Ursula von der Leyen und Charles Michel
AP/Francisco Seco
EU-Gipfel

Einigung auf historisches Finanzpaket

Im Kampf gegen die Coronavirus-Wirtschaftskrise haben sich die EU-Staaten auf das größte Haushalts- und Finanzpaket ihrer Geschichte geeinigt. Der Kompromiss wurde nach mehr als viertägigen Verhandlungen Dienstagfrüh beim Sondergipfel in Brüssel von den 27 Mitgliedsstaaten angenommen, wie Ratschef Charles Michel auf Twitter mitteilte. Das Paket umfasst 1,8 Billionen Euro.

Davon entfallen 1.074 Milliarden Euro auf den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen und 750 Milliarden Euro auf den Aufbaufonds „Next Generation EU“ gegen die Folgen der Pandemiekrise.

Mit dem Finanzpaket will sich die Europäische Union gemeinsam gegen den historischen Wirtschaftseinbruch stemmen und den EU-Binnenmarkt zusammenhalten. Gleichzeitig soll in den Umbau in eine digitalere und klimafreundlichere Wirtschaft investiert werden. Dafür werden erstmals im großen Stil im Namen der EU Schulden aufgenommen, das Geld wird umverteilt und gemeinsam über Jahrzehnte getilgt.

„Historischer Moment in Europa“

„Das ist ein guter Deal, das ist ein starker Deal, und vor allem ist das der richtige Deal für Europa jetzt“, sagte Michel bei einer Pressekonferenz Dienstagfrüh. Es gehe hier nicht nur um Geld. Die Vereinbarung sei auch ein Zeichen des Vertrauens für Europa und die Welt, so Michel, der die Einigung zuvor auf Twitter knapp mit dem Wort „Deal“ verkündete.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte, Europa habe immer noch den Mut und die Fantasie, groß zu denken. „Wir sind uns bewusst, dass dies ein historischer Moment in Europa ist.“ Es gelinge Europa, nach intensivem Ringen kraftvoll zu antworten. Für ihren Kompromiss hätten die Staaten aber „weitreichende Änderungen“ an ihren Vorschlägen für den nächsten EU-Haushalt und den CoV-Hilfsfonds vorgenommen, sagte von der Leyen. Davon betroffen seien unter anderem die Bereiche Gesundheit und Migration. „Das ist bedauerlich.“ Es verringere den innovativen Teil des Haushalts.

Ursula von der Leyen und Charles Michel
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EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratschef Charles Michel sind nach der Einigung erleichtert

Zugeständnisse bei Zuschüssen im Aufbaufonds

Am Montag waren zwei der umstrittensten Einzelpunkte gelöst und damit der Weg zum Gesamtdeal frei gemacht worden. Zum einen fand man nach tagelangem Streit einen Kompromiss zum Kern des Programms: Die Nettozahlerallianz aus Österreich, den Niederlanden, Schweden und Dänemark akzeptierte, dass gemeinsame Schulden aufgenommen werden und das Geld als Zuschuss an EU-Staaten geht.

Im Gegenzug willigten Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien ein, die Summe dieser Zuschüsse aus dem Coronavirus-Programm von 500 Milliarden Euro auf 390 Milliarden zu verringern. Dazu kommen 360 Milliarden Euro, die als Kredit vergeben werden.

Mit dem Aufbaufonds nimmt die EU gemeinsam Schulden auf, diese sollen bis 2058 getilgt sein. Österreich muss für den Zeitraum Haftungen in der Höhe von geschätzten 10,53 Milliarden Euro übernehmen. Größte Empfänger werden laut Diplomaten Italien, Spanien und Frankreich sein, Österreich kann mit 3,7 Milliarden Euro rechnen.

Angela Merkel und Emmanuel Macron
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Macron und Merkel hatten sich für das milliardenschwere Programm gegen die Coronavirus-Krise eingesetzt

Mehr Rabatt für Österreich

Ursprünglich hatten Österreich, Schweden, die Niederlande und Dänemark 350 Mrd. Euro als Schmerzgrenze bei den Zuschüssen genannt. Dass die Schmerzgrenze überschritten wird, geht mit einer Änderung beim Budgetrabatt für jene Länder einher.

Österreich kann seinen EU-Budgetrabatt laut dem Kompromissvorschlag deutlich erhöhen. Der neue Vorschlag Michels für den EU-Gipfel in Brüssel von Montagabend sieht für das EU-Budget von 2021 bis 2027 eine jährliche Pauschalsumme in Höhe von 565 Millionen Euro vor. Der österreichische Rabatt vervierfacht sich somit von den 137 Millionen Euro in der laufenden Periode.

Auch für andere Länder der Gruppe erhöhte der Belgier die jährlichen Pauschalrabatte: So bekommen die Niederlande 1.921 Millionen Euro (bisher 1.576 Mio.), Schweden 1.069 Millionen Euro (bisher 823 Mio.) und Dänemark 322 Millionen Euro (bisher 222 Mio.). Allerdings muss der Einnahmeausfall durch die Rabatte von allen Mitgliedsstaaten entsprechend ihrer Wirtschaftskraft, also anteilig auch von den Begünstigten selbst, ersetzt werden.

Koppelung an Rechtsstaatlichkeit

Der zweite Knackpunkt wurde dann am Montagabend geklärt: Man fand eine Formel zur Koppelung von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit, die alle 27 Staaten annahmen. Zuvor hatten sich Polen und Ungarn strikt gegen einen solchen Rechtsstaatsmechanismus gewehrt, zumal gegen beide Staaten Verfahren wegen Verletzung von EU-Grundwerten laufen.

Mehrere andere EU-Staaten beharrten jedoch darauf, dass EU-Gelder gebremst werden, wenn gemeinsame Werte missachtet werden. Die Kompromissformel wurde von mehreren Staaten erarbeitet und in der Runde der 27 vom lettischen Regierungschef Krisjanis Karins vorgetragen.

Von der Leyen und Michel weisen Vorwürfe zurück

Die Interpretation der Klausel war unterschiedlich. Während EU-Vertreter sie als wirksame Koppelung bezeichneten, zitierte die polnische Nachrichtenagentur PAP polnische Regierungsquellen mit der Einschätzung, die Koppelung sei gestrichen worden. Ungarische Medien feierten die Einigung als Sieg für Ministerpräsident Viktor Orban.

Sowohl von der Leyen als auch Michel wiesen Vorwürfe zurück, dass hierbei eine starke Lösung zugunsten des Kompromisses geopfert wurde. Mit qualifizierter Mehrheit könnten bei Verstößen Maßnahmen ergriffen werden, sagte von der Leyen.

Kurz: „Gutes Ergebnis“

„Das war nicht einfach“, sagte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Für sie zähle aber, „dass wir uns am Schluss zusammengerauft haben“. Eventuell werde man sich mit Fragen zum Rechtsstaatlichkeit jedoch auch noch einmal bei einem EU-Gipfel beschäftigen, so die CDU-Politikerin. Ähnlich äußerte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Er würdigte auf Twitter die Einigung als einen „historischen Tag für Europa“. „Wir sind zufrieden“, sagte auch der italienische Regierungschef Giuseppe Conte bei einer Videokonferenz.

Sebastian Kurz beim EU-Gipfel in Brüssel
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Auch Kanzler Kurz ist mit dem Ergebnis zufrieden

„Ich bin mittlerweile etwas müde, aber inhaltlich sehr zufrieden“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der die Zusammenarbeit mit den „Frugalen“ (Dänemark, Schweden, den Niederlanden und Finnland) fortsetzen will. „Wir haben ein gutes Ergebnis erreicht für die Europäische Union, und wir haben ein gutes Ergebnis erreicht für die Republik Österreich.“ Es sei zudem auch gelungen, dass die Gelder im Recovery Fund vor allem in Ökologisierung, Digitalisierung und Reformen fließen sollen.

Abgeordnete erwarten intensive Verhandlungen

Für Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament, ist die Einigung „eine gute Nachricht“. Mit dem Vorschlag bleibe „der Rat allerdings weit hinter den Forderungen des Europaparlaments zurück, wie etwa bei der Höhe der Zuschüsse im Aufbauplan. Über Höhe und Ausgestaltung des mehrjährigen EU-Finanzrahmens im Sinne des Grünen Deals, einen konkreteren Zeitplan für neue EU-Eigenmittel sowie einen wirksamen Rechtstaatlichkeitsmechanismus muss sich der Rat nun auf intensive Verhandlungen mit dem Europaparlament einstellen.“

Die beiden führenden österreichischen Europaabgeordneten Othmas Karas (ÖVP) und Andreas Schieder (SPÖ) zeigten sich indes enttäuscht. Sie kündigten in ersten Reaktionen harte Verhandlungen des Europaparlaments, das dem 1,8 Billionen Euro schweren Paket zustimmen muss, an. „Von den Staats- und Regierungschefs habe ich mir mehr erhofft: Zukunftsinvestitionen in Forschung, Bildung und Sicherheit werden gekürzt, der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus verwässert“, schrieb der Vizepräsident des Europaparlaments auf Twitter. „Das reicht einfach nicht!“, schrieb Schieder in einer Aussendung.

Sondergipfel verpasste Längenrekord

Nur 25 Minuten haben nach Zeitrechnung der EU indes gefehlt, um den Brüsseler Sondergipfel zum Haushalt für die kommenden sieben Jahre zum längsten in der Geschichte der Union zu machen. Damit bleibt der Rekord beim Gipfel von Nizza aus dem Jahre 2000 bestehen. Dieser war nach EU-Rechnung erst nach 91 Stunden und 45 Minuten zu Ende gegangen.

„Politico“: Gesundheitsmilliarden wurden gekürzt

Im EU-Fonds zum Wiederaufbau nach der Coronavirus-Krise sind allerdings laut einem Bericht von „Politico“ ausgerechnet für Gesundheitsausgaben kein Platz mehr. Das Magazin berief sich am Montagabend auf aktualisierte Berechnungen, nachdem sich die EU-Staats- und -Regierungschefs auf Druck der kleineren Nettozahlerländer auf eine Verringerung der Zuschüsse im Fonds geeinigt haben.

Da der Zuschussanteil von 500 auf 390 Milliarden Euro sinkt, wurde unter anderem das 7,7 Milliarden Euro schwere Gesundheitsprogramm aus dem Fonds geworfen. Auch das Forschungsprogramm „Horizon“ sollte um weitere fünf Milliarden Euro gekürzt werden, was insgesamt 8,5 Milliarden Euro weniger ist als im ursprünglichen Fonds. Der „Just Transition Fund“, der Regionen beim Übergang zum ökologischen Wirtschaften helfen soll, verliert laut dem Bericht 20 Milliarden Euro.

EU einigt sich auf 1,8-Billionen-Euro-Paket

Beim EU-Finanzgipfel in Brüssel haben sich die Staats- und Regierungschefs auf ein 1,8 Billionen Euro schweres Coronavirus-Hilfspaket geeinigt.

Um die EU-Beiträge der Mitgliedsstaaten zu entlasten, schlug Michel neue EU-Steuern und Eigenmittel vor, darunter eine Abgabe auf Plastikmüll ab 1. Jänner 2021. Im ersten Halbjahr 2021 soll die EU-Kommission überdies eine CO2-Grenzsteuer und eine Digitalsteuer ausarbeiten, die bis spätestens 1. Jänner 2023 eingeführt werden sollen. Der Emissionshandel (ETS) soll auf Luft- und Seefahrt ausgeweitet werden. Außerdem will die EU weiter an einer Finanztransaktionssteuer arbeiten. Diesbezügliche Versuche einer Gruppe von Staaten, darunter Österreich, waren aber bisher nicht erfolgreich.