerzmittel Fentanyl sowie Fentanyl-Analoga erstmals auf dem illegalen Drogenmarkt in den USA verbreitet, so die „NYT“.

Soziale Faktoren befeuern Krise

West Virginia, ein Bundesstaat unweit der US-Hauptstadt Washington, liegt bei der Zahl der Toten ganz vorne: Laut der letzten vorhandenen Aufschlüsselung der CDC sterben dort über 50 Menschen pro 100.000 Einwohner an einer Überdosis. Und auch hier geht der Trend nach oben. „Die Zahl der Opioid-Überdosierungen schießt in die Höhe, und ich glaube nicht, dass sie leicht rückgängig zu machen sein wird“, sagte Mike Brumage, ehemaliger Direktor des Büros für Drogenpolitik in dem Staat, gegenüber dem britischen „Guardian“.

Mitarbeiter vor Klinik in Olympia, Washingon
AP/Ted S. Warren
Programme für Opioidabhängige wurden in der Coronavirus-Krise zurückgefahren

Brumage sieht vor allem die Rahmenbedingungen im Zuge der Coronavirus-Krise als wesentlichen begünstigenden Faktor. „Wenn einmal der Coronavirus-Tsunami endlich vorbei ist, werden wir mit jenen sozialen Bedingungen zurückbleiben, die die Opioidkrise überhaupt erst ermöglicht haben, und diese werden nicht verschwinden“, so der Experte gegenüber dem „Guardian“. Gemeint sind damit unter anderem Arbeitslosigkeit, niedrige Einkommen und soziale Isolation.

Der „Lock-down“ an sich könnte auch ganz direkte Auswirkungen gehabt haben: Denn viele Menschen seien aus den Hilfsprogrammen aufgrund des „Social Distancing“ gefallen, so Brumage. Ersatztermine via Internet hätten etwa Obdachlose gar nicht erfasst – und gerade diese Menschengruppe dürfte durch die steigende Arbeitslosigkeit noch größer geworden sein.

Noch immer unzählige Opioidverschreibungen

Eine Recherche des öffentlich-rechtlichen Senders NPR ergab unterdessen, dass Ärzte, Ärztinnen und Gesundheitsdienste noch immer hohe Mengen an Opioiden verschreiben. Nach öffentlich zugänglichen Daten werden so viele Rezepte für Schmerzmittel ausgestellt, dass damit eine Hälfte der USA damit versorgt werden könnte.

Patientinnen und Patienten erhalten doppelt so viele Opioide wie vor den 90er Jahren, als der Boom bei den Verschreibungen losging, so NPR. „Wir sind fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber wir nehmen 80 Prozent der weltweit verschriebenen Opioide ein“, zitierte der Sender einen Arzt und Forscher an der Stanford Universität.

Rezept oft Basis für Abhängigkeit

Heikel ist das vor allem deshalb, weil die Mittel extrem schnell abhängig machen. In der Folge würden die Menschen dann auf illegale Opioide wie Heroin umsteigen – oder sie besorgen sich Fentanyl auf dem Schwarzmarkt. Fentanyl ist 70- bis 100-mal stärker als Morphin, eine zu hohe Dosis kann innerhalb von einer Minute zu Atemstillstand führen.

Das schlägt sich nun auch in der aktuellen Statistik der CDC nieder. Bei über 37.000 der 72.000 Tode wurde ein Zusammenhang mit Fentanyl und vergleichbaren Drogen nachgewiesen, berichtet die „NYT“. Zum Vergleich: Heroin konnte bei rund 14.000 Toden ausgemacht werden, handelsübliche verschreibungspflichtige Opioide spielten bei 12.000 Toden eine Rolle. Die Kategorien schließen sich nicht gegenseitig aus – oft wurden mehrere Substanzen nachgewiesen.

Umgang mit CoV-Krise zeigt Lücken auf

Es mag angesichts der momentanen Entwicklung in den USA paradox erscheinen, doch ausgerechnet der Umgang mit der Coronavirus-Krise könnte vorzeigen, wie eine Krise verläuft, wenn man genügend Geld investiert. Während laut „Guardian“ die US-Regierung sechs Billionen Dollar (rund 5,2 Billionen Euro) in die Coronavirus-Krise investiert hat, hat man im Vergleich nur sechs Mrd. Dollar (5,2 Mrd. Euro) zur Bekämpfung der Opioidabhängigkeit ausgegeben – obwohl die Todeszahlen vergleichbar sind. Und: Laut „Guardian“ wurde zur Bekämpfung des Coronavirus unter anderem ein Programm eingefroren, das alternative Schmerzmittel erforscht.

Laut Brumage liege der Unterschied auch an dem Stigma, das einer Abhängigkeit anlaste. Es sei „tief in den USA verwurzelt“, so Brumage gegenüber dem „Guardian“, „dass Menschen, die Drogen konsumieren, irgendwie als moralisch defizitär angesehen werden.“

Vorbild ist der Umgang mit der Coronavirus-Krise dennoch keines. „Die Vereinigten Staaten sind nicht gut im Bereich der öffentlichen Gesundheit“, so Raeford Brown, ehemaliger Berater der US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) im „Guardian“. „Sie haben den Test mit Opioiden und den Test mit Pandemien nicht bestanden. Aber das Coronavirus und Pandemien und Dinge wie die Opioidkrise werden uns viel eher erwischen als die Russen oder Chinesen.“