Ursula Von Der Leyen und Charles Michel
APA/AFP/Stephanie Lecocq
EU-Finanzpaket

Großer Wurf mit vielen Kompromissen

„Deal!“ – so hat EU-Ratspräsident Charles Michel Dienstagfrüh die Einigung der Mitgliedsstaaten auf ein Finanzpaket in Billionenhöhe verkündet. Im Laufe des Tages reklamierten die Regierungschefs vieler Länder einen Erfolg für sich, im Deal zeigt sich das an einigen, teils tiefgreifenden, Kompromissen – und vielen offenen Fragen. Die Einigung wird dennoch als großer Wurf für die Union gewertet. Neue Hürden stehen nun aber bevor.

„Wir haben ein gutes Ergebnis erreicht für die Europäische Union, und wir haben ein gutes Ergebnis erreicht für die Republik Österreich“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Anschluss an den insgesamt 92-stündigen Gipfel. So und so ähnlich hallte es auch aus den anderen Mitgliedsstaaten: Lob kam dabei nicht nur aus der Gruppe der Nettozahler wie Österreich, auch die großen Hilfeempfänger Italien und Spanien etwa zeigten sich erfreut über die Einigung.

Vor allem das Wort „Kompromiss“ war dabei – wohl so oft wie selten zuvor bei einer Einigung auf EU-Ebene – fixer Bestandteil der meisten Politiker-Statements. Auch in den Medien war der Begriff allgegenwärtig, in einem Titel der deutschen „Zeit“ war gar von der „europäischen Kompromissmaschine“ die Rede.

Von der Leyen: Anpassungen „bedauerlich“

Vielerorts klang das nach Errungenschaft: Die erreichten nationalen Interessen auf der einen Seite, die nun zugesicherte europäische Solidarität auf der anderen. An prominenter Stelle war aber auch Kritik herauszuhören: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zufolge hätten die Mitgliedsstaaten auf der Suche nach dem „Kompromiss“ weitreichende Änderungen am Haushalt vorgenommen. Betroffen seien davon etwa die Bereiche Gesundheit und Migration – „das ist bedauerlich“.

Ursula Von Der Leyen
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Von der Leyen nannte einige Änderungen „bedauerlich“

Am deutlichsten spiegelt sich die Suche nach dem gemeinsamen Nenner wohl beim Umfang der Coronavirus-Hilfen wider: Zwar sind insgesamt wie geplant 750 Milliarden Euro Zuschüsse abgesegnet worden. Doch ursprünglich hätten 500 Milliarden Euro davon als Zuschüsse fließen sollen, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Österreich, die Niederlande, Dänemark, Schweden und auch Finnland stemmten sich dagegen – letztlich einigte man sich auf 390 Milliarden Euro. Die restlichen 360 Milliarden Euro sollen als Kredite vergeben werden.

Kompromiss als Erfolg

Damit ist man zwar weit von dem ursprünglich von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel vorgeschlagenen Umfang der Zuschüsse entfernt, im Onlineangebot von „Politico“ zitiert Mujtaba Rahman vom Beratungsinstitut Eurasia Group aber einen hochrangigen französischen Beamten, der auch diese Einigung im Vorfeld der Einigung als Erfolg wertete. „Die Niederländer und andere ‚Frugale‘ (darunter Österreich, Anm.) wollten gar keine Zuschüsse auf der Grundlage von Krediten auf Gegenseitigkeit. Nun scheinen sie bereit zu sein, 390 Milliarden Euro zu schlucken.“

Der Großteil dieser Hilfen wird zur Unterstützung staatlicher Investitionen und Reformen ausgeschüttet. Das Thema Kontrolle war dabei ein heftiger Streitpunkt: Der Ministerpräsident der Niederlande, Mark Rutte, wollte ursprünglich ein Vetorecht, um die Auszahlung zu stoppen, falls die Umsetzung nicht klappt. Letztlich einigte man sich auf eine Art Notbremse: Ein Land kann den vorläufigen Stopp der Auszahlungen erzwingen, dann wird die Frage bei einem regelmäßigen Treffen des Rats diskutiert. Ein richtiges Veto ist das jedoch nicht – Rutte zeigte sich dennoch zufrieden, dass Länder „auf Reformen festgenagelt werden können“, auch wenn das in der nunmehrigen Umsetzung wohl nur bedingt stimmt.

Die Coronavirus-Hilfen werden nicht nur von den Staats- und Regierungschefs und von der EU selbst, sondern auch von Fachleuten als großer Wurf gewertet. So sagte etwa der EU-Experte Stefan Lehne vom Brüsseler Thinktank Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden (CEIP) im Ö1-Morgenjournal, dass es ein „derartiges Paket in der Geschichte der Europäischen Union nie gegeben“ habe.

Fragezeichen über Schuldenbegleichung

„Historisch“, wie die frühmorgendliche Einigung von der Kommissionspräsidentin bezeichnet wurde, ist das Paket vor allem, weil man sich auf die gemeinsame Aufnahme von Schulden verständigte – zum ersten Mal in der Geschichte der Union. Bis 2058 sollen sie wieder getilgt sein – doch wie viel Geld auf den Finanzmärkten geholt werden soll, ist noch ungeklärt.

Ein weiteres Fragezeichen steht über den neuen Abgaben, die bei der Abzahlung der Schulden helfen sollen. Zwar sieht der mehrjährige Finanzrahmen der EU etwa ab 2021 eine Steuer auf Plastikmüll, spätestens ab 2023 eine Digitalsteuer vor. Konzepte dafür müssen aber erst von der Kommission entwickelt werden.

Rechtsstaatlichkeit als wunder Punkt

Und dann ist da noch das große Thema Rechtsstaatlichkeit: Zentral war die Frage, ob EU-Gelder gekürzt werden können, wenn Mitgliedsländer gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Am Vorabend der Einigung wurde verkündet, dass man eine Lösung gefunden habe – die aber letztlich zahmer ausfiel als ursprünglich angedacht. Das wird – mit Ausnahme der wohl am ehesten davon betroffenen Staaten – nun scharf kritisiert.

Analyse des EU-Gipfels

ORF-Korrespondent Peter Fritz berichtet aus Brüssel, ob es bestimmte Gewinner in der Einigung auf dem EU-Budget-Gipfel gibt.

Polen und Ungarn lehnten die Koppelung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards ab. Im neuen Text heißt es lediglich, dass der Europäische Rat die Bedeutung des Respekts der Rechtsstaatlichkeit unterstreiche. Der Unterschied klingt nach einem Detail, dürfte aber große Auswirkungen haben: War erst geplant, den Stopp von Sanktionen an eine Zweidrittelmehrheit zu knüpfen, wird nun der Beschluss solcher Strafmaßnahmen daran geknüpft. Das ist eine Hürde, die nach Meinung von Experten leichter von Ungarn und Polen gestemmt werden könnte. Die „Süddeutsche“ schreibt gar, dass es möglich sei, dass „Ungarn und Polen um jegliche finanzielle Sanktion herumkommen“.

Sowohl die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen als auch EU-Ratschef Michel wiesen Vorwürfe zurück, dass hierbei eine starke Lösung zugunsten des Kompromisses geopfert wurde. Für den EU-Experten Lehne läuft es auf eine Verschiebung einer Entscheidung hinaus, sagte er gegenüber der APA.

Ein paar Zuckerl und ein Hauch von Brexit

Neben den offensichtlichen Zugeständnissen an Länder wie Ungarn und Polen findet sich in der Einigung dann auch ein Hinweis darauf, wie man Österreich und die vier weiteren Länder, die sich gegen den Plan der EU-Größen Frankreich und Deutschland stemmten, zur Zustimmung brachte. Denn in dem Paket finden sich einige Zuckerl, zumindest auf den ersten Blick.

Vor allem die Rabatte wurden mit der Einigung als großer Erfolg auf nationaler Ebene verkauft: So wurde der Rabatt Österreichs vervierfacht, er beträgt jetzt 565 Millionen Euro. Und auch den anderen Nettozahlern wird ein deutlicher Nachlass gewährt. Eigentlich wollte die EU Rabatte abschaffen, die es vor allem wegen Großbritannien gab. Auf dem Papier klingt die Erhöhung damit natürlich gut – in der Praxis wird der Nettobeitrag Österreichs aufgrund des Ausfalls von Großbritannien als großem Nettozahler „sicher trotz des erhöhten Rabatts steigen“, so Lehne.

Mark Rutte, Sebastian Kurz, Sanna Marin, Minister Stefan Lofven und Mette Frederiksen
Reuters/Francois Walschaerts
Der niederländische Ministerpräsident Rutte, Kanzler Kurz, Finnlands Premierministerin Sanna Marin, Schwedens Premier Stefan Löfven und Dänemarks Regierungschefin Mette Frederiksen stellten Forderungen

Ein besonderes Zugeständnis gibt es unterdessen für die Niederlande: Die „Süddeutsche“ schreibt, dass von Zolleinnahmen, die für die EU kassiert werden, künftig 25 statt 20 Prozent als Gebühr behalten werden dürfen. Für die Niederlande, mit dem riesigen internationalen Hafen in Rotterdam, natürlich eine bequeme Einnahmequelle. Auch bei der Bekämpfung der Klimakrise wurden Abstriche gemacht: Zwar sollen 30 Prozent der Hilfen und des künftigen Budgets in den Klimaschutz gehen. Aber einige Gelder, etwa für den Umstieg auf andere Energien, wurden gekürzt. Polen erkämpfte sich jedoch die Hälfte dieses Topfes – obwohl es sich nicht zu den EU-Klimazielen bis 2050 bekannte.

Eine geschlossene EU mit Konfliktpotenzial

Bei allen Ausnahmen und Rückschlägen ist das Zusammenlegen in der Krise, inklusive der gemeinsamen Aufnahme von Schulden, aber ein Novum in der EU – und wird diese nach Ansicht vieler Expertinnen und Experten wohl stärken. Das Wiederaufbauprogramm „sollte dazu beitragen, dass das Auseinanderdriften von Norden und Süden verhindert wird und dass sich die europäische Wirtschaft rasch wieder erholen kann“, so Lehne in Ö1.

Rahman schreibt unterdessen in „Politico“, dass man sich einer „noch näheren, unvollkommenen Union“ annähere. Zwar würde der jetzige Deal die EU verändern, aber es gebe auch Konfliktpotenzial. Für den Experten sei die Umsetzung der gesetzten Maßnahmen nun entscheidend – denn diese könnte schlimmstenfalls die Konflikte zwischen verschiedenen Teilen Europas anfachen, etwa im Hinblick auf die Kontrollfunktion bei der Umsetzung der Reformen.

Parlamente müssen erst noch zustimmen

Als Nächstes muss das Finanzpaket nun ins EU-Parlament, dort wird es ab Donnerstag diskutiert. Das Feedback der Abgeordneten fällt gemischt aus, EU-Parlamentschef David Sassoli forderte „Verbesserungen“, und von den Verhandlern aus dem Budgetteam hieß es laut „Politico“, dass man das Budget in seiner derzeitigen Form nicht akzeptieren werde. Eine Einigung wird jedenfalls nicht vor Herbst erwartet.

Und auch jedes Parlament der Mitgliedsstaaten muss sich erst für die gemeinsame Aufnahme von Schulden aussprechen. Das könnte die Auszahlung der Hilfen verzögern – und die nächste Probe für den Zusammenhalt in der EU werden.